Peter Ackroyd: Queer London
Buch
Für Peter Ackroyd ist die Vergangenheit nicht vergangen. Überall in unserer Gegenwart ist sie zu spüren, und diesen Zusammenhängen spürt der arrivierte englische Autor, Jahrgang 1949, in seinen Büchern nach – ob mit literarischen Mitteln wie in „Der Fall des Baumeisters“ (1988) und „Chatterton“ (1990), oder faktengestützt wie in seiner Biografie der Stadt London aus dem Jahr 2000. Dieses große, breit rezipierte Buch hat nun einen kleinen Ableger bekommen: die Geschichte des queeren Lebens in London von der Antike bis heute. Marko Martin, der schwule Reiseschriftsteller dieser Tage („Das Haus in Habana“, 2019), hat Ackroyds Buch für uns gelesen und auf seine Qualitäten als Reiseführer für queere Europäer geprüft.
Getümmel an der Themse
von Marko Martin
Peter Ackroyd ist der Biograf Londons. Nicht nur der Stadt, sondern auch der Themse hat er ebenso voluminöse wie profunde, vor allem aber: eminent lesbare Bücher gewidmet. Auch seine zahlreichen Theaterstücke und Romane kreisen immer wieder um die Metropole, in der er 1949 geboren wurde. Hiesige Leser werden sich wohl vor allem an sein (fiktives) „Tagebuch des Oscar Wilde“ erinnern – preisgekrönt wie viele der Bücher dieses äußerst produktiven Autors.
Und nun: „Queer London. Von der Antike bis heute.“ Doch kann man in heutiger Zeit, in der sich Wirklichkeiten, aber auch geschichtliche Kenntnisse immer mehr fragmentieren, noch solche Überblicks-Bücher schreiben, die ja oft genug einen Hauch großväterlicher Ohrensessel-Behaglichkeit verströmen? Auch hier gilt: Man kann es, wenn man’s kann. Und Ackroyd, der unterhaltsame Könner, enttäuscht seine Leserschaft in keiner Zeile. Sofort nämlich sind wir drin, im Jahrhunderte, ja Jahrtausende alten Getümmel jener Gegend, über die bereits der griechische Philosoph und Geograf Strabo urteilte: „Die keltische Jugend geht verschwenderisch mit ihren Reizen um.“ Ob nun affirmativ oder tadelnd, die Quellenlage selbst zum vor-römischen London (das damals freilich noch nicht so hieß und erst später zu „Londinium“ werden sollte) ist äußerst ergiebig: „Die überlieferten Dokumente belegen, dass eine Alternative zum herkömmlichen Zeugungsakt nicht nur jederzeit verfügbar, sondern auch überaus gefragt war. Daran hat sich in der gesamten Geschichte Londons nichts geändert.“
Bei aller Beschreibungsfreude angesichts der damaligen Bäder, improvisierten Heerlager-Kneipen und ähnlicher Orte singt Peter Ackroyd jedoch keineswegs das ahistorische Lied von der vermeintlich sinnenfrohen Antike, denn gerade hier ging es immer auch um Macht, ergo Machtmissbrauch: „Pädophilie, also Sex mit einem Kind, und Päderastie, Sex mit einem Jugendlichen, wurden nicht verurteilt. Die Liebe zwischen zwei frei geborenen Männern hingegen war unerwünscht und galt als schändlich. Wenn ein Mann dieser infamia beschuldigt wurde, lief er Gefahr, seine Bürgerrechte zu verlieren.“
An dieser tristen Realität sollte sich auch in den nachfolgenden Jahrhunderten nichts ändern. Die sprichwörtlich gewordene victorianische Doppelmoral zeigte sich hier am deutlichsten: Während einvernehmlicher Sex zwischen männlichen Erwachsenen in öffentliche Bedürfnisanstalten abgedrängt wurde – noch in den fünfziger Jahren musste sich ein junger Dramatiker wie Joe Orton heimlich an solche Orte stehlen, stets in der Furcht vor uniformierten Bobbies und Polizeispitzeln –, fanden klandestine Männer-Bordelle oft sogar behördliche Protektion. Wie auch nicht, verlustigte sich ja dort eine kaufkräftige Oberschicht, die damit an der schreienden sozialen Ungerechtigkeit auch im Sexuellen profitierte. Erfreulicherweise kommt Peter Ackroyd selbst bei der Beschreibung solcher Konstellationen nie ins ideologische Eifern. Gerade deshalb ist zu hoffen, dass seine Leser dieses Understatement als Einladung und Chance verstehen, schwule Geschichte nicht lediglich als pathostriefendes Opfer-Epos wahrzunehmen, sondern als Anregung, einen neuen Blick auf Macht- und Repressionstechniken zu bekommen. Da ja überdies von einer community ohnehin nicht die Rede sein konnte. Wurden solche Bordelle und sogenannte „Free and easies“ („Konzertabende, an denen Soldaten und Kunden Wange an Wange tanzten“) ausgehoben, mussten vor allem die gesellschaftlich Schwächeren Prozess und Kerker fürchten: „Reiche Verdächtige bestachen dagegen Gerichtsreporter, damit diese ihre Identität geheim hielten.“ Wurde mitunter doch ein Angehöriger der oberen Schichten angeklagt – so geschehen im prominenten Fall von Oscar Wilde und einigen Politikern –, handelte es sich fast immer um Intrigen und Abstrafungen, damit fürderhin die Doppelmoral noch besser geschützt wäre.
Ackroyd belässt es jedoch nicht bei jenen „Männergeschichten“, sondern geht auch den Spuren lesbischer Verhältnisse nach, die indessen schwieriger zu rekonstruieren sind. Zwar gab es zu römischer Zeit sogar einige weibliche Gladiatoren, doch herrschte danach über die Jahrhunderte hinweg ein (wiederum von Männern oktroyiertes) Schweigen, das lesbische Liebe nur in der Mimikry platonischer Seelenfreundschaften duldete. Kein Zufall, dass Radclyffe Halls 1928 erschienener lesbischer Roman den Titel „The Well of Loneliness“ trug und schließlich sogar vor Gericht verhandelt wurde.
Ist Ackroyds Biografie bis zu dieser Epoche voller Details, geht es anschließend in Sieben-Meilen-Stiefeln von der Nachkriegszeit (in welcher der Aufbau des Sozialstaates eben keinesfalls identisch war mit dem Wegfall gesetzlicher Sexual-Restriktionen) über die hedonistischen Siebziger bis zum Aids-Schock der Achtziger und zur jüngsten Gegenwart. Bars und Clubs und Saunen befinden sich nun zwar längst nicht mehr im Verborgenen, materieller Wohlstand hat (zumindest bei den temporären „Aktionen“ an diesen Orten) das fortbestehende soziale Gefälle relativiert, doch ach: Im Zeitalter von Grindr und ähnlichen Apps verwaisen selbst die Orte des herrschaftsfreien Hedonismus immer mehr. Peter Ackroyd, zu klug und zu erfahren, um darob in kulturpessimistisches Lamento auszubrechen, schreibt deshalb am Schluss dieses Buches kurz und bündig: „Es wäre übertrieben zu sagen, dass die queere Welt im Niedergang begriffen ist; vielmehr ist sie gerade dabei, sich neu zu erfinden.“ Was dann zweifellos genügend Stoff birgt für Bücher einer nachfolgenden Generation.
Queer London
Von der Antike bis heute
von Peter Ackroyd
aus dem Englischen von Sophia Lindsey
Gebunden, 271 Seiten, 24 €,
Penguin Verlag