Ein Liebeslied (1950)

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Männer, die in ihren Gefängniszellen tanzen, träumen und masturbieren; ein Wärter, der sie beobachtet. In einem Wald in der Nähe von Paris drehte der berühmte schwule Schriftsteller Jean Genet im Jahr 1950 seinen einzigen Film „Ein Liebeslied“ – keine 30 Minuten lang, aber skandalös genug, dass er nach einem ersten öffentlichen Screening im Jahr 1954 jahrzehntelang nicht gezeigt wurde. Philipp Stadelmaier über einen Film, „dem man sich am besten vorsichtig nähert, von außen, weil er sich selbst im Schutz der Anonymität bewegt und sich eine unzugängliche Intimität bewahrt.“

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Vervielfachung der Einsamkeit

von Philipp Stadelmaier

Billige Pornographie. Perverse Sexpraktiken. Explizite Darstellungen von Masturbation. Voyeurismus. Nacktheit und Sadismus. Und all das abzielend auf die Beförderung von „Sodomie“, diesem „Verbrechen gegen die Natur“! – Mit diesen Worten verurteilte im Jahr 1966 ein kalifornisches Gericht „Ein Liebeslied“ („Un chant d’amour“), den nicht einmal 30 Minuten langen Skandalfilm des französischen Schriftstellers Jean Genets aus dem Jahr 1950, zur Unsichtbarkeit. Nach zweimaliger Sichtung belegte der Alameda County Superior Court das Werk mit einem Aufführungsverbot, das später vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten bestätigt wurde. Auch in Frankreich, dem Ort seiner Entstehung, durfte der Film erst in den Siebzigerjahren gezeigt werden.

Genets Vergehen: Einen Gefängniswärter zu zeigen, der durch die Gucklöcher der Zellen zwei voneinander getrennte Insassen, einen jüngeren und einen älteren, dabei beobachtet, wie sie sich nacheinander verzehren und sich dabei selbst berühren. Später dringt der Wärter in die Zelle des Älteren ein und schlägt ihn, während dieser einen Traum hat, in dem er sich mit dem Jüngeren in einem Waldstück vergnügt; eine weitere Vision zeigt den Wärter beim Sex mit den Gefangenen und anderen Männern. Gerahmt wird das Ganze von einem Blumenbouquet, das von einem vergitterten Fenster zum anderen geschwungen wird, wo eine Hand es zu fangen versucht, ohne es zu erwischen. Am Ende entfernt sich der Wärter über die Straße, und das Bouquet am Fenster wird gefangen.

Gedreht wurde von April bis Juni 1950 in einem Wald in der Nähe von Paris und einem Nachtclub namens „La rose rouge“, in dem die Hautevolee des Existenzialismus verkehrte. Der Leiter des Clubs, Nikos Papatakis, ein abenteuerlustiger, in Äthiopien aufgewachsener Grieche, war 1939 nach Paris gekommen, wo er André Breton, Jean-Paul Sartre und eben Genet kennenlernte. Papatakis würde später selbst skandalträchtige Filme drehen, etwa „Die Abgründe“ (1962), der seine Inspiration aus denselben realen Mordfällen zog wie Genets Theaterstück „Die Zofen“ (1947). Seine Filmkarriere begann 1950 damit, dass er „Ein Liebeslied“ produzierte, mit Einnahmen des von ihm geleiteten Etablissements.

Genet, der 1910 geborene, homosexuelle und kriminelle Schriftsteller, der seine Kindheit und Jugend bei Pflegefamilien und in Heimen, beim Militär und auf Reisen verbracht hatte, wenn er nicht gerade im Gefängnis saß oder auf der Flucht war, war zu diesem Zeitpunkt in Frankreich zwar längst ein angesehener, von Jean Cocteau und Sartre protegierter Künstler, befand sich aber in einer literarischen Schaffenskrise. Als filmische Inspiration für „Un chant d’amour“ – der, trotz weiterer Drehbücher und Filmvorhaben, der einzige realisierte Film Genets bleiben sollte – können die morbid-poetischen Filme Jean Cocteaus und Kenneth Angers homoerotischer „Fireworks“ von 1947 herangezogen werden, den Genet angeblich vor den Dreharbeiten in Henri Langlois’ Cinémathèque Française sah. Dort wurde auch „Ein Liebeslied“ nach seiner Fertigstellung 1954 ein erstes Mal vorgeführt. Es sollte für lange Zeit das einzige Screening bleiben. Genet und Papatakis hatten sich bei den französischen Zensurbehörden gar nicht erst um eine Freigabe ihres Films bemüht und versuchten, auf privaten Wegen einzelne Kopien zu verkaufen.

