Zora del Buono: Seinetwegen

Buch

Die in Berlin lebende Schweizer Schriftstellerin Zora del Buono betrachtet die Welt in ihren Büchern eigentlich immer durch eine queere Brille. In „Seinetwegen“ hätte das anders sein können: Mit dem Projekt wollte die Autorin Leerstellen aufarbeiten, die ihr Vater hinterlassen hat, der 1963 bei einem Autounfall starb, als sie selbst erst acht Monate alt war. Doch auf der Suche nach dem Mann, der den Unfall damals verursacht hat, findet sie statt Antworten neue Leerstellen, und stößt dabei unverhofft auf die schwulenemanzipatorischen Errungenschaften der Schweizer Provinz. Die literarische Präzision, mit der Zora del Buono diesen thematischen Spagat vollführt, brachte ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein – und lässt Marko Martin die Welt wieder ein bisschen wohnlicher empfinden.

Ausweitung der Aufmerksamkeitszone

von Marko Martin

In Zora del Buonos Debütroman „Canitz’ Verlangen“ von 2008 driftete ihr männlicher Protagonist in die Berliner Fetischwelt zumeist gutbetuchter Schwuler, schreckte jedoch vor der Perversion heimlich getragener Nazi-Uniformen zurück. Auch im Nachfolge-Roman „Big Sue“ ging es um subtil aufgeladene und gleichzeitig verdrängte Sexualitäten (wie schon im Vorgänger ausdrücklich im Plural), diesmal in der schwülen Atmosphäre der US-Südstaaten. In „Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt“ von 2016 sorgte dann schon der schwule Cruising-Fantasien evozierende Titel für einen gewissen Camp-Drive. Das passte durchaus zu der Geschichte einer im Kreuzberger Punk- und Lesben-Milieu sozialisierten Berliner Gastdozentin, die sich auf einem Campus im puritanischen Amerika in einen ephebenhaften Jungmann verliebt.

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich und seit Beginn der achtziger Jahre in (West-)Berlin lebend, hat also bereits queere Literatur geschrieben, als dies noch kein Label war, mit dem sich Aufmerksamkeit akquirieren ließ. Sie ist freilich keine hektische Autorin, der es zuvörderst darum geht, eine bestimmte Klientel mit deren vermeintlich eigenen Themen zu versorgen. Es geht ihr also nicht um Modellgeschichten oder Kategorien, sondern um die Wege, Irrwege und Ambiguitäten individueller Schicksale – erzählt in einem Ton, der weder raunend noch didaktisch ist, sondern vielmehr die fragile Balance zwischen einer Empathie der Beobachtung und der ironischen Prägnanz des Ausdrucks zu halten weiß. Entsprechend gelassen und en passant kommt auch in ihrem aktuellen Buch „Seinetwegen“ die Queerness ins Spiel. Und zwar völlig unerwartet für Leserinnen und Leser und nicht zuletzt für die Autorin selbst – der es zuerst einmal um ihre Familiengeschichte geht.

Es beginnt mit einer Suche. Auf der ersten Seite heißt es: „Ich muss ihn suchen, ihn aufsuchen. Den Töter meines Vaters.“ Zora del Buonos Vater Manfredi verstarb 1963 tragisch früh bei einem Verkehrsunfall, den ein junger Mann bei einem riskanten Überholmanöver zwischen zwei Dörfern im Kanton St. Gallen verursachte. Ein gewisser Herr Traxler war es, der Zora del Buonos Vater um dessen ebenso junges Leben brachte. Im anschließenden Gerichtsprozess wurde er lediglich zu einer „Buße“ von 200 Franken verurteilt. Möglicherweise weil er, obzwar der Arbeiterschicht zugehörig, dann eben doch ein „Hiesiger“ war. Im Unterschied zu seinem Opfer, jenem jungen Zürcher Kantonsspital-Arzt, in Italien geboren als Sohn einer slowenischen Mutter und eines sizilianischen Vaters.

