Viva

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Jesús hat einen Traum – Travestiekünstler werden. Als ‚Viva‘ macht der schmächtige Jüngling seine ersten wackeligen Stöckelschritte auf der Bühne – und bekommt erstmal eine aufs Maul. Der Schläger: sein Vater. Der ist nach jahrelanger Abwesenheit wieder in Havanna aufgetaucht und macht sich nun im Leben seines Sohns breit. Unserem Autor Malte Göbel begeisterten in Paddy Breathnachs leidenschaftlich gespieltem Coming-of-Age-Drama „Viva“ vor allem die selbstbewussten queeren Figuren, die in glanzvollen Drag-Darbietungen ihre Erfüllung finden.

Foto: Salzgeber

Aus tiefster Seele

von Malte Göbel

Das birgt Stoff für Konflikte: Sohn Jesús, zart und offensichtlich schwul, ist Stylist und träumt vom Drag-Dasein. Vater Angel, maskulin und offensichtlich heterosexuell, war mal Boxer, saß dann lange im Gefängnis und säuft nun wie ein Loch. „Viva“ erzählt in seinen 100 Minuten, wie beide mühsam lernen, miteinander klarzukommen und den anderen als den zu akzeptieren, der er ist. Der Plot an sich ist nicht besonders neu oder innovativ. Doch Setting und atmosphärische Dichte machen „Viva“ zu einem außergewöhnlichen Film, zu einer Feier des Lebens und der Sehnsüchte.

Fast wohltuend dabei: „Viva“ problematisiert Schwulsein nicht. Natürlich ist Hauptperson Jesús schwul, aber das steht nie zur Debatte. Es gibt kein Coming-out, kein tränenreiches Bekenntnis, keine Verzweiflung, kein Hadern. Vater Angel ist zwar nicht gerade begeistert, dass sein Sohn so anders ist als er, aber Jesús muss sich niemandem erklären – erst recht nicht dem Vater. Tatsächlich verkörpert der zarte Jesús im Vergleich zu seinem vermeintlich starken Vater eine bemerkenswerte Kraft. Angel hat nur seine Vergangenheit. Jesús hat eine Wohnung, sorgt für das Essen. Und er hat einen Traum, der in die Zukunft weist: die Bühne.

Es ist eine vielschichtige Sehnsucht, deren Bestandteile Travestie und Musik eine ungewöhnliche Kombi eingehen und „Viva“ einen besonderen Zauber verleihen. Auch hier eine Überraschung: Das Dasein als Drag Queen ist nicht wie in vielen anderen Filmen ein Sammelbecken für Alkoholikerinnen, die den Anschluss ans Leben verloren haben, sondern die Passion selbstbewusster queerer Personen, die in der Darbietung der großen lateinamerikanischen Lieder der 1950er und 60er ihre Erfüllung finden.

Ganz vorne dabei: TheaterchefIn Mama, die sich zu Jesús‘ MentorIn entwickelt. Bei ihr holt er sich Rat und Trost. Mama ist einer der stärksten Charaktere im Film, weil sie weiß, was sie an ihrem Job hat, was sie erwarten kann und wo sie sich engagieren muss. „Das hier ist kein Wohltätigkeitsverein“, sagt sie Jesús bei dessen erstem Vorsingen. „Ich kann nicht ständig allen nur helfen!“ Doch dann tut sie aber genau das, coacht Jesús für seine Auftritte, verarztet die vom Vater aufgeschlagene Lippe, schützt ihn vor einem wütenden Ex-Freier. Sie bietet ihm Obdach an, falls es mit dem Vater unerträglich wird. Sie hält sogar zu Jesús, als er sie belügt. Und sie ist eine weise Ratgeberin: „In dieser Zeit, die euch bleibt, versuche du selbst zu sein. Sonst wirst du es bereuen.“

Das ist das Credo des Films. Vater Angel verbietet Jesús zunächst das Auftreten, aber ändert dann nach und nach seine Haltung. Aus Respekt vor seinem Sohn, der ihn auch dann nicht im Stich lässt, als Angel krank wird. Die Wandlung des Vaters hat aber auch viel mit der Musik zu tun, die sich durch den Film zieht. Die Liebe zu den alten kubanischen Songs haben Jesús und Angel gemeinsam, sie lauschen zusammen Platten, erinnern sich an Jesús‘ Mutter. Die Kamera fängt dabei immer wieder die Ärmlichkeit und den Verfall der kubanischen Hauptstadt ein, mit beinah malerischen Bildern. Bald könnte das alles fort sein, denkt man sich. Die Annäherung zwischen Kuba und den USA wird Havanna in den nächsten Jahrzehnten wohl modernisieren. In „Viva“ hat Havanna aber noch ihren merkwürdig antiquierten Glanz – und die Musik von den Vinylplatten liefert dazu den perfekten Soundtrack.

