Porträt: Xavier Dolan

Buch „Aus der Fernnähe“ von Andreas Wilink

Xavier Dolan feiert heute seinen 30. Geburtstag – und legt damit vielleicht auch endlich das vielzitierte Label des filmischen Wunderkinds ab, das ihm seit seinem Debütfilm „I Killed My Mother“ (2009) beständig anhaftet. Um ihm stilecht zu gratulieren, kommt uns der eben erschienene Sammelband von Andreas Wilink gerade Recht. Unter dem wunderbar ambivalenten Titel „Aus der Fernnähe“ hat Wilink – Kulturjournalist, Theater- und Filmkritiker – eigene Texte und Porträts aus den vergangenen 20 Jahren zusammengetragen und begegnet in dem Band auch zahlreichen queeren Bühnen- und Filmkünstlern wie Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder oder Walter Bockmayer. Sein Text zu Xavier Dolan ist einer von nur zweien, denen keine persönliche Begegnung vorausgegangen ist. Aus der transantlantischen Ferne nähert sich Wilink in einer empathischen Betrachtung Dolans zügellosem Werk an, dessen erste sechs Filme er als Bausteine in einem zutiefst persönlichen Projekt der Selbstwerdung liest. Sein Porträt lässt uns umso gespannter auf Dolans neuen, siebten Film warten „The Death and Life of John F. Donovan“, der im Laufe des Jahres auch in Deutschland in die Kinos kommen soll.

Xavier Dolan in „Sag nicht, wer du bist!“ – Foto: Kool Filmdistribution

Das Augenspiel

von Andreas Wilink

„Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.“
(Johann Wolfgang von Goethe)

Alia est. Er ist ein anderer – oder eine andere. Laurence Alia, kein Name wie jeder andere. Ein Name, der spricht. Der sich deklinieren lässt. Alius, alia, aliud. Xavier Dolan, der 1989 in Montreal geborene Regisseur, Schauspieler, Autor, Ausstatter, Cutter, Produzent, hat die Hauptfigur seines dritten Spielfilms, des energetisch exaltierten Hymnus „Laurence Anyways“, so ge­tauft. Laurence, der sich bislang selbst fremd geblieben ist, will zur Identität finden, sonst stehle er „das Leben der Frau, die zu sein ich geboren bin“. Laurence entscheidet sich in einem Prozess, der Mut erfordert und die Bereitschaft zu radikalem Neubeginn, sein Geschlecht zu ändern, sich als Transsexueller vom Mann zur Frau zu verwandeln.

Alle bisherigen sechs Filme des frankokanadischen Film­wunders sind Bausteine im lebenslang nicht abzuschließenden Projekt Selbstwerdung: von der Wiege – „das Rosa und das Ba­by-Blau bilden ein ungesundes Bündnis mit der Kindheit“, ver­kündet Melvil Poupaud als Laurence – bis zum finalen Absprung, wie er sich als letzter Ausweg für Steve in „Mommy“ ereignet. Ei­nem Projekt, das sich, nicht nur mit friedlichen Mitteln, gestal­ten lässt: ästhetisch, künstlerisch, sozial, biopolitisch, ethisch.

Dieses Projekt wird mit Argwohn beäugt. Die Welt des Res­sentiments ist ein Kampfplatz: Augen sind auf ihm die Schuss- und Duellwaffen. „Offenbar sind Blicke Ihnen wichtig.“ – „Ihnen nicht?“ – „Sie brauchen doch auch Luft zum Atmen“, so geht ein Dialog zwischen Laurence und einer Journalistin. Bei Xavier Dolan hat die Außenwelt harte, kalte, skeptisch taxierende, ir­ritierte, sich verschämt abwendende, spöttische, feindselige, manchmal bewundernde Augen. All diese Augen sind auch Gegenspieler des Auges der Kamera, die – anders als die der Menschen – die ‚andere‘ Person bei ihrer schmerzhaften Aus­sonderung („Ausstoßung“) und ihrer Selbstkreation lieb zu ha­ben und zu liebkosen scheint. Schauen wir genau hin.

