Sweetheart

TrailerDVD/VoD

Die introvertierte 17-Jährige AJ interessiert sich für die wirklich wichtigen Dinge. Zum Beispiel wie man Pullis für Elefanten strickt oder wie das Methan der Kühe unseren Planeten zerstört. Weniger begeistern kann sie sich für den anstehenden Familienurlaub: eine ganze Woche in einer stinklangweiligen Feieranlage an der Küste von Dorset – der blanke Horror! Doch dann begegnet sie der Rettungsschwimmerin Isla, die betörend nach Chlor riecht. Barbara Schweizerhof hat sich Marley Morrisons skurrile Coming-of-Age-Komödie angesehen und ein fein gesponnenes Drama um das schwierige Zu-sich-selbst-Finden einer lesbischen Teenagerin entdeckt.

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Hinter der getönten Brille

von Barbara Schweizerhof

Sie trägt eine übergroße Latzhose, darüber ein T-Shirt im Schlabberlook, auf den Haaren einen unförmigen Jeanshut und vor den Augen eine getönte Brille. Wer die 17-jährige AJ so sieht, könnte glauben, sie sei inkognito unterwegs und müsse sich vor der Außenwelt verbergen. So ganz falsch liegt man damit nicht. Nur dass der Inkognito-Zustand sich mehr auf sie selbst denn auf irgendwelche anderen bezieht.

Sie habe manchmal keine Ahnung, wer sie sei, gibt AJ ihrem eigenen Spiegelbild gegenüber zu. Eigentlich klingt das nach einem normalen Teenager-Problem. Was eben ganz und gar nicht heißt, dass es sich für AJ „normal“ anfühlt. In den Kurzferien, die sie mit Familie in einem Trailerpark-Camp an der Küste verbringt, kommt sie sich wie ein Alien vor. Und das eben vor allem auch im Bezug aufs eigene Leben. Hier an der Küste, inmitten der unglamourösen Bungalow-Trailer und den britisch-bescheidenen Ferienfreuden, hat sie sich als Kind immer sehr wohl gefühlt. Was ist jetzt bloß anders?

Die Verführung ist groß, Marley Morrisons Spielfilmdebüt als gelungene Mischung aus „Coming-out“- und „Coming-of-Age“-Geschichte zu etikettieren, aber das käme einem Unter-Wert-Verkauf gleich, insbesondere was den „Coming-out“-Aspekt angeht. Denn in Absetzung vom inzwischen etablierten Genre geht es in „Sweetheart“ nicht darum, dass die Jugendliche gegen Eltern und Umgebung ihre sexuelle Identität erst behaupten oder durchsetzen müsste.

Von der ersten Szene an, in der man AJ im Auto mit Mutter Tina und der kleinen Schwester Dayna auf dem Weg in die Ferien sieht, ist klar, dass AJ als Lesbe in der Familie out und akzeptiert ist. Auch die hochschwangere ältere Schwester Lucy und ihr Partner Steve, mit denen sie den Bungalow-Trailer teilen, haben mit AJs sexueller Identität kein Problem. Während vor allem der nach außen stets ausgeglichene Steve immer wieder versucht, AJ seine Unterstützung im Ausbrechen aus den Konventionen zu signalisieren, nimmt Lucy Anstoß am typisch-pubertären lustlos-bockigen Verhalten der kleinen Schwester.

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Morrison lässt ihr Drama in den wenigen Tagen des Kurzurlaubs spielen. Als Stimme aus dem Off liefert AJ ein paar Hintergrunddaten zur Familie: Die Eltern haben sich vor Kurzem getrennt. AJ hat Schwierigkeiten in der Schule. Und immer wenn der Ärger über die Mutter besonders hochkocht, versucht AJ den Vater anzurufen, doch der scheint unerreichbar.

