The Smell of Us
Trailer • DVD / Blu-ray
20 Jahre nach seinem bahnbrechenden Jugenddrama „Kids“ (1995) hat Larry Clark wieder einen Film über heranwachsende Skater, Sex und Gewalt gedreht. Clark zeichnet in „The Smell of Us“ (2014), der bei uns nie im Kino lief und jetzt direkt auf DVD und BluRay erscheint, die Jugend einmal mehr als einen Zustand zwischen Langeweile und Exzess, Unschuld und Verdorbenheit. Anders als sein bisheriges Werk, zu dem auch die Not-Coming-of-Age-Klassiker „Bully“ (2001) und „Ken Park“ (2002) gehören, ist der neue Film aber auch eine Studie über das Begehren alter Männer geworden – und letztlich ein Film über Larry Clark selbst.
Dirty Tony und der Tod
von Toby Ashraf
Ein alter Mann schläft am helllichten Tag auf einem Meer aus Waschbetonplatten. Mit diesem Bild eröffnet Larry Clark seinen Film „The Smell of Us“ (2014). Vielleicht handelt es sich bei den Bodenplatten auch um hochwertigeres Material, denn wir befinden uns in einem Park mitten in Paris, und da ist ja bekanntlich alles etwas schöner, besser und bürgerlicher. Erste junge Skater nutzen den alten Mann als Hindernis, das es mit den Boards zu überspringen gilt. Nach und nach kommen immer mehr Jungs wie aus dem Nichts und üben ihre Flips an dem Mann. Der Alte, ein Penner mit dem Spitznamen „Rockstar“, ist unschwer als Regisseur Larry Clark selbst zu erkennen. Alt ist er geworden, und unansehnlich gefilmt, wenn sein Bauch da aus der dreckigen Hose ragt und er sich mit letzten Kräften in den Schatten robbt.
Mit 70 Jahren hat Larry Clark („Kids“, 1995; „Bully“, 2001; „Ken Park“, 2002) wieder einen Film über Jugendliche, Sex und Gewalt gedreht und dafür erstmals die USA als Drehort verlassen. „The Smell of Us“ ist aber auch ein Film über das Begehren alter Männer geworden und letztlich ein Film über Larry Clark selbst.
Clark war 20 als er im Jahr 1963 mit einer Serie von Fotografien begann, die ihn schlagartig berühmt machen sollte: Das dokumentarische Projekt „Tulsa“ kam 1971 als Fotobuch heraus und war damals eine kleine Sensation. In Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die die Grenzen zwischen Intimität und Voyeurismus neu ausloten sollten und das Private und Autobiografische neu verhandelten, zeigte Larry Clark eine selbstzerstörerische Generation Jugendlicher, der er selbst angehörte. Da stecken sich junge Männer in den Innenräumen in Tulsa, Oklahoma, die Läufe ihrer Revolver in den Mund, posieren benebelt in Unterhosen, haben Sex mit ihren Freundinnen und schießen dabei Heroin. Im Hintergrund ist mal eine schiefe amerikanische Flagge, im Vordergrund mal die zersplitterte Windschutzscheibe eines Autos zu sehen. Im eindrücklichsten Bild setzt sich eine hochschwangere Frau gerade einen Schuss. Wer die Bilder einmal in einem Ausstellungskontext gesehen hat, weiß: nicht immer ist die Grenze zwischen der Empörung über das Ausgestelltsein der Menschen und der Faszination über die Schönheit der Bilder und ihrer Modelle leicht zu ziehen.
Ähnlich wie in den Fotografien von Nan Goldin und anders etwa als im Werk von Tobias Zielony war ein wichtiger Aspekt in der Rezeption von „Tulsa“, dass Larry Clark selbst Teil dieser abgebildeten abgründigen Welt war, dass er dazugehörte. In einem späteren Selbstporträt aus dem Jahre 1973 sieht man ihn mit lockigen Haaren, erhobenen Händen, und einem Gürtel am rechten Oberarm, damit die Nadel leichter in die Vene stechen kann. „Als ich 16 war, habe ich angefangen Amphetamine zu spritzen. Ich habe mit meinen Freunden drei Jahre lang jeden Tag geschossen und dann die Stadt verlassen, bin aber über die Jahre immer wieder zurückgekommen. Wenn die Nadel einmal drinsteckt, geht sie nicht wieder raus“, schreibt Larry Clark als Einleitung zu „Tulsa“.
In „The Smell of Us“ steckt die Nadel einer Tättowier-Maschine in den Venen von Clarks Figur – es ist eine Szene, die einer Vergewaltigung gleicht. „Rockstar“ spuckt Blut, das aussieht wie Rotwein, pisst sich in die Hose. Dieser Film wirkt wie eine Abrechnung des Regisseurs mit seinen eigenen Obsessionen. Eine davon ist es, Jugendliche und ihre Körper beim Absturz zu beobachten, gerade so als hätte die Zeit seit „Tulsa“ stillgestanden. „The Smell of Us“ ist ein filmisches Flirren geworden, in dem Clark seinen ohnehin schon kaputten Kosmos in Versatzstücke zerlegt, die oft keine lineare oder logische Einheit ergeben sollen. Alles wird immer von allen gefilmt – das ist neu –, danach hochgeladen oder allein für das Handyvideo inszeniert. Die Lust der teilweise bürgerlichen Skater am Exzess scheint grenzenlos. Jungs werden zu Escorts, um sich Kokain leisten zu können; sie filmen den Sex ihrer Freunde, das Zerlegen eines Autos; sie lassen sich von alten Männern ficken und betäuben danach den Zustand ihres eigenen Kaputtgehens. Sie heißen Math, Pacman und JP und oszillieren zwischen pubertärem Aufstand und purer Zerstörungswut. Der Umgangston mit der Elterngeneration ist hasserfüllt, die Mutter eine „Fotze“, häusliche Gewalt gehört zum Alltag.