Foto: Kool Filmdistribution

I. Die Entscheidung – „I Killed My Mother“ (2009)

Dolans frühreifes, in seiner Radikalität irres Debüt, „I Killed My Mother“, wurde 2009 in Cannes in der Reihe Quinzaine des Réalisateurs vorgestellt, gefeiert und mit einem Dutzend internationaler Preise ausgezeichnet. Das Drehbuch hatte er mit 17 geschrieben, im gleichen Alter wie sein von ihm selbst gespielter Held Hubert Minel, der allein mit seiner Mut­ter Chantale Lemming (Anne Dorval) lebt. Der Vater lässt nur selten von sich hören. Hubert hasst es, wie Maman kaut und sich den Mund ver­schmiert, hasst, dass sie sich im Auto schminkt, wie sie sich kleidet, sich einrichtet, was sie kocht, mit wem sie ausgeht. Einfach alles. Sie haben nichts gemeinsam. Hubert fühlt sich in die falsche Wiege gelegt. Sie sind wie ein Ehepaar – kein Puf­fer zwischen ihnen, der die Wucht des Aufpralls mildern wür­de. Beide hochfahrend, launisch, fix aus der Haut fahrend. Das muss auch der Direktor des Internats erleben, als er Madame Lemming telefonisch informiert, ihr Sohn sei ausgebüxt, nach­dem die Eltern ihn in seltener Eintracht auf der Schule ange­meldet hatten.

Hubert ist begabt, sensibel, kreativ. Auch eine Nervensä­ge. Manchmal ein Arschloch. Ein romantischer Jüngling, dem seine Lehrerin, zu der er sich als seiner Vertrauten flüchtet, Alfred de Musset zu lesen gibt. Sie vergleicht ihn mit einem Tiefseefisch: „Blind und erleuchtet.“ Und Hubert ist homose­xuell – Chantale Lemming muss es erst von der Mutter seines Freundes Antonin erfahren.

Der symbolische Muttermord, den der Titel wie einen Ab­wehrzauber handhabt, stiftet eine Monstre-Tragödie und das Drama der Selbstbehauptung. Einen Exorzismus. Eine Kriegs­erklärung. Einen Zweikampf. Schließlich den Friedensschluss. Hubert balanciert auf der Borderline, so wie Dolans Low-Bud­get-Produktion zwischen den Genres. Und findet dafür die ihr gemäße erzählerisch offene Form. Die Geschichte wird durchschossen von in Schwarzweiß gefilmten Selbstgesprä­chen Huberts vor dem Spiegel und von Momentaufnahmen, deren Montage wie Gedankenblitze, knappe Assoziationsket­ten und Fantasieschübe einschlägt: ein Kompendium der ero­tischen, elegischen, kitschigen, sinnlichen Puzzlebilder. Dolan kennt den Mythen-Clown Cocteau ebenso wie den Pin-up-Boy James Dean, das Fotografenduo Pierre & Gilles und all die an­deren Rebellen, Heroen, Märtyrer, Stil-Apostel und -Häretiker; er zelebriert Gänge in Slow Motion wie Wong Kar-Wai und folgt den Wegen von Pedro Almodóvar, François Ozon und Gus Van Sant, ohne deren Schrittfolgen zu imitieren.

Foto: Kool Filmdistribution

II. Die Verführung – „Herzensbrecher“ (2010)

Bei Werner Schroeter ging das zusammen: Callas und Valente. Wo ihre Sonne schien, war das Land der Liebe verbrannte Erde. Das Sehnsuchtsband war reißfester als die Fesseln der Konven­tion. Xavier Dolan ist sein aufsässiger Schüler: „Parsifal“-Vorspiel, Bachs Cellosuiten und Dalidas Todessong „Bang Bang“ begleiten „Herzensbrecher“, seinen zweiten, in Cannes uraufgeführten Film, der von Le Monde zum Pop-Ju­wel erklärt wurde – hinreißend eleganter, exquisiter, vom eige­nen Talent verwöhnter noch als das Debüt.