Der einzige Name, der im Vor- und Nachspann auftaucht, ist der von Genet. Papatakis wird ebenso wenig genannt wie der Kameramann (einige vermuten Jean Cocteau, wahrscheinlicher ist aber Jacques Natteau, der unter anderem mit Jean Renoir und Marcel Carné gearbeitet hatte). Unerwähnt bleiben auch die Schauspieler: André Reybal (als Wächter), Lucien Sénémaud (als jüngerer Gefangener), ein tunesischer Zuhälter (in der Rolle des Älteren), den man im Internet unter dem Spitznamen „Bravo“ findet, sowie ein schwarzer Tänzer, der als „Coco Le Martiniquais“ bekannt war und kurz als Insasse einer weiteren Zelle auftaucht. Durch die Anonymität sollten die Beteiligten vor Strafverfolgung und möglichen Erpressungsversuchen geschützt werden.

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Bislang ging es in diesem Text viel um die äußeren Umstände des Films und wenig um den Film selbst. Und das aus zwei Gründen. Zum einen sind diese Umstände so außergewöhnlich, dass es sich lohnt, sie zu kennen. Zum anderen ist „Un chant d’amour“ ein Film, dem man sich am besten vorsichtig nähert, von außen, weil er sich selbst im Schutz der Anonymität bewegt und sich eine unzugängliche Intimität bewahrt: Er war selbst bereits das Produkt einer ästhetischen Autozensur, einer ebenso hervorgerufenen wie „unterbundenen“ Faszination.

Von außen, über eine Straße, nähert sich anfangs der Wärter/Wächter einem Spektakel, von dem er zunächst nur das schwingende Blumenbouquet unterhalb der Gitterstäbe sieht, bis er im Inneren des Gefängnisses durch die Gucklöcher der Türen Dinge beobachtet, von denen er ausgeschlossen bleibt. Doch auch die in ihren Zellen voneinander getrennten Eingeschlossenen kommen nicht zueinander: Der Jüngere gibt sich einem träumerischen Tanz hin, der Ältere wird unruhig, klopft an die Wand, ohne Antwort zu erhalten; später wird er sie liebkosen oder mit seinem erigierten Penis gegen den Putz schlagen, während auch die anderen Männer in ihren Zellen tanzen und masturbieren, beobachtet vom Wärter. Die Wand wird zur Membran, die verbindet und trennt, in einem unerfüllten Begehren hält und dieses auf die Männer zurückwirft, so dass sie sich selbst berühren, an der Schulter und am Schwanz, am Knie und an den Zehen. Die Homo- als Autoerotik, ihr somnambuler Charakter, die unverfügbare Passivität jener, die nur sich selbst genießen, die Vervielfachung der Einsamkeit in mehreren Körpern: All das findet man später auch in Rainer Werner Fassbinders onirischer Genet-Verfilmung „Querelle“ (1982).

Verbunden sind die beiden Männer durch ein winziges Loch in der Wand, durch das sie ab und an einen Strohhalm stecken, um Zigarettenrauch vom Mund des einen in den Mund des anderen zu blasen. So hatte der – wie Genet homosexuelle – französische Filmkritiker Serge Daney in einer Kritik von 1976 den Film als Geschichte dreier Löcher beschrieben: Da ist das Loch in der Wand, dann das Guckloch, durch das der Wärter seine Gefangenen beobachtet, und schließlich das „Loch“ der Kinoleinwand, durch welches das Publikum den Film sieht. Wenn es in diesem „Liebeslied“ einen Gesang gibt, dann aufgrund dieser Löcher, denn: kein Lied ohne Mund, Loch, Öffnung. Doch der Film, der erst ab 1973 von verschiedenen Komponisten nachträglich mit Musik unterlegt wurde, ist an sich stumm, der Gesang nicht hörbar. Wenn es hier ein Liebeslied gibt, bleibt dieses abwesend und widersteht den Zuschauer:innen.