Mit wenigen Handlungsorten etabliert der Film sehr authentisch die Atmosphäre des Feriencamps als Urlaubsheimat der „einfachen“ Leute: Da sind die spärlich eingerichteten Trailer-Bungalows, der vergleichsweise idyllische Strand und das beschränkte abendliche Entertainment-Angebot mit trashigen Zauber-Künstlern und noch trashigerer Musik. Die Authentizität des Milieus schlägt sich auch in der Handlung nieder: Es passiert nichts besonderes, zumindest äußerlich gesehen.

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Im Waschraum der Ferienanlage trifft AJ die selbstbewusste Isla, die als Lifeguard am Strand jobbt und deren Porträt sie an der Wand kurz zuvor schon bewundert hatte. Normalerweise mögen solche Mädchen nur Jungs, sagt sich AJ. Aber dann zeigt Isla überraschend viel Interesse an AJ und lädt sie abends zu einer kleinen Party ein. Trotz ihrer Skepsis geht AJ hin – um sich am Ende doch irgendwie an der Nase herumgeführt zu fühlen. Es ist erst der Auftakt zu einem Hin und Her zwischen den jungen Frauen, in dem beide gewissermaßen ihre Masken und Verkleidungen ablegen müssen, um einen Blick drauf zu gestatten, wer sie wirklich sind. Vor allem auch vor sich selbst.

Der Konflikt zwischen AJ und Isla liefert den Spannungsbogen, aber es geht in „Sweetheart“ um mehr als nur darum, ob Isla die Gefühle von AJ erwidert oder AJ nun eine Ego-verletzende Enttäuschung erlebt. In den ganz unterschiedlichen Reaktionen der anderen auf AJs verstocktes Verhalten fächert Morrison eine Vielfalt von Themen auf. Auf der Party bei Islas Freunden zum Beispiel legt sie die getönte Brille ab – und gibt sich nicht als Lesbe, sondern als Nerd zu erkennen, wenn sie den von einem betrunkenen Jungen vertretenen „Flat-Earth“-Theorien auf eine Weise widerspricht, die alle verstummen lässt. Wir könnten angeblich die Krümmung der Welt nicht sehen? Tatsächlich können wir genau das, legt sie den andern schlagend dar: Ein Boot am Horizont wird nicht nur immer kleiner, es versinkt.

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Mit großem Gespür für familiäre Dynamiken zeichnet Morrison in knappen Strichen ein sehr differenziertes Bild von AJs Beziehungen zu ihren Nächsten. Da ist das von allem unbelastete Verhältnis zu Steve, dem AJ trotz aller Solidaritätsangebote nicht ganz traut. Da ist die belastete Beziehung zur großen Schwester, von der sich herausstellt, dass beide sich voneinander gegenseitig im Stich gelassen fühlen, seit Lucy mit Steve zusammen ist. „Lass uns bald mal wieder einen Film zusammen gucken – aber bitte keinen mit Untertiteln!“ lautet schließlich das Versöhnungsangebot. Am vielschichtigsten aber gelingt Morrison die Mutter-Tochter-Beziehung. Allein in den Blicken, die Jo Hartley als Tina auf ihre sie ablehnende Tochter wirft, mal vorwurfsvoll, mal empört, dann wieder nachsichtig oder gar voller Mitgefühl, erkennt man ein lebendiges Verhältnis, das sich entwickelt und letztlich beide, Mutter und Tochter, voranbringt.

Ähnlich wie der Hauptfigur, der Nell Barlow im übrigen eine sagenhaft nuancierte Wandlungsfähigkeit verleiht, kommt auch Morrisons Film am Anfang wie in Verkleidung daher. Was als kleine Sozialkomödie beginnt, entpuppt sich zu einem fein gesponnenen Drama ums schwierige Zu-Sich-Selbst-Finden einer lesbischen 17-Jährigen, deren Probleme auf sehr angenehme Weise nicht ausschließlich in der sexuellen Identität begründet liegen.




Sweetheart
von Marley Morrison
UK 2021, 103 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

Als DVD & VoD

Zur DVD im Salzgeber.Shop

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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