Eine Ménage-à-trois: Francis (Dolan) und Mary (Monia Cho­kri) sind beste Freunde. Sie begegnen Nico und erfahren, dass jeder Engel schön ist, aber nicht gut sein muss. Blond gelockt, wie gemeißelt, sagenhaft verhätschelt, taugt Nico (Niels Schnei­der) zum Idol: Projektionsfläche für alle Bilder des Begehrens. Marie und Francis – obwohl beide zauberhaft, flirrend, ver­traut mit kulturellen Codes und daheim in der Melancholie ihrer überzüchteten Nature morte – sind ihm gegenüber die Werbenden und als Liebende schwach. Einmal liegt Francis im Wald, Auge in Auge mit einem weißen Kaninchen, in dessen verängstigtem Wesen er sich selbst sieht.

Dolan, der Romantiker, Erotiker und Eklektiker des Kinos, setzt alles in Bewegung, um den emotionalen Aufruhr zu gestal­ten. Farbfilter, Reißschwenks, Zeitlupe, ausschweifende Großaufnahmen, Überblendungstechnik, bei der Nico für Marie zum Michelangelo-David und für Francis zur gezeichneten Cocteau-Fantasie wird, und das Spiel mit Zitaten: plötzlich eine Einstel­lung wie von Derek Jarman, die der wiederum von Caravaggio entliehen hat. Zwischendurch schneidet Dolan hinein in Erzäh­lungen von vier jungen Leuten, deren chaotische Gefühlshaus­halte „das Konzept“ Liebe und die Situation der Hauptfiguren reflektieren. Man gleitet durch Boutiquen, Bars, Buchhandlun­gen, Betten. Und spürt doch einen traurigen Ernst, die schmer­zende Erfahrung des Wartens, Sehnens, Leidens, Zweifelns, Hassens. Am Ende sind Marie und Francis Liebesversehrte. Die Komödie der Herzen aber beginnt aufs Neue. Nach diesem gla­mourösen Film-Essay möchte man wieder jung sein – und hätte doch gewaltige Angst davor.

Foto: NFP

III. Die Verwandlung – „Laurence Anyways“ (2012)

Gardinen, die sich bauschen vor offenem Fenster; ein Gleiten entlang eines transparenten Vorhangs; eine sich schließende Tür – Prolog zum ganz großen Auftritt, zu einer Solo-Perfor­mance auf offener Bühne, die für den, der sie gibt, ungeprobt ist. Fremde Augenpaare beobachten die damenhaft gekleidete Person, die beschwingt aus Nebeln herausschreitet und in der Wattewolke wieder verschwindet. Der Spießrutenlauf wieder­holt sich etwa 40 Minuten später noch einmal, im Schulflur. Es ist ein einzigartiger Moment: Laurence Alia tritt vor seine Schü­ler, geschminkt und in Frauenkleidern. Das erste Mal, dass er sich in der Öffentlichkeit mit seiner neuen Identität zeigt. Er sagt nichts, steht nur da, auch die Klasse schweigt, zum Ver­zweifeln lange, bis eine Schülerin den Bann bricht und einfach nach dem Unterrichtsstoff auf Seite 8 fragt. Auch so kann man mit dem Unbekannten umgehen. Indem man tut, als ob es nichts weiter damit auf sich hat. Normal halt.

