Tropical Malady (2004)

DVD

Ein Soldat verliebt sich in Thailand in einen Jungen aus der Provinz und schafft es tatsächlich, seine Gunst zu gewinnen. Doch dann verschwindet der Junge in der Dunkelheit – und ein ganz neuer Film scheint zu beginnen, der den Soldaten in die Tiefen des Dschungels und in mystische Tierwelten führt. Mit seinem lyrischen, lustvoll geheimnisvollen Film „Tropical Malady“ etablierte sich der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul im Jahr 2004 als Großmeister des internationalen Arthouse-Kinos. Das rätselhafte Kinoerlebnis gewann den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes, die Zeit feierte den Film als „Sensation des Kinos“, er schaffte es in die Sight-and-Sound-Liste der größten Filme aller Zeiten. Jochen Werner über ein „hypnotisches Meisterwerk“.

Bild: Salzgeber

Allgegenwart von Leben

von Jochen Werner

Es war einmal ein Schamane aus dem Volk der Khmer, der die Gestalt verschiedener Tiere annehmen konnte. Des Nachts wanderte er als Tiger durch den Dschungel und trieb Schabernack mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer. Eines Nachts jedoch wurde er von einem Jäger erschossen, und während der Leib des Tigers in einem Museum in Kanchanaburi zu besichtigen ist, kehrt der Geist des Schamanen allnächtlich zurück und durchstreift den Dschungel auf den Spuren der Lebenden.

Ein junger Soldat kommt in eine kleine Stadt in der thailändischen Provinz Phetchaburi, um einer Art Mordserie auf die Schliche zu kommen. Das Vieh der Dorfbewohner wird allnächtlich getötet – von einem Ungeheuer, erzählt man sich. „Sud pralad“, der Originaltitel von Apichatpong Weerasethakuls hypnotischem Meisterwerk, bedeutet so viel wie “Monster”. Nur wer oder was ist das Monster hier? Und was will es von uns?

„Tropical Malady“ spürt diesen Fragen in zwei sehr unterschiedlichen Hälften nach. Die erste ist semidokumentarisch – nur allzu leicht vergisst man, dass der große magische Realist des Weltkinos, Apichatpong Weerasethakul, seine Ursprünge im Dokumentarischen hat. „Mysterious Object at Noon“, so der Titel von Apichatpongs Langfilmdebüt, porträtierte die Menschen des ländlichen Thailand – allerdings nicht nur in ihrem Sein und ihren Lebensumständen, sondern in ihrem Erzählen und Fantasieren. Eine kollektive Erzählung entstand, indem immer wieder neue Menschen eine abgebrochene Geschichte fortschreiben. Und durch das experimentell-spielerische Format näherte sich Apichatpong den Träumen, Sehnsüchten, Mythen und Innenwelten seiner Protagonist:innen an.

In seinen folgenden Kinofilmen – entstanden zwischen zahlreichen Kurzfilmen, Videokunstarbeiten und einem bis heute überraschenden Ausflug in den Drag-Queen-Superheld:innenfilm – nutzt der Regisseur ebenfalls Strategien des Bruchs und des neuen Ansatzes. Zunächst in „Blissfully Yours“ und dann in „Tropical Malady“ sind es jedoch nicht die fortwährenden Mikrobrüche, sondern jeweils eine einzelne, klar und deutlich markierte Risslinie zur Hälfte der Laufzeit, die die Filme in zwei Teile aufspaltet, die sich wechselseitig reflektieren – mehr oder weniger enigmatisch, mehr oder weniger opak.

Die erste Hälfte von „Tropical Malady“ ist eine schwule Liebesgeschichte zwischen zwei unterschiedlichen Männern, deren Wege sich zufällig kreuzen und die fortan ein Stück gemeinsam gehen. Der Soldat Keng reist nach Phetchaburi, um das titelgebende Ungeheuer zu fangen, und findet stattdessen die Liebe zum analphabetischen Arbeiter Tong, der in einer Fabrik Eisblöcke zersägt. Keng bringt ihm das Autofahren bei und begleitet ihn bei der Auslieferung des Eises, und so verbringen die beiden immer mehr Zeit zusammen und kommen sich zuerst zaghaft und dann auch immer körperlicher näher. Und das, obwohl der schüchterne Tong anfangs im Bus noch sehr sehnsuchtsvoll ein hübsches Mädchen anblickte.

