Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums

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1987 in El Paso, Texas: Die Teenager Aristoteles und Dante sind nach Philosophen benannt worden, haben sonst aber nur wenig gemeinsam. Dennoch werden sie Freunde und tauchen ins Universum des jeweils anderen ein. Aristoteles erkennt, dass er vieles in der Welt verpasst, wenn er sich ihr nicht öffnet, und den Mut aufbringen muss, seine geheimen Sehnsüchte zuzulassen. Als Dante überraschend ankündigt, mit seinen Eltern für ein Jahr nach Chicago gehen zu müssen, droht seine Vorstellung eines gemeinsamen Sommers zu platzen. In der Verfilmung des gleichnamigen, vielfach ausgezeichneten und 2015 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Romans von Benjamin Alire Sáenz erzählt Regisseurin Aitch Alberto zärtlich und ehrlich von der Selbstentdeckung zweier Teenager. Andreas Köhnemann über eine emotionale Coming-of-Age-Geschichte, die aktuell im Kino zu sehen ist.

Foto: Capelight Pictures

Eine Welt ohne Dunkelheit

von Andreas Köhnemann

„Warum ist unser Herz in Aufruhr, wenn wir lieben?“, lautet eine der emotionalen Fragen, die zu Beginn in Benjamin Alire Sáenz’ Jugendroman „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ (2012) gestellt werden. Der in New Mexico aufgewachsene Schriftsteller erzählt von elterlicher, freundschaftlicher und romantischer Liebe und gibt den angenehmen Seiten des dadurch erzeugten Aufruhrs ebenso viel Raum wie den anstrengenden. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Aitch Alberto hat nun die Geschichte in leuchtenden Farben auf die Kinoleinwand übertragen und gewinnt den vertrauten Coming-of-Age- und Coming-out-Motiven erfreulich frische Bilder ab.

Zunächst lernen wir Aristoteles Mendoza, genannt Ari, kennen. Via Voice-over schildert er uns, wie er sich beim Einschlafen sehnlichst wünscht, dass die Welt beim Aufwachen eine andere wäre – nur um am nächsten Morgen enttäuscht zu bemerken, dass sie noch dieselbe ist. Wir befinden uns in der texanischen Stadt El Paso des Jahres 1987, nahe der Grenze zu Mexiko. Aris Familie ist Teil der mexikanischen Community. An der Highschool ist der 15-Jährige ein Einzelgänger, obwohl er mit seiner athletischen Erscheinung perfekt dem Typus eines beliebten Jocks entsprechen würde. Von seinem gesamten Umfeld ist Ari schrecklich gelangweilt. Musikalisch unterlegt wird sein Alltag mit dem Popsong „Smalltown Boy“ von Bronski Beat, in dem die nötige Flucht aus dem beengenden Heimatort besungen wird.


Die zuweilen mit Wut und Traurigkeit gepaarte Langeweile wird plötzlich durchbrochen, als der gleichaltrige Dante Quintana auftaucht – am Beckenrand im lokalen Freibad, mit bester Laune und dem freundlichen Angebot, Ari das Schwimmen beizubringen. Der deutlich zarter anmutende Teenager teilt mit Ari einen berühmten Namensgeber mit philosophischem Hintergrund und ein mexikanisch-stämmiges Elternhaus; ansonsten sind die beiden Jungs jedoch ziemlich unterschiedlich.

Aris Familie lebt in einfachen Verhältnissen. Am Esstisch wird oft geschwiegen – auch deshalb, weil es mit dem seit Jahren im Gefängnis sitzenden älteren Bruder von Ari ein großes Tabuthema gibt. Dantes Vater Sam, ein cool auftretender Englischprofessor, und seine Mutter Soledad strahlen indes eine einladende Bohème-Leichtigkeit aus. Während Ari in seinem spartanisch eingerichteten Zimmer „wie ein Mönch“ haust, herrscht bei Dante ein buntes, kreatives Chaos.

