The Delta

 Trailer • DVD / VoD

„The Delta“, der Debütspielfilm von Ira Sachs („Keep the Lights On“), ist ein aufregendes und zu Unrecht lange ignoriertes Meisterwerk der queeren Filmgeschichte. 1996 war die erste Welle des New Queer Cinema mit ihren verstörenden und experimentellen Aids-Reaktions-Filmen verebbt und es gab eine Tendenz zum braven, lustigen, gesund aussehenden Mittelklasse-Kino. Dem gegenüber nahm sich diese schwule Fieberphantasie, in der ein armer kleiner reicher weißer Junge aus einer Südstaatenfamilie sich mit einem afroasiatischen Stricher auf eine Bootsfahrt begibt, als zu sperrig und infektiös aus – und wurde daraufhin in Quarantäne versetzt. B. Ruby Rich, die Erfinderin des New-Queer-Cinema-Begriffs, ist darüber bis heute sehr enttäuscht – für sie gehört „The Delta“ auf die ewigen Top-10-Liste der queeren Filme.

Foto: Edition Salzgeber

Am südlichsten Ort der Welt

Von Nikolaus Perneczky

Ira Sachs ist in der Stadt Memphis im Südwesten des amerikanischen Bundesstaats Tennessee geboren und aufgewachsen, am Scheitelpunkt des Mississippi-Deltas, das im Volksmund den superlativischen Beinamen des „Most Southern Place on Earth“ trägt. Als südlichster Punkt zumal der amerikanischen Welt gilt das Delta in Gedenken an seine tiefe Verstrickung in den historischen Schuldzusammenhang der Sklaverei – die fruchtbare Region bot ideale Bedingungen für den Plantagenbetrieb – und aufgrund des musikalischen Erbes dieser history of violence, die im Blues ästhetisch gebannt und erlöst wurde. Seinem feucht-brütenden Klima mögen einst Kernbestände der amerikanischen Populärkultur entsprungen sein, das „Delta“ bezeichnet dennoch keine Flussmündung im eigentlichen Wortsinn, keinen Anfangs- oder Endpunkt, sondern eine zwischen zwei Flüssen, dem Mississippi und dem Yazoo, aufgespannte Fläche der regelmäßigen Überflutungen. Der dabei entstehende „Alluvialboden“ ist ein geologisches Affektbild: lose, unkonsolidierte Sedimente, die vom Wasser erodiert, umgeformt und vorübergehend wieder abgelagert werden; das weinende Gesicht des amerikanischen Südens.

In „Forty Shades“, Sachs’s zweiten Spielfilm, spielt Rip Torn eine Figur, die in vielem Sachs’ Vater nachempfunden ist (von diesem handelt auch der dokumentarische Porträtvideofilm „Get It While You Can“ von 2002). Die Handlung in einem Satz: Der alternde Musikproduzent Alan James, mit seiner jungen russischen Lebensgefährtin Laura in Memphis wohnhaft, bekommt Besuch von seinem Sohn Michael, seines Zeichens College-Professor für unglückliches Bewusstsein, der sich prompt in Laura verschaut. Wenn Sachs das Kunststück gelingt, aus so abgestandenen Prämissen einen starken, stellenweise fantastischen Film zu entwickeln, dann ist das zu einem guten Teil jenen eher wortkargen Szenen zu verdanken, deren ganze Empathie und formale Affinität der von Dina Korzun gespielten Laura gelten. Für eine Weile wähnt man den zurückgekehrten Sohn am Steuer, aber sobald er sich als dem Ereignis der Liebe nicht gewachsen herausstellt, wird er (mitsamt seinem Vater) kurzerhand aus dem ursprünglichen ödipalen Dreieck herausgestrichen: Sollen Würdigere, Mutigere – wie die veritable Cassavetes-Figur der Exilantin Laura – ihr Leben und ihre Liebe an die Heterotopie des Delta geben.

Musste Sachs die psychogeologische „Urszene“ des Delta erst hinlänglich durcharbeiten, bevor er sich anderen Orten, anderen Geschichten zuwenden konnte? Dem auf „Forty Shades“ folgenden Film jedenfalls ist das Bemühen, sich vom angestammten Terrain zu entfernen, in jeder Einstellung anzusehen. Aber die Richtung der Fluchtbewegung war noch unentschieden: „Married Life“ (2007) ist eine unglaublich öde und sinnfreie Fingerübung im Ostküstengenre der comedy of manners geworden; ein zivilisationskritisch gemeintes, dabei furchtbar braves period picture, das die Welt zu einer paradoxen, weil seltsam fantasielosen 40er-Jahre-Ausstattungsfantasie verengt. Erst vorletztes Jahr, mit dem schon erwähnten „Keep The Lights On“, ist Sachs (um im psychoanalytischen Bild zu bleiben) der „Durchbruch“ geglückt. Der in seiner New Yorker Wahlheimat unter Filmemachern und Intellektuellen angesiedelte Beziehungsfilm ist eine unebene, aber elektrisierende Angelegenheit: Wer sich der ansteckenden Amour-fou im eruptiven Zentrum von „Keep The Lights On“ zu entziehen vermag, der werfe den ersten Stein.