So ist der Film auch eine Hommage an die großen lateinamerikanischen Sängerinnen der 50er und 60er. Am bekanntesten ist Rosita Forné, die als die kubanische Marilyn Monroe gilt und heute 93 Jahre alt ist. Auch die Spanierin Massiel ist noch heute populär. Aber dann sind da auch Songs von Zoraida Marrero, Annia Linares, Gina Lón, Maggie Carlés, Elena Burke zu hören. Ihr Medium war Vinyl, zu ihrer Zeit waren sie Stars, heute haben manche von ihnen noch nicht einmal Beschreibungen auf Wikipedia.

Foto: Salzgeber

Niemand scheint diese Musik so kunstvoll verkörpern zu können wie die Drag Queens in Mamas Travestietheater. „Nur die Lippen bewegen reicht nicht!“, schimpft die Chefin erbost nach dem ersten Auftritt von Jesús als Viva. „Du musst es mit Gefühl machen“, beschwört sie ihn. „Diese Lieder sagen etwas aus, Junge!“ Das war auch eines der wichtigsten Motive von Regisseur Paddy  Breathnach, wie dieser in einem Interview erklärte: „Mir ging es um die raue emotionale Kraft dieser Performances und dieser speziellen Lieder.“ In der Vorbereitung auf den Film hat der irische Regisseur in Havanna so viele Drag Shows wie möglich gesehen.

Vor allem eine Show ist Breathnach im Gedächtnis geblieben. Eine Sängerin gab auf der Bühne einen dramatischen Song, und eine Frau am Nebentisch brach in Tränen aus. Als sich Breathnach bei der Dame erkundigte, erfuhr er, dass die Person auf der Bühne ihr Bruder war. Die Bühne, so die Frau, sei der einzige Ort, an dem er glücklich sei. Breatchnach war fasziniert: „Die eingehende Kraft der Performer, diese wunderbare Musik, der Effekt auf die Familie, und was dahinter steht, das hat mich interessiert.“

Einige Hintergründe des Films sind überraschend: Autor Mark O‘Halloran und der Regisseur sind Iren, das Geld kam vom irischen Filmfonds. Paddy Breathnach spricht zwar Spanisch, doch das Skript zum Film entstand zunächst auf Englisch und wurde dann übersetzt. Cast und Team wurden erst in Kuba zusammengestellt, machten sich den Filmstoff aber schnell zu eigen, wie Breathnach erzählt. So ist es vor allem den drei Hauptdarstellern zu verdanken, dass „Viva“ so authentisch wirkt.

Foto: Salzgeber

Dabei ist Hauptdarsteller Héctor Medina nicht mal schwul. Der bereits 27-jährige Schauspieler läuft privat auch nicht glatt rasiert wie im Film, sondern eher mit Wuschelhaaren und Hipsterbärchen herum, erklärt Breathnach, und weiter: „Er liebt die Frauen“. Medina sei ein Partylöwe und liebe es, immer im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Umso erstaunlicher ist es, wie überzeugend er den introvertierten und bedrückten Jungschwulen spielt.

Interessant ist aber auch die Besetzung des Vaters Angels, der als Ex-Knacki und Boxer aus allen Poren Maskulinität ausschwitzt, mit Jorge Perugorría. Dieser war 1993 einer der beiden Hauptdarsteller in Tomás Gutiérrez Aleas „Erdbeer und Schokolade“ (1993), einem Film über die Freundschaft zwischen einem schwulen systemkritischen Künstler (Perugorría) und einem staatstreuen Studenten. „Erdbeer und Schokolade“ wurde auf der Berlinale 1994 mit dem Preis der Jury und dem Teddy-Award 1995 als erster kubanischer Film überhaupt für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert, und gilt heute als Schlüsselfilm des südamerikanischen Queer Cinema. Während 1993 die schwule Hauptfigur noch daran scheiterte, in Kuba als Homosexueller offen und selbstbewusst zu leben, scheint dies gute 20 Jahre später möglich zu sein, wenn wir „Viva“ glauben wollen.

Zu dieser Perspektive passt auch die bewegendste Szene des Films. In dieser erklärt Jesús seinem Vater, warum er als „Viva“ auf die Bühne geht: „Mein Leben lang wurden mir Schuldgefühle von außen aufgeladen. Als müsste ich mich für das schämen, was ich bin. Als wäre ich schwach und verweichlicht. Wenn ich auf die Bühne gehe, fühle ich mich stark und aufrichtig. Ich singe aus tiefster Seele. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt!“




Viva
von Paddy Breathnach
IR 2015, 100 Minuten, FSK 12,
spanische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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