Cicada

Trailerqueerfilmnacht

Ben ist „back on the dick“: Nach einer Reihe gescheiterter Beziehungsversuche mit Frauen hat der New Yorker Gelegenheitsjobber wieder Sex mit Männern. Die Anbahnungen laufen zunächst eher random ab, online oder in Clubs. Doch dann begegnet er vor einem hippen Buchladen dem Datentechniker Sam und flirtet ihn erfolgreich mit Nietzsche an. Matthew Fifers und Kieran Mulcares „Cicada“, der im Februar in der queerfilmnacht läuft, zeigt zwei junge Männer, die füreinander ihre inneren Mauern fallen lassen und dahinter Schönheit entdecken. Diese fand auch Andreas Köhnemann in den emotionalen Wimmelbildern des Films.

Foto: Salzgeber

Worth the Pain

von Andreas Köhnemann

Der hübsche Kerl im Park, der mit aufreizendem Lächeln auf dem Skateboard vorbeirollt. Der Typ mit der Ballonmütze, der rauchend auf der abendlichen Straße steht. Die schöne, braunhaarige Frau, die leicht nervös an der Bar sitzt. All diese Menschen könnten doch jeweils die eine große Liebe in Bens Leben sein, oder? Die ersten Minuten des Films „Cicada“ sind eine einzige, unruhige Suchbewegung. Undankbare Callcenter- und Handwerker-Jobs mit geschwätzigen Kolleginnen und übergriffigen Kunden. Misslungene Dates mit Leuten, die irre Geschichten über Pudding und Hunde, über Sternzeichen, Persönlichkeitsstörungen und Bärte erzählen.

Der Film wirft uns in ein flirrendes Arrangement aus Arbeit, Smalltalk, Alkohol, Clubbing und Sex. Mittendrin, zugleich seltsam neben sich stehend: Ben, der mal ängstlich, mal indifferent und nie besonders glücklich wirkt. Übelkeit, Schluckbeschwerden, ständige Arztbesuche – auch das sind Teile von Bens Alltag. Erst allmählich erfahren wir, was es damit auf sich hat.

Ben, verkörpert von Co-Regisseur und Drehbuchautor Matthew Fifer, ist der Protagonist von „Cicada“. Aber zunächst eher in der Art, wie der Weltenbummler Walter die Hauptfigur in der britischen Kinderbuchreihe „Wo ist Walter?“ ist: Er ist die Person, um die es geht, doch er droht in den Wimmelbildern unterzugehen. Die Figuren um Ben herum haben alle ihre ganz eigenen Geschichten, haben sich gerade den Fuß gebrochen, wollen Schauspielkarriere machen, loten ihre künstlerischen Fähigkeiten aus oder plagen sich mit den Erinnerungen an ihre richtig blöde Ex-Beziehung herum. Mütter, (Stief-)Väter, Geschwister, die Clique, die WG, das Büro, eine Armee der ziellos Liebenden und obendrein noch Millionen Fremde.

In diesem vielstimmigen Gewimmel in einem betont unglamourösen New York muss Ben sich behaupten. „Wirst du heute reden?“, fragt ihn seine Mitbewohnerin zu Beginn, als er hustend neben seinem Bett auf dem staubigen Boden liegt. Wir ahnen, dass es Tage gibt, an denen sich Ben dem Gewimmel gänzlich zu entziehen versucht, an denen er nicht der Protagonist in seiner eigenen Lebensgeschichte sein möchte.

Und dann steht plötzlich der verdammt gut aussehende Sam vor ihm, am Außenstand einer Buchhandlung für gebrauchte Bücher, in „Die kleine Raupe Nimmersatt“ lesend. Sam könnte ein weiteres „Was wäre, wenn…?“-Kapitel in Bens dickem Buch der unseligen Begegnungen sein. Doch er wird mehr als das. Viel mehr sogar. In einem anderen Film wäre Sam womöglich das Allheilmittel für Bens Wunden. Der Mensch, der ihn rettet, der ihn komplettiert und auf die Frage „Wo ist Ben?“ die herzige Antwort „Bei Sam!“ liefert. Aber so läuft es eben nicht. Weder im Leben noch in Filmen, die dem Leben gerecht werden wollen. Denn Sam hat selbst genug Wunden – darunter auch eine ganz frische, sichtbare, von einer kürzlichen OP, nachdem er Opfer eines mutmaßlich rassistisch und homophob motivierten Hassverbrechens auf offener Straße geworden war.

Foto: Salzgeber

Wir erleben mit, wie Ben und Sam ihre privaten Geschichten austauschen. Es beginnt oberflächlich und geht dann immer tiefer. Die Handkamera bewegt sich sachte hin und her, wenn die beiden in Bens Bett liegen und reden – eine sehr intime Bettszene, ohne Sex. Wenn der Sex später dazukommt, muss die Intimität gar nicht mehr durch klischeehafte Stilmittel, von softerotischer Musik bis hin zu stilisierter Beleuchtung, herbeigeführt werden; sie hat sich ganz von selbst aufgebaut.

Auf der Dachterrasse und zwischen Bücherregalen, in den Vergnügungsparks auf Coney Island, im Bett und im Waschsalon – überall harmonieren Ben und Sam wunderbar miteinander. Wir schauen zu, wie sie sich ineinander verlieben und verlieben uns dabei selbst ein bisschen mit. Sobald es zu kitschig zu werden droht, wird das Pathos rasch wieder auf Lebensgröße gebracht: „Die Welt denkt nicht über uns nach“, meint Ben beschwichtigend, als Sam zur dramatischen Erkenntnis kommt, es sei egal, was die Welt über sie denke.

In Momenten wie diesen ist „Cicada“ unfassbar schön, romantisch, bezaubernd. Aber der Film belügt uns nicht. Er lässt uns nicht glauben, dass sich Abgründe mit einer ordentlichen Portion Zuckerguss schließen lassen. Warum weicht Ben bei aller Offenheit und Vertrautheit bei Sams Frage nach seinem ersten Mal aus? Beinahe 60 Filmminuten vergehen, ehe Bens Trauma erstmals klar ausgesprochen wird, in einer Therapiesitzung mit einer bemüht freigeistigen Therapeutin. Ben wurde als Kind missbraucht. Intimität war für ihn lange nur möglich, wenn er betrunken war.

Foto: Salzgeber

Matthew Fifer schildert hier seine persönlichen Erlebnisse. Ebenso ist die Gewalt, die Sam erfahren hat, auch dem Darsteller Sheldon D. Brown zugestoßen. Der erlittene und nach wie vor tief sitzende Schmerz dient nicht dazu, künstliche Konflikte bis zum Happy End zu schaffen. Er ist da; er zwingt zur Auseinandersetzung. Es gibt kein absehbares Ende, kein gesichertes Glück. Aber Ben und Sam, Matthew und Sheldon sind dennoch immer mehr als nur ihr Trauma, mehr als ihre Wunden, mehr als das, was ihnen angetan wurde.

In „Cicada“ sind Leichtigkeit und Schmerz untrennbar miteinander verknüpft. Es sei den Schmerz wert, meint Ben beim Kennlern-Flirt mit Sam scherzhaft über „Die kleine Raupe Nimmersatt“, das laut Ben „beste, aber am wenigsten zugängliche Werk von Friedrich Nietzsche“. Und so ist es auch mit diesem Film: Er tut manchmal heftig weh, ist jedoch auch höchst beglückend.




Cicada
von Matthew Fifer & Kieran Mulcare
US 2020, 94 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Im Februar in der queerfilmnacht.

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