Foto: Edition Salzgeber

Dem Umstand, dass das Begehren in „Keep The Lights On“ zum ersten Mal seit „The Delta“ wieder offen schwul ist, müsste man weiter keine Beachtung schenken. Aber wer gesehen hat, wie suggestiv sich der gestohlene Blowjob am fiebrigen Anfang von „The Delta“ in die Landschaften und Atmosphären des titelgebenden Schwemmgebiets insinuiert, der begreift sofort, weshalb Ira Sachs schwule Subjektivität immer von einem präzise bestimmten Herkunftsort aus denkt und in seinen Filmen wirksam werden lässt. Immer wieder hat Sachs in Interviews die Psychoanalyse verteidigt, meist gegen antipsychologische Beißreflexe der Filmkritik. Was den psychoanalytischen Einschlag seiner Filme, der offensichtlich auch auf das Sprechen und Schreiben über sie abfärbt, erträglich macht: dass die Kernfamilie immer über sich hinaus weist, auf andere Formen von Vergemeinschaftung einerseits, aber eben immer auch auf das Entgrenzungspotenzial affektiver Raumerfahrungen – vom Cruising über die Bootsfahrt bis zum Drogentrip. Solche Raumerfahrungen (und nicht primär familiäre Bande) sind es, so könnte man Sachs’ Position autorenpolitisch akzentuieren, die uns zurück an die Orte unserer Jugend und Kindheit führen; zurück an ein früheres, nicht vollständig sedimentiertes Ich, noch vom Wasser formbar. (Weil Erik Rothman, der Protagonist von „Keep The Lights On“, gebürtiger Schwede ist, zieht es ihn nicht ans Wasser, sondern in den Wald.)

Nirgends tritt Sachs’ Interesse an der Affektivität des Umweltlichen stärker in den Vordergrund als in jenem ersten Film über die ersten Erfahrungen, der darum auch so heißt, wie die Umwelt, worin er spielt: „The Delta“. Nirgends auch in Sachs’ späterem Schaffen sollten sich die psychoanalytischen Motive so penetrant zu erkennen geben wie hier. Die Hingabe an Stimmungen und Atmosphären (Zikaden, Schweiß, vom Wasser animierte Lichtreflexe) ebenso wie die erzählerischen Einsätze (Coming-of-Age, Coming-out, Klassenverhältnisse); das Überwältigende ebenso wie das Ausgeklügelte; die sehr nahen Close-ups ebenso wie die fließenden Totalen; sie alle liegen auf so entwaffnende Weise offen, dass man dem Film nolens volens verfällt, auch und gerade in den gar nicht wenigen Momenten, wo man ihn doch eigentlich scheiße finden wollte.

Foto: Edition Salzgeber

Zum Beispiel die Szene im Hotelzimmer, wo Lincoln Bloom, der adoleszente Held mit dem beziehungsreich-sprechenden Namen, sich mit einem wesentlich älteren Fremden zum Zweck einer Intimität verabredet hat, von der Lincoln selbst noch nicht genau weiß, welche Formen sie eines Tages annehmen wird. Wie sich die beiden Männer in dem schmucklosen Hotelzimmer verfehlen, zeigt Sachs in etwas angestrengten Dekadrierungen, die dem Missverständnis aufliegen, Entfremdung habe im Kino immer so auszusehen wie bei Antonioni. Denkt man und ärgert sich über die überspannten Erstlingsambitionen. Aber dann macht Lincoln auf dem Absatz kehrt, zieht sich wieder an und verlässt unverrichteter Dinge den Raum, der jetzt wieder ein stinknormales Hotelzimmer ist und kein modernes Einschließungsmilieu mehr.

Je nach erzählerischem Erfordernis verwandelt sich „The Delta“ in einen geduldig beobachtenden Dokumentarfilm, in eine bukolische Elegie, in ein sozialrealistisches Melodram, in eine ödipale Rachefantasie oder in einen Festivalfilm avant la lettre, der aus Gründen, die den erzählerischen Erfordernissen gerade äußerlich bleiben, in zwei ungleiche, deutlich demarkierte Hälften zerfällt. Der junge Lincoln gibt (wie auch der unglückliche Sohn in „Forty Shades“) irgendwann die Staffel ab an den Vietnamesen Minh, mit dem er eine kurze und weniger heftige als melancholische Affäre hatte, worauf der Film urplötzlich und völlig unvermittelt noch einmal ganz neue Perspektiven und Vektoren auf diesen südlichsten Ort der Welt eröffnet, der gerade noch wie Amerika aussah, der im nächsten Moment aber auch in Vietnam liegen kann. Alle diese Verwandlungen vollziehen sich ohne das geringste Aufsehen, als denkbar unauffälliger Pluralismus bzw. Eklektizismus der Form, wie er vielleicht nur hier im ständig überfluteten Einzugsgebiet des Mississippi-Delta gedeihen kann, wo Gestalt die Ausnahme ist und Erosion die Regel.




The Delta
von Ira Sachs
US 1996, 85 Minuten, FSK 16
englische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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