Tod in Venedig (1971)
DVD/VoD
Luchino Viscontis „Tod in Venedig“, die filmische Adaption von Thomas Manns gleichnamiger Novelle, gilt als eine der schönsten und tiefgründigsten Verfilmungen des europäischen Kinos. Die Geschichte um den alternden Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der sich auf einer Reise in die Lagunenstadt in einen Teenager verliebt, ist ein meditatives Werk über Schönheit, Sterblichkeit und die verführerische Kraft der Kunst, so pathetisch wie opulent-melancholisch. Cosima Lutz über „eine der wahrscheinlich wortkargsten Literaturverfilmungen überhaupt“.

Bild: Warner
Im Angesicht des Schönsten
von Cosima Lutz
Thomas Mann, so heißt es einmal in Heinrich Breloers TV-Dokumentation über die Literaten-Familie, sei beim Essen völlig gehemmt gewesen. So soll er, wenn er zwischen zwei Personen saß, kaum zum Kauen und Schlucken fähig gewesen sein. In Sachen Selbstreflexion und Ironie allerdings war er begnadet, und so hätte es ihn sicher amüsiert, wie 60 Jahre nach Entstehen seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ in Luchino Viscontis Verfilmung der Schauspieler Dirk Bogarde als Gustav Aschenbach am Lido in eine Erdbeere beißt.
Bogarde schaut aus seinen runden, spiegelnden Brillengläsern wie ein melancholischer Dackel, nimmt eine Erdbeere vom Tischchen, das er sich vor seine Strandhütte hat stellen lassen, und macht es sich, stilsicher gewandet in einen hellen Sommeranzug, auf seinem Liegestuhl bequem. Ihm fällt noch ein, dass ja nun die übrigen Erdbeeren ein wenig außer Reichweite liegen, streckt sich und zieht im Sitzen die Tüte vorsichtig zu sich heran, gerade so, dass sie nicht von der Tischkante fällt. Mit Abgründen, die man meiden muss, kennt der Künstler sich aus; erreichbar soll es aber schon sein, dieses erlaubte Glück. Mit gestreckten Fingern, leicht gehobenen Augenbrauen und etwas spitzlippig beißt Bogarde also endlich in die rote Frucht, mit fast verlegener Freude, und schaut dann kurz umher, als habe er gerade etwas Unbotmäßiges gemeistert und erwarte nun Applaus.
Sekunden nach Aschenbachs ungelenkem Fruchtverzehr weist ein britischer Tourist einen mobilen Erdbeerverkäufer ab und warnt seine Mitreisenden, es sei „dangerous“, frisches Obst zu essen, „only cooked!“ Da ist es für Aschenbach allerdings schon zu spät. Andere stibitzen sich nach Lust und Laune die köstlichsten Früchte, schwelgen ungehemmt und ungestraft im Genuss; Aschenbach hingegen gönnt sich einmal einen kleinen süßen Moment, und schon hat er die Cholera am Hacken.
Es ist das Schicksal eines Einsamen, der zwar brav seine Zeitung liest – die „Münchener Neuesten Nachrichten“, soviel Ortstreue darf schon sein in der Fremde -, dem sich aber die Wahrheit, die schmutzige, ehrliche, unerbittliche, fast bis zuletzt entzieht. Mitten im belebten Urlaubsort bleibt er doch ein Außenseiter. Aber einer, der sich sein Anderssein nicht identitätspolitisch auf die Fahnen schreibt, sondern ihm zurückhaltend, fast ängstlich, später dann zunehmend leidenschaftlich auf den Grund zu gehen versucht. Bald wird er schwitzend und humpelnd die polnische Adelsfamilie stalken, in deren Teenager-Spross Tadzio sich der über 50-Jährige verliebt hat; er wird sich vom Barbier die Lippen anmalen und die Haare färben lassen, braun wird ihm die Farbe die Schläfen hinunterlaufen. Und sterben wird er, jedoch im Angesicht des Schönsten, das er je erblicken durfte.
