Abteil Nr. 6

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Die finnische Archäologiestudentin Laura ist fest entschlossen, die berühmten Felsenmalereien in Murmansk am nördlichen Polarkreis mit eigenen Augen zu sehen. Im Zug dorthin sitzt sie aber nicht neben ihrer Freundin Irina, die den Trip kurzfristig abgesagt hat, sondern mit dem Bergarbeiter Ljoha, der ihr mit seiner ruppigen Art den letzten Nerv zu rauben scheint. Doch dann kommt es auf engstem Raum zu ein besonderen Annäherung. Juho Kuosmanen erzählt in seinem Railroadmovie „Abteil Nr. 6“ eine der ungewöhnlichsten und schönsten nicht-heteronormativen Liebesgeschichten der letzten Jahre. Barbara Schweizerhof über einen meisterhaften Film der versteckten Blicke und magischen Abzweigungen.

Foto: Sami Kuokkanen Aamu Film Company / eksystent Filmverleih

Die Fremde im Zug

von Barbara Schweizerhof

Seit es Billigflieger gibt, ist das Reisen mit der Eisenbahn etwas aus der Mode gekommen. Das mag durchaus einer der Gründe dafür sein, dass der Finne Juho Kuosmanen seinen Film „Abteil Nr. 6“ Mitte der 1990er Jahre spielen lässt. Dank des historischen Settings bekommt die entschieden unglamouröse Umgebung eines russischen Zugwagons der zweiten Klasse, in dem sich der Bergarbeiter Ljoha und die Studentin Laura im Film begegnen, ein wenig Retro-Romantik eingehaucht. Dass der 80er-Jahre-Schlager „Voyage, voyage“ dazu den Themensong liefert, lässt sich als Beleg dafür lesen, wie bewusst Kuosmanen die Elemente der Zeit einsetzt. Das Ziel der Reise sind Jahrtausende alte Steininschriften bei Murmansk sind. Der Blick zurück, von uns heute in die Epoche der 90er, von den Figuren zurück in die Prähistorie, bildet eine Art sinnlichen Unterstrom dieses an der Oberfläche so betont alltäglichen Films.

Im Zentrum der Erzählung, die auf den gleichnamigen Roman von Rosa Liskom zurückgeht, steht Laura, die wir in der ersten Szene als eine ungelenke junge Finnin im Moskauer Auslandsstudium kennenlernen. Mit den eloquenten, Anna Achmatowa und Victor Pelewin zitierenden Gästen ihrer Freundin Irina, bei der sie zur Untermiete wohnt, kann sie nicht mithalten und zieht sich bald zurück. Hört sie, dass Irina hinter ihrem Rücken von ihr nur als „Mitbewohnerin“ spricht? Die Nächte verbringen sie dennoch in inniger Umarmung, aber so glücklich Laura dabei wirkt, ist unverkennbar, dass Irina die Erfahrene und Überlegenere ist. Ihre Absage an Laura, dass sie auf den geplanten Trip nach Murmansk nun doch nicht mitkommen kann, flüstert sie beiläufig. Mit nur wenigen Strichen skizziert der Film auf diese Weise ein wunderbar komplexes Bild einer unausgeglichenen Beziehung.

So macht sich Laura alleine auf den Weg, ein bisschen trotzig und zugleich wie abgeschirmt in einer Blase aus Wehmut und Selbstmitleid. Dass sie das Zugabteil nun, anstatt mit Irina, mit einem jungen Mann teilt, dringt zuerst kaum zu ihr durch. Als Ljoha die Schnapsflasche auf den Tisch knallt und dazu einen Ausziehbecher öffnet, so als handle es sich um ein Klappmesser, scheint klar, dass es sich bei ihm um einen Grobian handelt. Seine Versuche der Kontaktaufnahme zur „Fremden“ im Zug sind laut und respektlos, ja sie wirken übergriffig. Immerhin gelingt es Laura, ihm statt der erbeteten finnischen Übersetzung für „Ich liebe dich“ maliziös ein „Fick dich!“ in den Mund zu legen. Aber dann, bereits ziemlich angetrunken, wird Ljoha vulgär und handgreiflich. Laura flüchtet zur Schaffnerin und bittet um ein anderes Abteil, stößt aber auf gnadenlose Gleichgültigkeit. Und auch ihre Suche nach einem freien Platz unter Frauen in der Enge der schlafraumartigen dritten Klasse verläuft ergebnislos. Am nächsten Morgen, beim Zwischenhalt des Zugs ins St. Petersburg, packt sie ihre Sachen und steigt aus. Doch ein Anruf bei Irina in Moskau macht ihr klar, dass ihre sofortige Rückkehr gar nicht willkommen wäre. Resigniert steigt sie erneut in den Zug, wo Ljoha sie auf seine Weise mit einem Vorwurf willkommen heißt: Warum sie all ihre Sachen mitgenommen habe? Ob sie ihn für einen Dieb halte?