Montreal um 1990, immer wieder ins Früher rückblendend und weiter in der Zeit voran: Laurence (Melvil Poupaud) ist Gymnasiallehrer und lebt mit der Filmausstatterin Fred (Su­zanne Clément) zusammen, einer anfangs schrillen, von Koks umrauschten Person, die ihn mit ihrer crazyness ansteckt. Er gesteht ihr, weil es ihn töten würde, länger zu schweigen, dass er sich nicht als Mann fühlt. Dass es ein Verbrechen wäre, das Leben der Frau in ihm zu unterdrücken. Es wäre „Mord“. Mit diesem Wort endet Ingeborg Bachmanns „Malina“, der von der Auslöschung des weiblichen Ichs handelt. Auch seinen Eltern teilt Laurence die beabsichtigte Verwandlung mit, eigentlich nur der Mutter (Nathalie Baye), sein Vater hat sich längst in sei­ne (TV-)Parallelwelt zurückgezogen.

Für Laurence ist die Revolte unvermeidlich. Seine Mitwelt reagiert auf die Normverletzung ablehnend. Aus dem Schuldienst entlässt man ihn mit der Begründung einer „psychischen Störung“. Bevor er den Konferenzraum und die Kollegen verlässt, schreibt er an die Tafel: „Ecce homo“, was nicht pathetisch, sondern sachlich wirkt. Fred trennt sich zunächst nicht von ihm, wird aber mit dem Zooblick der anderen auf Laurence, die Weder-noch-Person, nicht fertig. Verliert die Fassung. Flüchtet in eine komfortable Ehe, Vorstadtvilla, Mutterrolle, bis sie es kaum mehr erträgt. Ihre versnobte Mutter und die Schwes­ter, die ihre Drogensucht mit dem Erwachsenwerden nicht ab­gelegt hat, sind wenig Hilfe. Fred und Laurence suchen sich wieder. Aber es gibt keine Verbindung zwischen Erde und Mond. Wie soll es gehen mit Menschen, mit denen zu leben nicht leicht und die zu lassen unmöglich ist …?

In der Mitte des Films öffnet und schließt sich wieder eine Tür, während Beethovens Fünfte donnert, als würde sie sie aus dem Rahmen sprengen wollen. Wintereinbruch. Kälte­schock. Krise. Ein neuer Abschnitt. Ein Zeitsprung. Zwei Leben, getrennt. Dann die Schneeschmelze.

„Laurence Anyways“, das in seiner visuellen Vitalität ex­plodierende zweieinhalbstündige Werk von Xavier Dolan, ist ein Film der Blicke. Über dem Bett von Laurence und Fred hängt die Mona Lisa, Leonardos Gioconda in ihrer heiteren Unergründlichkeit und changierenden Geschlechtlichkeit. Die Reproduktion wird Laurence mit dem Schriftzug „Liberté“ übersprühen. Die Kamera begleitet Wege und Gänge von Lau­rence aus der Perspektive von Passanten und sieht zu, was dieser Fremdkörper mit ihnen macht. Während seiner ‚Ent­puppung‘, die Dolan als Initiationsreise inszeniert, ereignet sich für ihn auch die Verwandlung von Scham zum Stolz. Einen Schutzraum gewähren Transen, Homosexuelle, Schwulenmüt­ter – die groteske Wahlfamilie der „Five Roses“, die eine ehema­lige Kirche zu ihrem befriedeten barock-kitschigen Tabernakel umgewidmet haben.

„Laurence Anyways“ kann als wilde und zärtliche Konfession manchmal nerven und packt dann wieder durch seine krasse Klarsicht über das Ausgeliefertsein zweier Menschen an sich selbst und den anderen. Bilder! Bilder! Eine Kussszene vor we­hender Wäsche wie in einer Gasse Neapels; leere Räume, in die Stores wie Flaggen wehen; symphonischer Schneeregen; eine Kaskade Wasser, die Freds Wohnzimmer flutet als Remi­niszenz an Tarkowskis „Spiegel“; das Gestöber bunter Klamot­ten, als würde es Smarties aus dem Winterhimmel regnen; hämmernder Pop und schmelzender Schmerz. Vermutlich ist Xavier Dolan der größte Liebesregisseur seit François Truffaut.

