Angela Steidele: Zeitreisen

Bücher

1840 reist die englische Tagebuchautorin Anne Lister mit ihrer Partnerin Ann Walker im Pferdeschlitten auf der zugefrorenen Wolga bis zum Kaspischen Meer und weiter über den Großen Kaukasus nach Tbilissi und Baku. Lister stirbt völlig unerwartet auf einer Bergtour in Georgien, ihre Gefährtin Walker benötigt daraufhin sieben Monate, um den Sarg mit der Leiche zurück nach Halifax zu bringen. Im Zuge ihrer Arbeit an einer Biografie über Anne Lister beschließt die deutsche Autorin Angela Steidele knapp 180 Jahre später, dem verwegenen Liebespaar nachzureisen. Begleitet von ihrer Lebensgefährtin begibt sie sich auf die Spuren von Anne und Ann. Was erzählen die Orte, Landschaften und Menschen heute von fernen Zeiten? Kann man überhaupt in die Vergangenheit reisen? Und was bedeutet das eigentlich: Vergangenheit? „Zeitreisen“ erlaubt einen faszinierenden Blick in die Werkstatt einer Biografin und bildet den zweiten Teil einer Trilogie, die Steidele mit „Anne Lister. Eine erotische Biographie“ (2017) begonnen hat und mit einer Poetik der Biographie im Laufe dieses Jahres beschließen wird. Anja Kümmel hat Steideles bereits veröffentlichte Lister-Bücher gelesen – und begibt sich mit ihnen selbst auf eine abenteuerliche Zeitreise.

Auf der Spur

von Anja Kümmel

Denkt man an das lesbische Leben und Lieben vergangener Jahrhunderte, prägen insbesondere zwei Bilder unser kollektives Gedächtnis: auf der einen Seite platonisch-romantische Frauenfreundschaften à la Emily Dickinson und Sue Gilbert, auf der anderen die von Schuldgefühlen und Selbsthass geplagten „Invertieren“, wie sie Radclyffe Halls Lesbenklassiker „Quell der Einsamkeit“ (1928) bevölkern. Lustvoll ausgelebter Sexualität? Fehlanzeige! Dass hier ein gewisser Revisionsbedarf besteht, hat Angela Steidele bereits in ihren Werken „Rosenstengel“ (2015) über das Doppelleben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel im frühen 18. Jahrhundert sowie „Geschichte einer Liebe“ (2010) über die leidenschaftliche Liaison zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens gezeigt. Mit ihren beiden biografischen Werken rund um die britische Landadlige Anne Lister (1791-1840) räumt Steidele nun endgültig auf mit dem Bild der asexuellen Lesbe im (prä)viktorianischen Zeitalter.

Rund hundert Jahre vor Halls schuldgeplagter Protagonistin Stephen Gordon kommt Anne Lister in der Nähe von Halifax zur Welt. Während Stephen erst Mitte 30 werden muss, um das erste Mal mit einer Frau zu schlafen, hat Anne bereits im zarten Alter von 14 Jahren Sex mit ihrer Internats-Zimmergenossin Eliza Raine. Uhrzeit, Anzahl und Qualität ihrer Orgasmen notiert die Heranwachsende akribisch in ihrem Tagebuch, wenngleich bisweilen in kuriosen Umschreibungen: „Felix am Nachmittag“. Oder: „Zwei gute Küsse gleichzeitig gestern Nacht & drei heute Morgen, nach 8 Uhr.“ Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist – bereits als Jugendliche schreibt sie: „Ich empfand mein Verhalten und meine Gefühle als natürlich, da sie nicht angelernt oder fingiert waren, sondern angeboren.“ Zur Sicherheit allerdings erfindet sie eine komplexe Geheimschrift aus griechischen Buchstaben, numerischen und erfundenen Zeichen, um die in ihren Augen delikaten Angelegenheiten (Geld, Kleidung und Sex) fortan verschlüsselt wiedergeben zu können.

Angela Steidele – Foto: Ben Chislett

„Von keinerlei historischem Interesse“ und „für heutige Leser unerträglich öde“ seien die codierten Passagen, wurde bis in die 1950er Jahre hinein behauptet. Auf Kommentare zur vielsagenden Ent- und Verdeckungsgeschichte der Tagebücher verzichtet Steidele weitgehend; historische Einordnungen flicht sie nur minimal ein. Die Quellen sprechen für sich: Anne Listers Aufzeichnungen belegen nicht zuletzt, wie gerade die Prüderie (bzw. mangelnde Fantasie) ihrer Zeitgenossen ihr und ihren Gefährtinnen ungeahnte Freiheiten eröffnete. So war es zu Annes Zeiten normal und üblich, wenn zwei Freundinnen das Bett teilten – denn körperliche Liebe zwischen Frauen galt schlicht als undenkbar.