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Man könnte auch sagen: „Ein Liebeslied“ erzählt die Geschichte eines begierigen Auges, das immer wieder in Großaufnahme im Guckloch der Zellen auftaucht. Es handelt sich um das Auge des Wärters/Wächters, aber auch des Zuschauers des Films. Das Guckloch und die Leinwand, der sadistische Wärter und der Filmzuschauer werden austauschbar. Beide wollen, was sie sehen, unterwerfen und ins Gesehene eindringen. So, wie der Wärter in die Zelle des älteren Gefangenen eindringt, um sein sadistisches Begehren zu befriedigen: Er peitscht ihn mit dem Gürtel, steckt ihm die Pistole in den Mund. Gleichzeitig wird der Zuschauer jedes Mal, wenn er sich im voyeuristischen Genuss des Spektakels verliert, durch einen Gegenschuss auf den Wärter daran erinnert, dass er, der Zuschauer, nur zuschaut und nichts als ein „Wächter/Wärter/Aufseher seiner Bilder“ ist (Daney). In einem Moment entsteht durch die Abfolge zweier Einstellungen auf den Wärter der Eindruck, dass auch er sich lediglich „beim Betrachten betrachtet“.

Mit der Penetration der Zelle durch den Wärter zerreißt der Film – das Gesehene und Begehrte – außerdem in drei Teile. Die Szenen in der Zelle überkreuzen sich nun mit einer in der Natur spielenden Liebesfantasie des Gefangenen und einer Fantasie des Wärters, der von kopulierenden Körpern in einem abstrakten, leeren Raum träumt, getaucht in ein dämmriges Chiaroscuro. Die Fantasie des Wärters drückt den Wunsch aus, die Körper der Männer beim Sex zu dominieren (kalt, technisch, demonstrativ), während sie die Naturszene als Fantasie des Zuschauers erscheinen lässt, der die beiden Männer endlich in einem Bild zusammenpferchen und den skandalumwitterten „Porno“ sehen will – ganz wie die Zensoren des Films. Doch umgekehrt wird der Wärter für den Gefangenen zum „Instrument“ seines eigenen Vergnügens, zum Auslöser seiner eigenen romantischen Fantasie, in der nur der ältere und der jüngere Gefangene vorkommen – und eben nicht der Wärter.

Vor diesen zwei radikal heterogenen Visionen des Wärters und des Gefangenen, der Herrschaft und der Unterdrückten, denkt man an einen weiteren (Skandal-)Film, der ebenfalls Probleme mit der Zensur hatte: „Die 120 Tage von Sodom“ von Pier Paolo Pasolini. Auch hier wurden Gefangene von Folterknechten gequält, die keinen Zugang zum Begehren der Gequälten fanden und nur voyeuristisch ihren Neid auf deren Lust ausleben konnten, d.h.: ihre Macht als Zuschauer:innen. Wenn die körperliche „Vereinigung“ der Zellinsassen nichts als schlüpfrige „Fantasie“ ist; wenn ihre Verbindung nur zwischen ihnen entsteht, durch die Mauer und das geniale Loch in ihr, dadurch also, dass sie sich hören, erahnen, erträumen, „inhalieren“, ohne sich je zu berühren; wenn diese Liebe ein stummer „Gesang“ bleibt, der sich hinter den Bildern und in diesem Loch verbirgt und den Wärter/Zuschauer/Voyeur des Films letztlich „nichts angeht“ – dann bleibt die Wahrheit dieser Beziehung dem begehrlichen Auge unzugänglich, was die von diesem Film ausgehende Faszination in dem Maße steigert, in dem sie frustriert wird. Wie genau die Bilder des Films zusammenkommen und „kopulieren“, verbirgt sich. Wenn das unterm Gitter geschwungene Bouquet am Ende doch von der zweiten Hand gefangen wird, liegt dieser Moment schon nicht mehr im Sichtfeld des Wärters, der unverrichteter Dinge längst von dannen gezogen ist.

 



Ein Liebeslied
von Jean Genet
FR 1950, 26 Minuten, FSK 18,
OF ohne Sprache

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