Foto: Kool Filmdistribution

IV. Die Gewalt – „Sag nicht, wer du bist!“ (2013)

Der junge Mann am Steuer des Wagens summt das Lied aus dem Player mit: „Les Moulins de mon coeur“ von 1968, eine der Pop-Hymnen des Michel Legrand, im Französischen getextet von Eddy Marnay. Xavier Dolan hat ein dramatisches Gespür für Filmmusik als Emotionsverstärker. Sie kann lunaeske Stimmung verbreiten, den Rausch auffüllen, uns den Krieg erklären.

Tom ist unterwegs von Montreal aufs Land zur Beerdigung seines tödlich verunglückten Liebhabers Guillaume. Angekom­men auf der Farm, merkt er, dass er ein ungebetener Gast ist, ja, mehr noch, ein gänzlich Unbekannter. Der Tote hatte sich seiner Mutter gegenüber nie geoutet. Der ältere Bruder Francis, der den Hof führt, unternimmt alles, um das Bild von Normali­tät über den Tod hinaus aufrechtzuerhalten. Eine fiktive Freun­din wurde erfunden. Tom spielt das Verschleierungsspiel mit. Er gibt dieser Sara, die tatsächlich als gute Freundin existiert, in den Gesprächen („er sagte – sie sagte“) sein eigenes Gefühl, seine eigene Lust und Fantasie und überträgt auf Sara, was ihn selbst an Leidenschaft mit dem Verstorbenen verband.

„Une partie de mourir“ steht anfangs auf der Leinwand blau auf weißem Grund geschrieben – letzte Worte, mit Filzstift hastig hingekritzelt, während ein Medaillon mit einem Engel schaukelt. Kaum begonnen, hat Dolan schon mehr erzählt als andere in 90 Minuten – großartiger (manchmal großspuriger), intensiver, schönheitstrunkener und exzentrisch in der Selbstinszenierung, die ihn in seiner von ihm selbst verkörperten Figur Tom wie das ungezähmte Kind von Blondie und Jim Mor­rison präsentiert. Ein Trotzkopf, herausfordernd und von glü­hender Nervosität.

Dolan, der die cineastischen Hexenmeister studiert und ei­nige schon übertrumpft hat, führte mit seiner vorherigen Trilogie das Melodram zu neuen Ufern und erkundet mit 25 Jah­ren in „Sag nicht, wer du bist!“ das Genre des Psychothrillers. Das sieht aus, als würde er Hitchcock und Kubrick beerben. Die schnurgerade zur Farm führende Straße lässt an die staubigen Feldwege in „North by Northwest“ denken, der Hof wird zum Ort bedrückender Vergangenheit wie das Overlook Hotel in „Shining“. Flucht, Panik, Schuldgefühl und un­terdrückte Triebe drängen sich auf wie in „Psycho“ und „Vertigo“.

So erscheint für Guillaumes Bruder Francis der Eindring­ling Tom als das verbotene Glück – und leibhaftige Unheil. Ein Verführer, dem man nachgibt oder den man beseitigt. Fran­cis, im Bann der Mutter, die nicht allein bleiben kann und be­schützt werden muss, hat das Ungelebte in sich angesammelt, das bei einem Tango mit Tom in der Scheune unbeholfen und rührend grob entweicht. Empfinden, was nicht sein darf. Be­gehren, das nach Selbstbestrafung verlangt und Mordgelüste weckt, verwandelt Francis in eine gefährliche Kampfmaschine. Der ungebärdige Guillaume hatte sich gestattet, was Francis sich versagt. Tom nun erlebt die Gewalt wie einen gewünschten und gefürchteten Liebesakt mit jemandem, aus dem heraus ihn auch der tote Freund anschaut. Gewendet ins Dämonische.