Zora del Buono – Foto: Stefan Bohrer

Zora del Buono geht der Sache nach. Dabei rekapituliert sie die Geschichte der Lebensliebe ihrer Eltern und der komplizenhaften Beziehung, die sie zu ihrer Mutter pflegte, bis deren Demenz der Nähe ein Ende setzte, erzählt von den Schweizer Landschaften jenseits der großen Städte, ihren geographischen Gegebenheiten und den mentalen Mustern der Bewohner. Und eben auch über jenen Herrn Traxler, der inzwischen verstorben ist und von dem es heißt, er sei zeitlebens Junggeselle geblieben. Einer der befragten Dörfler sagt, er sei „eine vo de Guete gsii“, „einer der Guten gewesen“. Aber es gibt auch merkwürdige Ungereimtheiten. Weshalb arbeitete Traxler in einer Gießerei im Städtchen Glarus, lebte jedoch im schon damals teureren und wohl auch anonymeren St. Gallen? Warum nahm er dafür aufwendige Zugreisen in Kauf? Wirklich nur um den Ort des tragischen Unfalls zu meiden? An dieser Stelle wird Zora del Buono stutzig: „Gab es etwas, das er den St. Gallern verheimlichen wollte? Oder umgekehrt den Glarnern? (…) Ich frage: War der Traxler etwa homosexuell?“

Nun ja, Gerüchte habe es über diesen „leutseligen Menschen“ gewiss gegeben, bekommt sie zur Antwort, aber etwas Genaueres hätte sich nie in Erfahrung bringen lassen. Ab hier könnte die gestrenge Hermeneutik des Verdachts den Takt angeben. Aber Zora del Buono ist, im Unterschied etwa zu Annie Ernaux, nicht besessen von Kategorien der Exklusion. Statt in Raunen über (möglicherweise) fortdauernde Provinz-Ressentiments zu verfallen, schreibt sie: „Falls Traxler wirklich homosexuell war, katapultiert ihn das in mein Leben, hebt ihn in meine Welt, in einem luftigen hohen Bogen hole ich ihn zu mir, denke ihn mir als Gast in der intensivsten Zeit meines Lebens, den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren in Berlin-Schöneberg, auf der Kreuzung Eisenacher Straße/Motzstraße, die beste Kreuzung überhaupt (…). Und hat Ernst Traxler in diesen Jahren tatsächlich Berlin besucht, hat er vielleicht neben mir gestanden vorm Hafen, ein fünfzigjähriger Mann, womöglich in Lederhosen und ohne Hemd, dafür mit einem farbigen Tuch in der Gesäßtasche, oder mit Chaps, ist für ein paar Tage in die Anonymität der Bars und Darkrooms abgetaucht, bevor er wieder zurückkehrte nach Glarus und St. Gallen.“

Und auch jenes Glarus rückt in ein neues Licht. Ohne dass es forciert würde, entpuppt sich die vermeintliche Peripherie als der Ort, an dem Mitte des 19. Jahrhunderts ein Mann namens Heinrich Hössli sein Lebenswerk „Eros – Die Männerliebe der Griechen“ schrieb, das die Autorin als „die erste bedeutende Verteidigung der Homosexualität überhaupt“ charakterisiert. Und weiter: „Man könnte Heinrich Hössli den Urvater der weltweiten LGBTQ*-Bewegung nennen. Und er war Glarner.“ Mit unverhohlenem Staunen und von genuiner Neugier angetrieben gräbt del Buono tiefer: „1898 veröffentlicht dann ein Heiratsvermittler, Jacob Rudolf Forster, höchst moderne Gedanken zur Emanzipation der Homosexualität. Er wird verfolgt, eingekerkert, in Besserungsanstalten und Irrenhäuser gesteckt – schreibt und kämpft aber weiter. Forster stammt aus: St. Gallen. Da denkt man in seiner urbanen Überheblichkeit gern, alles Wichtige entstünde in den großen Städten, Paris, London, Berlin, und ja, auch Zürich. Und dann: Zwei der wichtigsten schwulenemanzipatorischen Denker ever stammen aus der Schweizer Provinz – und zwar ausgerechnet aus Glarus und St. Gallen.“

Absurde Volten des Schicksals? Zora del Buono würde wohl eher von Überraschungen sprechen. Die Leerstellen, die seit dem Tod des Vaters klaffen, lassen sich damit natürlich nicht füllen. Aber sie werden umkreist. In suggestiv-konzisen kurzen Absätzen, ohne epische Breitpinselei, stattdessen mit geradezu unvergleichlicher Präzision, die nur wenige Sätze benötigt, um Situationen sinnlich und psychologisch plausibel zu erfassen. So werden die Leerstellen mit Geschichten von Menschen gefüllt, deren Charakteren und Verhaltensweisen das „Queere“ im Sinne von etwas Fluidem, Mehrheits-Abweichendem genau wie der Autorin selbst eingeschrieben ist. Völlig zu Recht kam „Seinetwegen“ auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis. Zora del Buono lesen bedeutet nichts weniger als die Welt als einen trotz allem bewohnbaren Ort (wieder) zu entdecken.




Seinetwegen
von Zora del Bunon
201 Seiten, € 23
C.H. Beck

 

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