Dass schon vor und während der ganzen Erbeer-Szenerie minutenlang das laute Gelächter einer anderen Strandgesellschaft erschallt, korrespondiert mit dem aufdringlichen Lachen des Zahlmeisters auf dem Vaporetto, mit dem Aschenbach angekommen war. Und es deutet voraus auf den „Wua-Hahahahaha“-Refrain einer Musiktruppe, die später, als Venedig sich seuchenbedingt schon leert, die Gäste des „Hotel des Bains“ amüsieren, enervieren und anekeln wird. Allein der ambivalente Einsatz des Lachens zeigt, dass Visconti viel mehr von der Tragikomik des Stoffes erfasst hat, als sein sonst so pathetischer, opulent melancholischer Film zunächst vermuten lässt.
„Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung“ sei das eigentliche Thema seiner Novelle gewesen, schrieb Thomas Mann am 4. Juli 1920 dem Lyriker und Essayisten Carl Maria Weber (1890–1953): „Was ich ursprünglich erzählen wollte, war überhaupt nichts Homo-Erotisches, es war die – grotesk gesehene – Geschichte des Greises Goethe zu jenem kleinen Mädchen in Marienbad, das er mit Zustimmung der streberisch-kupplerischen Mama und gegen das Entsetzen seiner eigenen Familie partout heiraten wollte, diese Geschichte mit allen ihren schauerlich komischen, zu ehrfürchtigem Gelächter stimmenden Situationen (…).“ Der Arbeitstitel lautete: „Goethe in Marienbad“.

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Das „Streberisch-Kupplerische“ taucht Jahrzehnte später wieder auf: Da ist es die Großmutter eines 15-jährigen, die unbedingt will, dass ihr musisch begabter Enkel berühmt wird. Sie meldet den Vollwaisen Björn Andrésen zum Casting für Viscontis schon im Vorfeld heftig diskutierte Verfilmung von „Der Tod in Venedig“ an. Die erste Begegnung zwischen Andrésen und Visconti ist festgehalten: In Kristina Lindströms und Kristian Petris Dokumentarfilm „The Most Beautiful Boy in the World“ (2021) öffnet sich eine Tür. Auftritt Tadzio, wie er vollkommener nicht sein könnte. Der offen schwul lebende Regisseur hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende hoffnungsvoller Knaben begutachtet, die ihm zufolge aber alle „keine Volltreffer“ waren. Er ist sofort hingerissen.
„Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war“, heißt es in Manns Novelle. „Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit“. Trotz dieser „reinsten Vollendung der Form“ war es von „so einmalig persönlichem Reiz“, „dass der Schauende weder in der Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte“. Kein Zweifel, hier handelt es sich um eine Erscheinung, die über den piefigen Dualismus von Kunst und Natur erhaben ist.
Andrésen wird weltberühmt, singt in Japan Liebesschnulzen und wird zur Vorlage für Mangafiguren. Als It-Boy lässt er sich von reichen Männern Wohnungen in Paris finanzieren. Und er wird unglücklich. Ausgesprochen wird es in „The Most Beautiful Boy in the World“ nicht direkt, aber dass sexueller Missbrauch im Spiel war, wird suggeriert. Aus heutiger Sicht macht Visconti wirklich keine gute Figur. In Cannes preist er seine Entdeckung vor der Weltpresse als „schönsten Jungen der Welt“, der aber nun, mit 16 schon „alt“, nicht mehr ganz so schön sei wie während der Dreharbeiten.
Im noch knabenhaften Andrésen erkannte Visconti Tadzio, eben weil sich nicht nur sinnliche Begierde auf ihn projizieren ließ, sondern die Idee des Schönen. Visconti wies seinen Jungschauspieler sogar an, sein Spiel dürfe „nichts Sexuelles“ haben. Kalt wie eine Statue sollte er agieren und Viscontis Anweisungen befolgen: gehen, sich umdrehen, lächeln. Mehr muss Andrésen tatsächlich nicht tun, um zu wirken. Bogarde hingegen äußerte einmal, dass ihn seine Rolle psychisch und physisch an seine Grenzen brachte.