Foto: Sami Kuokkanen Aamu Film Company / eksystent Filmverleih

Spätestens da begreift man als Zuschauer:in, dass es in diesem Railroadmovie um die Annäherung zwischen Ljoha und Laura gehen wird. Das Klischee einer Liebesgeschichte steht im sich bewegenden Raum, ja sogar das schlimme Stereotyp der Verführung einer lesbischen Frau durch einen „echten“ Mann. Aber Kuosmanen hat es auf eine andere Annäherung abgesehen. Der gemächliche Rhythmus der Bahnfahrt durch winterliche Landschaft und kahle Bahnhöfe setzt seinen Film auf eine andere Spur.

Im Speisewagon tauschen die beiden zum ersten Mal ernsthaft und nüchtern ein paar ganze Sätze. Laura erzählt, sie sei Archäologiestudentin und interessiere sich für die Petroglyphen bei Murmansk als Zeugnisse für die Herkunft des Menschen. Ljoha macht ungeschickt klar, dass er dort im großen Gruben-Kombinat jobben wird. Aber darüber, dass Laura sich „an den Arsch der Welt“ begibt, um alte Felsinschriften zu bestaunen, macht er sich schon nicht mehr lustig, vielmehr gerät er darüber ehrlich ins Staunen. Von da an erzählt der Film in fein beobachteten Situationen von einem widersprüchlichen Sich-Näher-Kommen, das nicht durch körperliche Intimität, sondern durch wachsenden Respekt vermittelt wird.

Foto: Sami Kuokkanen Aamu Film Company / eksystent Filmverleih

Das macht den Zauber dieses Films aus: „Girl meets Boy“ – aber eben nicht als heteronormative Lovestory oder als gemischtgeschlechtliches Buddy Movie. Es sind mehr die versteckten Blicke als die offenen Gespräche, über die sich Laura und Ljoha suchen. Sie beobachtet belustigt, wie er auf einem nächtlichen Bahnsteig selbstvergessen mit Schnee boxt; er registriert beleidigt, dass sie sich mit einem finnischen Mitreisenden besser unterhält, als mit ihm. Als der sich dann heimlich mit Lauras Kamera davonmacht, versteht er, was ihr an dem Gerät als Speicher der Erinnerung so wichtig war. Je mehr Ljoha seine Maske des Macho-Grobians absetzt, desto sichtbarer wird sein geradezu ehrfürchtiges Interesse an Laura in all ihrer Fremdheit. Dass sie ihm schließlich eingesteht, dass der russische Freund, den sie zu haben behauptete, in Wahrheit eine Freundin ist, reagiert er schon mit der echten Empathie eines Freundes. Zugleich scheint ihm klar zu sein, dass die Freundschaft nur eine auf Zeit sein wird.

Im letzten Akt des Films erlaubt sich Kuosmanen eine Abzweigung vom zunächst offenbaren Ende der Reise. Nach der Ankunft in Murmansk haben sich Laura und Ljoha schon für immer verabschiedet, aber mit der Aussicht konfrontiert, dass niemand anderes ihr hilft, es doch noch zu den berühmten Petroglyphen zu schaffen, sucht sie ihren Reisepartner in der Grube auf.  Ljoha setzt daraufhin alle Hebel in Bewegung, um Laura über Schnee und Eis zu ihren Inschriften zu bringen. So unwirtlich das Wetter, so verwahrlost die Gegend auch ist – die beiden genießen den Trip wie einen Urlaub von der existentiellen Einsamkeit ihrer Seelen. Eine zweite Variante für den scheinbar unvermeidlichen Abschied steht bevor. Kuosmanen findet dafür eine wunderbare Auflösung zwischen Romantik und Semantik.




Abteil Nr. 6
von Juho Kuosmanen
FI/RU/EE/DE 2021, 106 Minuten, FSK 12,
finnisch-russische OF mit deutschen UT und DF,
eksystent Filmverleih

Seit 31. März im Kino.

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