Clarks Blick auf diese allzu bekannten Zutaten einer vermeintlich verlorenen Generation wird von der preisgekrönten Kamerafrau Hélène Louvart („Pina“, 2011; „Beach Rats“, 2017) gefilmt. Immer wieder nähert sich Louvart in nahen Aufnahmen den Unterhosen der Pariser Jungs, fängt ihre schweißnassen Körper und ihre aus den Shorts ragenden Schamhaare ein, aber auch die gierigen Hände und Münder der alten Männer, denen sich die Jungs verkaufen. Dieser Blick auf alte Körper ist nicht eben schmeichelhaft, das zeigt uns bereits der Anfang des Filmes.
Bilder von kindlichen Jungenkörpern scheinen seit den 1960ern das filmische Amphetamin von Larry Clark zu sein. Seine Protagonist*innen sind unschuldig und verdorben zugleich. Die Sehnsucht, Clarks gleichbleibendes Ideenprogramm, exportierte der Regisseur bereits nach New York („Kids“), Visalia in Kalifornia („Ken Park“), verschiedene Ortsteile von Los Angeles („Bully“, und „Wassup Rockers“, 2005) und nun eben nach Paris. Die in „The Smell of Us“ mehrfach wiederholte, symbolische Tötung des alten, dreckigen Manns, der seine Sexarbeiter als „kleine Jungen“ bezeichnet, kommt einer Abrechnung Larry Clarks mit seinen eigenen visuellen Lüsten schon ziemlich nahe. Zwischen Blut und Rotwein kann man bald keinen Unterschied mehr ziehen. In verwüsteten Wohnungen ziehen sich die Freier Scherben aus dem Fleisch und bleiben immer traurige Käufer ihrer Sucht nach Sex mit jungen Körpern.
Die Produktion der Bilder hat im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit und Verbreitung eine Revolution erfahren, die mit der Pornografisierung der Gesellschaft einhergeht. Das hat Larry Clark in einem seiner besten Filme, dem Kurzfilmbeitrag „Impaled“ zur Kunst-Sex-Kompilation „Destricted“ (2006), bereits bewiesen. Dafür castete er junge Männer und Frauen für einen Pornodreh und ließ sie zuvor über Sexpraktiken, Schamhaarrasur und Fetische reden, bevor er das machte, was er sich in „The Smell of Us“ dann doch nicht traut, nämlich expliziten Sex als erzählerisches Mittel im Film zu benutzen. Seine Figur des halbsichtbaren, immer hörbaren alten Mannes hinter der Kamera in „Impaled“ erinnert dabei an das Internetphänomen „Dirty Tony“. Dort verführt ein alter, dicker Mann durch Bezahlung angeblich heterosexuelle Männer zum schwulen Sex und legt gerne selbst mal Hand an. Als Dirty Tony liegt Larry Clark hier nun selbst auf der Straße und hat als alter Mann ausgedieht, scheint er uns erzählen zu wollen.
Die Schnipsel des konstant gefilmten und ständig verbreiteten sexuellen Abenteuers lässt er als Regisseur hier bewusst entgleiten (montiert wurde der Film on Olivier Assayas‘ Stamm-Cutterin Marion Monnier), denn seine Figuren übernehmen die Regie ihres Niedergangs zu großem Teilen selbst, filmen sich und ihre Opfer, bevor sie ihre eigene Opferrolle erkennen. Sex ist hier Arbeit, schwule Zärtlichkeit die Ausnahme, das Draufhalten ist zum Hobby geworden. Alles ist irgendwie Porno, alles ist aber irgendwie auch egal. „Sex ist nur eine andere Form der Kommunikation“, fasst es die Hauptdarstellerin in Clarks Film „Marfa Girl“ (2012), dessen Fortsetzung er gerade fertiggestellt hat. In „The Smell of Us“ ist Sex nur eine andere Form des Zeitvertreibs für eine Jugend, der sich der Darsteller Larry Clark hier als Fremdkörper entgegenstellt.
„The Smell of Us“ ist Larry Clarks postmodernster Film, vielleicht auch sein mutigster, persönlichster und selbst-reflexivster. Er ist wie die Nadel, die, wenn sie einmal drinsteckt, nicht mehr rausgeht. Diese Einsicht wiederholt sich im Abspann, in dem wir ein schmerzliches Bob-Dylan-Cover hören. Die Sänger sind Clark-Darsteller Jonathan Velasquez und Larry Clark selbst. Der Titel des Liedes: „Forever Young“.
The Smell of Us
von Larry Clark
FR 2014, 98 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT,
Capelight Pictures