In dieser ersten Hälfte ist „Tropical Malady“ nicht zuletzt auch ein ganz bezauberndes Hangout-Movie. Man übt das Autofahren, sucht Unterschlupf vor dem Monsunregen, besucht ein Kino ebenso wie ein Schuhgeschäft, fährt mit dem Moped durch nächtliche Straßen, irgendwann legen sich Hände auf Knie und münden in scherzhaftes Gerangel und schließlich immer vertrauteres Schmusen. Und doch sickern auch hier stetig Geschichten, Legenden, Erinnerungen und Mythen in die Gegenwärtigkeit der Erzählung hinein.

Bild: Salzgeber

Einmal treffen die beiden auf eine ältere Frau, die sich zu den beiden offensichtlich frisch Verliebten gesellt und diese in ein Gespräch verwickelt. Aus ihrem eigenen Leben erzählt sie ihnen – „eine Dschungelliebesgeschichte, voller Malaria“ – ebenso wie aus dem Legendenschatz der Provinz. Es waren einmal zwei Fischer, denen ein junger Mönch auftrug, im nahe gelegenen Teich Steine zu sammeln. Zurück am Ufer, verwandelten sich diese in Gold und Silber. Als die Fischer jedoch zurückgingen, um mehr Steine zu sammeln, behielten diese nicht nur ihre ursprüngliche Gestalt. Die Gold- und Silberklumpen, die sie auf der Jagd nach weiteren Reichtümern am Ufer liegen ließen, waren unterdessen zu Fröschen geworden und sprangen in alle Richtungen davon.

Diese Fabel bleibt zwar eine kurze Abschweifung, wird von Apichatpong Weerasethakul aber gleichwohl als ein veritabler narrativer Bruch in Szene gesetzt, denn uns wird sie im Gegensatz zu Keng und Tong nicht nur erzählt, sondern auch filmisch vor Augen geführt. „Tropical Malady“ wechselt hier für Augenblicke zwischen verschiedenen Ebenen filmischer Realität – und bereitet damit einen noch größeren, essenziellen Bruch vor, der das filmische Erzählen auf eine völlig andere Ebene überführt. Zunächst verbleiben wir aber noch eine Weile im Hier und Jetzt der ersten Filmhälfte, kehren aus der Fabel in die Situation zwischen Keng, Tong und der älteren Dame zurück, die die beiden mitnimmt auf ein Abenteuer.

Beim Abstieg in eine riesige Höhle machen die drei nämlich nicht bei der Buddhastatue halt, die dort unten angebetet wird (und deren Altar mit Weihnachtslieder piepsenden Lichterketten behangen ist). Stattdessen werden Tong und Keng weiter hinabgeführt, zu einem verborgenen Durchgang, den angeblich nur die von Buddha Gesegneten durchschreiten können. Das Kerzenlicht erlösche dort, aus Mangel an Sauerstoff oder auch aus spirituelleren Gründen, man ist sich nicht ganz einig. Und auch giftige Gase könnten dort warten, auf die Mutigen und vielleicht Erleuchteten, die es wagen, weiterzugehen. Doch hier ist es Keng, der zurückschreckt, während Tong bereit scheint, alle Wagnisse auf sich zu nehmen – eine Umkehrung jener kurz darauf folgenden Sequenz vielleicht, die den zentralen Bruch einleitet.

Die führt die beiden Männer in ein nächtliches Dunkel, im Nirgendwo am Rande des Dschungels. Keng beginnt an Tongs Hand zu riechen, diese schließlich zu küssen und zu lecken – jene Hand, die er Sekunden zuvor noch zum Urinieren am Waldrand zur Hilfe nahm. Ein romantischer Augenblick, sicher, aber auch einer, der etwas Animalisches in die Liebesbeziehung der beiden Protagonisten einbringt. Und der Moment, von dem an „Tropical Malady“ seinen Erzählmodus grundlegend verändern wird. Lächelnd löst sich Tong aus der Situation, wendet sich von Keng ab und läuft hinaus, aus der Szene, aus dem Film, ins Dunkel. Aus dem Licht ins Schwarz der dunklen Leinwand.

Bild: Salzgeber

Es dauert dann noch ein paar Momente, „Tropical Malady“ mag diese erste Erzählung noch nicht ganz loslassen. Wir sehen Keng mit anderen Soldaten auf der Ladefläche eines Truppentransporters, in einem Haus, wir betrachten Fotos, und das „Ungeheuer“ der ersten Sequenzen wird uns wieder in Erinnerung gerufen. Aber lange hält es den Film nicht mehr auf dieser vermeintlich ungebrochenen Realitätsebene, immer stärker beginnt die Leinwand zu flackern, zu flimmern, und dann schaltet Apichatpong – so jedenfalls wirkt es – einfach das Licht aus und lässt uns im Dunkel sitzen.