Gewaltszenen müssten aussehen wie Liebesszenen und umgekehrt, hat Hitchcock gesagt und diese Forderung in seinen Filmen eingelöst. Dolan folgt ihm darin und entwickelt einen Liebesthriller, der wie ein Horrorfilm aussieht, mit einer Filmmusik, deren schwelgerische Drohpartitur an Bernard Herr­mann erinnert. Es ist eine Initiation in eine Welt des Schweigens und Verschwiegenen. Am Ende ist Tom entkommen – wieder im nächtlich leuchtenden Montreal. Frei? Befreit?

Foto: Weltkino

V. Die Härte – „Mommy“ (2014)

Schwer erziehbar. Ein Euphemismus! Steve, 16, ist aus der ge­schlossenen Anstalt entlassen, nachdem er einen Brand ge­legt hatte, durch den ein Junge schwer verletzt wurde. Später kommt die Prozessvorladung ins Haus samt der Forderung nach 50.000 Dollar. Diagnose ADHS, hyperaktiv und affektiv gestört. Man könnte auch sagen: nicht gesellschaftsfähig. Sei­ne Mutter Diane Després holt den Misfit heim. Sie und ihr Sohn sind einander ebenbürtig. Laut, rabiat, unkontrolliert. Störfälle.

Steve sieht aus wie ein Engel und hat den Teufel im Leib: brav gescheitelt, blauäugig, Clownslächeln. Die Kamera klebt an dem Blondschopf. Er ist eine Zeitbombe. Ein Partisan, der sich an keine Regel hält, sich bepisst vor Panik, sich mit dem Messer die Pulsadern ritzt, in einem Lokal mit den Scherben einer Bierflasche auf jemanden losgeht, weil er die feixenden Fressen nicht mehr sehen kann. Antoine-Olivier Pilon spielt ihn wie Robert Stadlober, wenn der in einem Terrorcamp statt auf der Schauspielschule ausgebildet worden wäre. Born to die.

Diane, die mehrere Jobs braucht, um sich beide durchzu­bringen, ist die Schlampe mit der strähnigen Mähne, Zigaret­te im Maul, Wein aus dem Karton saufend. Vulgär, trotzdem mondän, von Instinkten geschüttelt – die grandiose Anne Dor­val als Tennessee-Williams-Weibsstück voll Sex, Kraft und Na­turgewalt.

Es ist die Härte. „Mommy“ ist Dolans Ergänzung und Gegenreaktion auf sein Debüt „I Killed My Mother“. Fast ein Schluss­punkt mit Ausrufezeichen. Er zeigt die Fratze hinter der perfektionierten Schönheit seiner vier vorherigen Filme. Wo er sonst Glanz kultiviert und Oberflächen zum Schimmern bringt, spielt er nun mit dem Hässlichen und Gemeinen. Als würde der Film uns ankotzen: kälter, feindseliger, rüder als der frühere Dolan (aber mindestens ebenso hochmusikalisch), unterminiert von Kubricks „Clockwork“ und überhaupt von der Rebellion und An­tikultur der Sixties. Und doch ist da wieder eine aufgeraute Zartheit, die sich selbst nicht aushält. Die ruhigen Momente verdanken sich zumeist der Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), einer sprachgestörten Lehrerin, die mit ihrer Familie im Haus gegenüber wohnt und zu der Steve einen Draht hat.

Die Kamera darf und kann wieder alles. Tut, was sie muss, um Mutter und Sohn auf den Leib zu rücken und unter die Haut zu fahren: ihrem Temperament, ihrer destruktiven Ener­gie, Wut und Überdruss, Brutalität, Selbsthass und Liebesbe­dürfnis. Doch was für ein ungebärdiger Lebenswillen! Steves mögliche/unmögliche Zukunft (mit einem Schnitt wechselt dafür der Darsteller) wird uns als Fantasie Dianes ausgemalt und entwickelt als verwischte Momentaufnahme – Examen, Verlobung, Hochzeit, Vaterschaft, Glücksgefühl. In Wahrheit holt ihn die Psychiatrie, pumpt ihn voll mit Medikamenten, steckt ihn in die Zwangsjacke. Ein Irrsinn. Das Maßlose dieses Films ist sein Ereignis.