Band eins ihrer geplanten Biografie-Trilogie unterteilt Steidele in weitgehend chronologische, sich teils überschneidende Abfolgen von Partnerinnen, Gespielinnen und Schwärmereien – und derer gab es viele, so viele, dass man leicht den Überblick verliert. Mit ihrer polyamoren Lebensweise („nichts ist praktischer und geräumiger als mein Herz“), ihrer allumfassenden Sex-Positivity, ihrem Mut, sich sowohl im Bett als auch in der Öffentlichkeit über Geschlechternormen hinwegzusetzen, scheint Anne Lister heutigen Vorstellungen von Queerness um erstaunliche 200 Jahre vorgegriffen zu haben. Dennoch hütet sich Steidele davor, ihr Forschungsobjekt vorschnell als frühe Gay-Pride-Ikone zu stilisieren. Zwar hält sie sich mit Bewertungen zurück, doch verweist ihre Textauswahl immer wieder auch auf Annes Narzissmus, ihre Manipulationsversuche, ihr bisweilen doppeltes Spiel. Ganz zu schweigen von ihrem Standesdünkel, der im krassen Gegensatz steht zu ihrer sexuellen und geschlechtlichen Progressivität. Ein „weiblicher Don Giovanni“ sei Anne Lister gewesen, erlaubt sich die Autorin am Ende ein vorsichtiges Urteil, ihr ausuferndes Tagebuchschreiben „ein großer Liebesbrief an sich selbst“.

Was genau Steidele an ihrem Sujet gereizt hat, bleibt in Teil eins der Biografie ebenso im Dunkeln wie ihre Herangehensweise. Ganz anders im Folgeband „Zeitreisen“, der sich auf Anne Listers zweitliebstes Hobby konzentriert: das Erkunden fremder Länder. Hier wagt sich die Autorin nicht nur aus der „Black Box“ heraus, sondern macht gar ihre eigene Spurensuche zum zentralen literarischen Gegenstand.

Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin folgt sie knapp 180 Jahre später der Route, die Anne Lister und ihre letzte Partnerin Ann Walker 1839/40 quer durch Russland bis zum Kaukasus führte. Von Halifax aus ging es über Deutschland und Finnland auf mehr oder weniger gut ausgebauten Postrouten Richtung Sankt Petersburg und Moskau. Dann legten die beiden fast 2000 Kilometer im Pferdeschlitten auf der zugefrorenen Wolga Richtung Kaukasus zurück, wo Lister schließlich, nach diversen strapaziösen Bergtouren, am „heißen Fieber“ starb. Ganz so abenteuerlich gestaltet sich der Roadtrip im Sommer 2017 nicht, dennoch ergeben sich immer wieder Parallelelen zwischen Heute und Damals, die mal amüsieren, mal nachdenklich stimmen. Anne und Ann lassen sich an manchen Posthaltereien überteuerte Pferden oder kaputte Kutschen aufschwatzen; beim Mietwagenhändler kämpft Steidele derweil mit ähnlichen Problemen. Und neugierige Blicke ziehen zwei allein reisende, wenig geschlechterkonform auftretende Frauen heute wie damals auf sich. Werden die beiden englischen Damen als schrullig, aber beschützenswert angesehen, avanciert Steidele In Aserbaidschan als vermutlich erste ungeschminkte Frau mit Kurzhaarschnitt, der die Kinder dort begegnen, zum Social-Media-Phänomen.

Ihre Lebensmaximen – sich über Konventionen hinwegsetzen, gute Ratschläge in den Wind schlagen, gelegentlich auch über die eigenen Grenzen gehen – hat Anne bis zum Schluss gnadenlos durchgezogen. Die Konsequenzen dieser Kompromisslosigkeit hatte Ann Walker, im wahrsten Sinne des Wortes, zu tragen: Mit Annes Leichnam im Gepäck kehrte sie als Witwe nach England zurück. Über die Vorgeschichte ihrer Beziehung, die in „Zeitreisen“ nur kurz angerissen wird, erfährt man Näheres im ersten Band: Die 12 Jahre jüngere Tochter eines neureichen Manufakturbesitzers erschien der notorischen „Pelzjägerin“, nach all ihren mehr oder weniger erfüllenden erotischen Eskapaden, wohl ganz pragmatisch als gute Partie. „Anne ging es um Anns Geld, Ann wollte Sex“, konstatiert die Autorin nüchtern. Ein besonders aufregendes Sexleben schienen die beiden allerdings nicht (mehr) gehabt zu haben – zumindest ist in den Reisetagebüchern darüber nichts notiert.

Wer es frivol mag und sich darüber hinaus fürs Klein-Klein des Alltagslebens und Sozialgefüges im präviktorianischen England interessiert, ist mit Band eins bestens beraten. „Zeitreisen“ hingegen begibt sich mit überraschender Leichtfüßigkeit immer wieder auf jene Meta-Ebene des Erinnerns und Rekonstruierens, von der aus sich die Möglichkeiten und Grenzen des biografischen Schreibens betrachten lassen. „Kann man auf diesem verseuchten Fluss in seinem künstlichen Bett eine Zeitreise versuchen?“ fragt sich Steidele beispielsweise. Und warum fühlt sie sich ihren Figuren näher, wenn sie mit der Bahn reist, obwohl für Anne und Ann das Zeitalter der Eisenbahn noch in der Zukunft lag? Stets denkt sie das Scheitern mit, in ihrem Versuch einer Annäherung über die Jahrhunderte hinweg. Und gerade das ist ihr vollauf gelungen. „Wer in die Vergangenheit reisen möchte, kommt nie an. Muss aber dennoch aufbrechen, in der größten Gewissheit, das Reiseziel zu verfehlen.“




Zeitreisen
Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg

von Angela Steidele
Gebunden, mit Schutzumschlag, 272 Seiten, 24 €,
Verlag Matthes & Seitz



Anne Lister
Eine erotische Biographie

von Angela Steidele
Broschiert, 329 Seiten, 12 €,
Verlag Matthes & Seitz

 

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