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Da ist er wieder, der Gegensatz, um den auch im Film selbst gerungen wird: Ist Schönheit einfach da, oder kann sie nur durch anstrengende Arbeit erzielt werden? Letzteres behauptet Aschenbach in einer Rückblende. Ein Freund widerspricht ihm wütend: Schönheit existiere unabhängig von der Imagination des Künstlers. Sie entstehe spontan und sei absolut. Wie um diesem Recht zu geben, schneidet Visconti danach auf eine Großaufnahme von Andrésens Gesicht vor blauem Himmel, das Haar vom Wind zerzaust, eine Ikone. Die zu finden – und das ist die Ironie – Visconti durchaus eine Menge Arbeit gekostet hat.
In einem klugen Schachzug und unter Rückgriff auf ein weiteres Werk Thomas Manns, nämlich „Doktor Faustus“, machte der Regisseur aus dem Schriftsteller Aschenbach einen Komponisten. Und gab dadurch der Transformation vom Literarischen ins Filmische eine innere Logik.
Als eine der wahrscheinlich wortkargsten Literaturverfilmungen überhaupt erzählt „Tod in Venedig“ vieles über das Zusammenspiel der Musik mit Pasqualino De Santis’ ruhig hin und her schwenkender Kamera, die immer wieder gleichmütig den Lido ausmisst und über die müßige Gesellschaft schweift. Operettenmelodien („Vilja, oh Vilja, was tust du mir an?“ aus der „Lustigen Witwe“) im Salon des Hotels liebäugeln wieder mit dem Komischen; doch alles bestimmt, alles läuft hinaus auf das schmerzvolle Adagietto der 5. Sinfonie Gustav Mahlers. Schon äußerlich sieht Bogarde Gustav Mahler sehr ähnlich, auch stattet Visconti seinen Aschenbach mit einem wichtigen Detail aus dem Leben des Komponisten aus: dem frühen Tod seiner kleinen Tochter. In Rückblenden sehen wir ein Idyll aus glücklichen Tagen, irgendwo in den Bergen, in das bald ein Kindersarg geschoben wird. Aschenbach ist nicht nur ein Verliebter. Er ist auch ein Trauernder.
So nimmt Visconti außer Tadzio auch dessen Familie oft in den Blick. An sie haftet sich Aschenbach im Laufe seines Aufenthaltes innerlich immer stärker an; die Kamera zoomt immer wieder auf die überirdisch elegante Frau Mama (Silvana Mangano), als wolle sie die Herkunft von Tadzios Schönheit erforschen. Dass Tadzios Schwestern mit ihren leeren Gesichtern wie unheimliche, steife Puppen wirken, ist schon bei Thomas Mann so. Den Kontrast zwischen ihnen und dem lässig-elegant auf den Sesseln fläzenden Tadzio erklärt der Erzähler mit feinem Blick für genderspezifische Erziehung: Ganz gewiss walte hier eine Mutter, die nicht einmal daran denke, „auch auf den Knaben die pädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten schien“. Wohlgemerkt: die „ihr geboten schien“, nicht aber: die geboten war.
Mann, der mit seiner toughen Frau Katia verletzlich kämpferische Charaktere wie Erika und Elisabeth, Golo und Klaus heranzog, sah gesellschaftlich gewünschte Geschlechterstereotype nicht als unumstößliche biologische Wahrheiten an. „Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine Existenz“, schreibt Mann über Tadzio. Sie sind es, die den alternden Künstler berühren an diesem androgynen Wesen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Aschenbach begehrt in Tadzio auch die spielerische Bewegungsfreiheit, die Unbefangenheit und Inspiration, wie sie ihm mit der Jugend verknüpft scheinen. Und wenn er Tadzio beim Balgen und Sandburgenbauen mit anderen beobachtet, ersehnt er vielleicht auch das: Gefährtenschaft.
Viscontis Verfilmung sagt all das mit Farben, Klängen, Gesten und Blicken und ohne es der Lächerlichkeit preiszugeben. Obwohl er die Vorlage stark verändert, löst Visconti Manns Novelle damit gewissermaßen ein: Er gibt der unüberwindlichen, unabdingbaren Einsamkeit des künstlerischen Menschen, seinem Sehnen nicht nach dem Tod, sondern nach dem Leben, das schönste Gesicht der Welt.
Tod in Venedig
von Luchino Visconti
IT/FR 1971, 130 Minuten, FSK 12,
mehrsprachige OF mit deutschen UT
Als DVD und VoD