Foto: Weltkino

VI. Die Leere dazwischen – „Einfach das Ende der Welt“ (2016)

Es hätte nicht verwundert, wenn Dolan, dessen Neigung zu den sentimentalen und melodramatischen Herzschlägen des Chan­sons man kennt, hier Dalida und Alain Delon mit ihrem „Paroles, Paroles“ eingespielt hätte, jenes Lied von der Vergeblichkeit des Redens über die Liebe. Denn darum geht es in seinem sechsten Spielfilm, dem zweiten, den er nach „Sag nicht, wer Du bist!“ nicht selbst erfunden, sondern adaptiert hat (das Theaterstück stammt von Jean-Luc Lagarce). „Einfach das Ende der Welt“ folgt einem der ältesten literarischen und filmischen Motive: Jemand, der fortgegangen ist und alles hinter sich ließ, kehrt zurück.

„Er hat getan, was er tun musste“, sagt die Mutter von Louis (Gaspard Ulliel), der zwölf Jahre nicht zu Hause war, nur Postkarten geschickt hat und da draußen Schriftsteller und wohl berühmt wurde. Man erfährt nichts Genaues über sei­ne „Gabe“. Was man aber bald erfährt, ist, dass der 34-jähri­ge Louis sterben wird und seinen Tod ankündigen will: seiner Mutter (Nathalie Baye), seinem Bruder Antoine (Vincent Cas­sel), seiner Schwägerin (Marion Cotillard), die er noch nie ge­sehen hat, und seiner jungen Schwester Suzanne (Léa Seydoux).

Die Erwartung des verlorenen Sohnes und Bruders macht die Familie nervös, alle reden wirr durcheinander und ziem­lich verrücktes Zeug, als Louis da steht und – wie früher – kaum etwas sagt. Paroles, Paroles. Das hektisch Aufgeregte, Aggres­sive, Gereizte (vor allem beim älteren Bruder Antoine) zeigt, dass untergründig anderes kommuniziert wird, ungesagt und unsagbar bleibt: Kränkungen, Verrat, die Abwehr des Gefühls, die Drohung der Liebe. Fragen über Fragen: Wie nutzt man die Zeit? Wie überwindet man Fremdheit? Wie verzeiht man? Wie lehnt man Verantwortung ab oder nimmt sie an? Wie geht man um mit Forderungen, Wünschen, Idealisierung? Lässt sich die Leere zwischen sich und den anderen überwinden?

Wiederum ist Dolans Kino eines der Blicke – der Fremdbli­cke auf seinen Helden. Auf dem Weg zu seinem Mutterhaus fixieren fremde Augen den vorüberfahrenden Louis. Aber vor allem das Auge der Kamera nimmt Louis in den Blick, will ihn kaum loslassen, will ihn verzehren, ihn ganz erkennen und be­sitzen. Das Intensive des in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Films, der „Von Angesicht zu Angesicht“ heißen könnte und der aus dem Schatten von Patrice Chéreau tritt, ist das trauernde Gesicht von Gaspard Ulliel. Louis schaut in ein paar Flashs zurück in seine Kindheit und zu seiner ersten rauschhaften Liebe Pierre – nur dort im Erinnerungsland be­ginnen die Bilder zu fliegen. Dort zettelt der wilde Dolan einen Aufruhr an, den er sonst in dieser Geschichte ganz vermeidet.

Louis weint ein paar Tränen, bleibt stumm, nimmt sein Ge­heimnis wieder mit sich fort. Keine Lossprechung. Kein Trost. Keine Erlösung. Leben ist kälter als der Tod.

Aber Xavier Dolans Filme sind – im mindesten dies, doch viel mehr – ein Augentrost.




Aus der Fernnähe
Begegnungen mit Theater- und Filmkünstlern

von Andreas Wilink
Gebunden mit Schutzumschlag, 272 Seiten, 22 €,
C.W. Leske Verlag

 

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