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Im Roman erkennt Ari in Dantes Gesicht „eine Landkarte der Welt“ – eine „Welt ohne Dunkelheit“. Aitch Alberto vermittelt diese schöne Empfindung in ihrer Inszenierung mit sehr harmonischen, sommerlichen Aufnahmen der beiden adoleszenten Helden in farbenfrohen Crop-Tops und kurzen Shorts. Das Eis tropft beim Verspeisen auf die Oberschenkel, der Schweiß läuft beim gemeinsamen Schlendern durch die Straßen über die Stirn. Nachts campt das Duo am Strand, um sich die Sternbilder anschauen zu können. Der Freigeist Dante hegt eine skurrile Abneigung gegen das Tragen von Schuhen; die aneinandergeknoteten Chucks der beiden, die in einer abendlichen Aktion über eine örtliche Stromleitung geworfen werden, hängen fortan dort, um die enge Verbundenheit zwischen Ari und Dante zu symbolisieren.

Foto: Capelight Pictures

Bei aller Helligkeit, die Dante so unverhofft in Aris Leben bringt, bleiben die verdunkelnden Schatten gleichwohl nicht dauerhaft aus. Ein Verkehrsunfall sorgt für Dramatik. Zudem muss Dante mit seinen Eltern für ein Jahr nach Chicago ziehen, wodurch die zwei Freunde vorerst nur noch über Briefe miteinander kommunizieren. Das Jahr, das die beiden getrennt voneinander verbringen, führt bei Ari dazu, dass er sich mehr und mehr in die Rolle einzufügen beginnt, von der er glaubt, sie unbedingt erfüllen zu müssen. Er flirtet mit seiner Mitschülerin Elena und härtet sich mit Sport ab. Dante befasst sich unterdessen offener mit seiner sexuellen Identität – und wird noch mutiger in der Artikulation seiner Gedanken und Gefühle.

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Immer stärker zeigt sich das unterschiedliche Wesen von Ari und Dante: Während Ari manche Gefühle lieber im Verborgenen hält – wie es ihm von seinen Eltern vorgelebt wird –, bringt Dante die Dinge klar zur Sprache. So schreibt er in seinen Briefen über seine sexuelle Neugier, sein Begehren und schließlich auch über seine tiefe Zuneigung zu Ari. Als das Jahr vorüber ist, müssen sich die zwei Jungs, die sich so nah waren, mit der neuen Situation auseinandersetzen. Dabei wird Dante vor allem mit der Homophobie in seinem Umfeld konfrontiert – während Ari insbesondere gegen seine eigenen Hemmungen, Ängste und seinen Selbsthass kämpfen muss. Einen Jungen zu küssen, das passt so gar nicht in sein Selbstbild, an dem er krampfhaft festzuhalten versucht.

Foto: Capelight Pictures

Der Autor der literarischen Vorlage hatte sein Coming-out erst im Alter von 54 Jahren. Er selbst habe große Schwierigkeiten gehabt, zu seiner sexuellen Identität zu stehen, erzählt Benjamin Alire Sáenz in einem Interview. Die feinfühlige Art, in der er diesen inneren Konflikt in seinem Roman behandelt, findet sich auch in der Verfilmung – nicht zuletzt dank des intensiven Spiels der beiden Hauptdarsteller Max Pelayo und Reese Gonzales.

Auf die Frage, warum unser Herz in Aufruhr ist, wenn wir lieben, können die zwei jungen Figuren (noch) keine endgültige Antwort finden. Es gelingt ihnen aber, sich diesem Aufruhr zu stellen und ihm damit einen Teil des Schreckens zu nehmen. Die titelgebenden „Geheimnisse des Universums“ sind aufregend. Ihre Entdeckung kann nicht ohne Schmerzen erfolgen. Aber vor ihnen wegzurennen – das ist auf Dauer keine Lösung.




All of Us Strangers
von Aitch Alberto
US 2022, 98 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englisch-spanische OF mit deutschen UT

Ab 8. Februar im Kino