Lang genug dauert es dann, bis „Tropical Malady“ neu zu erzählen ansetzt. Die Zeichnung eines Tigers schält sich aus dem Schwarz, und es beginnt ein zweiter Film im Film, der mit einem eigenen Vorspann und einem eigenen Titel („A Spirit’s Path“) eingeleitet wird. Und von hier an wird jeder Realismus fallen gelassen – „Tropical Malady“ folgt fortan nur noch den Gesetzen von Mythos und Legende. Der Logik des Dschungels.

Dabei bleibt sein Protagonist derselbe. Erneut begegnen wir Keng als jungem Soldaten auf der Jagd nach einem Ungeheuer. Hier allerdings sucht er kein Tier, das an der Grenze zwischen Dschungel und Zivilisation wildert. In dieser zweiten Hälfte gibt es nichts als den Dschungel, den der junge Mann durchstreift, ohne je auf dessen Grenzen zu stoßen. Vielmehr scheint es nichts mehr als den Dschungel zu geben, und alles folgt seinen Gesetzen. Das Monstrum, das Keng sucht und das gleichzeitig selbst auf der Lauer liegt, ist der schamanische Gestaltwandler, dessen Geschichte wir eingangs erzählt bekamen – einerseits. Und andererseits vielleicht die Liebe, die menschliche Leidenschaft selbst – das, was den Menschen zum Tier werden lässt und was ihn in seinen zivilisatorischen Gewissheiten einzig grundsätzlich zu verunsichern vermag.

Bild: Salzgeber

Diese zweite Filmhälfte ist hypnotisch, trancehaft. Auf das gesprochene Wort vermag sie (beinahe) vollständig zu verzichten. Der einzige Dialog findet zwischen Keng und den geisterhaften Tierwesen statt, auf die er auf seinem Weg durch den Dschungel und immer tiefer in ihn hinein trifft, er bleibt stumm und findet lediglich in Form von ins stille Filmbild eingefügten Untertiteln statt. Die Geräuschkulisse des tiefen Waldes dominiert diese zweite Stunde von „Tropical Malady“, sie ist tranceartig und doch nie still, von urwüchsiger Lebendigkeit und bedrohlich wirkender Ruhe zu gleichen Teilen geprägt. Eine Allgegenwart von Leben, das nicht laut sein muss, um seine unmissverständliche Präsenz auszudrücken.

Themen und Motive aus der ersten Filmhälfte tauchen wieder auf und tief in den Mythos ein, den Apichatpong hier für uns durchspürbar macht. Von einem Affen erfahren wir von der Natur des Tigers, den wir nicht nur jagen, sondern der auch uns jagt, immer schon. Nur zwei Möglichkeiten gebe es: entweder wir töten ihn, den Schamanen, den Gestaltwandler, den Tiger, das Tier in uns. Oder er zerfleischt uns, verschlingt uns ganz und gar, und dann bleibt uns nichts, als fortan in seiner Geisterwelt zu existieren.

„Tropical Malady“ wird in dieser zweiten Filmhälfte, bis hin zum enigmatischen Schlussbild, zu einer wahrhaft magischen Kinoerfahrung. Dabei hat man nicht für eine Sekunde das Gefühl, dass das, was Apichatpong Weerasethakul hier mit einer zugegeben abstrakten, aber gleichzeitig durch und durch sinnlichen Formgebung zu erreichen sucht, auch mit konventionelleren Mitteln hätte erzählt werden können. Allzu oft erschöpft sich der „Magische Realismus“ des Weltkinos ja in eitlen Formsperenzchen, die auf allzu Dechiffrierbares verweisen. Aber „Tropical Malady“ ist ein Filmrätsel aus einem Guss, und keine andere Form scheint dafür denkbar als genau diese. Seine verschiedenen Erzähl-, Realitäts- und Bedeutungsebenen reflektieren einander unendlich, und obgleich nichts vollständig ineinander aufgeht, obgleich stets ein enigmatischer Überschuss verbleibt, weiß und spürt man doch am Ende alles, was man wissen muss.



Tropical Malady
von Apichatpong Weerasethakul
THA 2004, 125 Minuten, FSK 12,
thailändische OF mit deutschen UT

Auf DVD