Simon Raven: Almosen fürs Vergessen – Fielding Gray

Buch

Die Romanreihe „Almosen fürs Vergessen“ von Simon Raven erscheint erstmals in deutscher Übersetzung. Die zehn Bände umspannen die Jahre 1945 bis 1973. Miteinander verwoben sind sie durch die Mitglieder einer Gruppe privilegierter Internatsschüler, die im ersten Band „Fielding Gray“ in  Schaltstellen der britischen Gesellschaft aufzurücken versuchen. Der strebsame Titelheld Fielding Gray verliebt sich vor Antritt seines letzten Schuljahres in den unschuldigen blonden Christopher. Eine Tragödie bahnt sich an – und Fieldings strahlende Zukunft gerät ins Wanken. Unser Autor Tilman Krause empfand die elegant-lakonische Erzählweise Ravens als very british.

Das Unglück des begabten Kindes

von Tilman Krause

Was wird man wohl für Bücher kriegen von einem Autor, der von sich sagt, er schreibe „für einen kleinen Kreis von Leuten, die sind wie ich: gebildet, weltgewandt, skeptisch und snobistisch“? Nun ja, mit einiger Sicherheit keine Herz-Schmerz-Geschichten, eher schon die messerscharfe Analyse von Gefühlen. Und so ist es auch. Simon Raven (1927 bis 2001) beziehungsweise die Ausgrabung seines zehnbändigen Romanzyklus’ „Almosen gegen das Vergessen“, mit dem der Elfenbein-Verlag an seinen großen Erfolg mit dem vielbändigen Romanwerk von Anthony Powell anzuknüpfen versucht, kommt schonungsloser daher als alles, was wir sonst so an englischen Gesellschaftspanoramen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen. Und auch die sentimentalen Rückblicke in unschuldige Schulzeiten, wie wir sie beispielsweise in Evelyn Waughs Klassiker „Wiedersehen mit Brideshead“ erleben, lässt der Roman „Fielding Gray“ von Simon Raven, ebenfalls eine Collegegeschichte, weit hinter sich. Denn hier kommt keine Rührseligkeit auf, hier wird Tacheles geredet.

Auch ist hier niemand unschuldig. Allenfalls der hübsche Christopher, in den sich der Titelheld Fielding im vorletzten Schuljahr verliebt. Doch Christopher muss sterben. Er nimmt sich, so viel darf man vielleicht schon verraten, aus Liebeskummer, 18 Jahre jung, das Leben. Alle anderen aus der Clique um den charismatischen Fielding geht es hingegen in allererster Linie um Macht. Zielstrebig bereiten sie im „ersten Friedenssommer“, also kurz nachdem ihr Land dem Zweiten Weltkrieg entronnen ist, ihre Karrieren vor. Sie streben beharrlich die vielen Ämter an, die es in dem streng hierarchisch strukturierten Internat gibt, wollen Kapitäne der Cricketmannschaften werden oder Sprecher der einzelnen Häuser, in denen die Schüler untergebracht sind. An diesem Leben, das sich um Posten und Pöstchen dreht, hat sich durch den Weltenbrand nichts geändert. Von einem Umdenken in der „Stunde Null“ konnte anscheinend auch im Vereinigten Königreich nicht die Rede sein. Vielmehr blieb die englische Gesellschaft, die sich ja im Mikrokosmos College spiegelt, wie sie war seit eh und je.

Apropos Macht: Immerhin geht es dem Draufgänger Fielding Gray, der hier als Ich-Erzähler seine eigenen Erlebnisse zum Besten gibt, um die Macht der Gefühle. Dieser kleine Adept des großen Oscar Wilde, mit dessen Romanhelden Dorian Gray er sich ganz ausdrücklich identifiziert, will nämlich verführen, er will seine erotische Wirkung auf andere spüren, erproben, ausagieren. Die Objekte seiner Begierde dürfen durchaus auch weiblich sein, aber umständehalber (er lebt ja auf dem College in einer reinen Männergesellschaft) begnügt er sich zunächst einmal mit Jungs, besser gesagt mit einem von ihnen, eben besagtem Christopher.

Begünstigt wird die Affäre, die eindeutig im Mittelpunkt des hier berichteten Geschehens steht, durch die vom Autor herrlich lakonisch auf den Punkt gebrachte Doppelmoral, die in Fieldings und Christophers Internat herrscht. Seit Urzeiten kennt man an diesen Instituten natürlich Homosexualität und duldet sie auch, immer vorausgesetzt, die Betreffenden wahren den platonischen Schein und lassen sich nicht irgendwo in flagranti erwischen. Genauso wie der gestrenge Schulleiter dem Heißsporn Fielding, der zu seinen Lieblingsschülern gehört, klipp und klar zu verstehen gibt: „Wir erwarten nicht von Ihnen, dass sie an die christliche Ethik glauben, aber wir müssen darauf bestehen, dass Sie sich auf unserem Grund und Boden daran halten.“

Christliche Ethik ist allerdings nichts für Fielding, weder gedanklich noch praktisch. Sein Ziel: weniger das gottgefällige als das angenehme Leben, wie er es nicht nur bei Oscar Wilde, sondern auch bei seinem lateinischen Lieblingsdichter Catull als Ideal ausgebildet findet – Fielding will später mal ein berühmter Altphilologe werden. Das erfahren wir gleich auf den ersten Seiten, wenn Fielding und seine Kumpels sich darüber austauschen, was sie nach der Schule einmal machen wollen. Aber zunächst einmal will er, wie gesagt, den hübschen, wenngleich ein wenig unbedarften, Christopher vernaschen, der allerdings im Lateinunterricht weniger glänzt als beim Sport.

Die Betonung liegt auf vernaschen, denn richtig verliebt ist Fielding eigentlich nicht in die Cricketkanone, nur ins Bett will er halt mit ihr. Und als das nach gar nicht mal so langem Hin und Her auch ganz klassisch in einer etwas abgelegenen Scheune, die auch zum großen Areal des Internats gehört, gelingt, verliert der abgebrühte Fielding auch schon das Interesse, während der arme Christopher, wie bereits angedeutet, im Gegenteil jetzt erst emotional so richtig in Fahrt kommt. Das Drama des hübschen, körperlich wohlbeschaffenen Schwulen, mit dem man nur Sex haben will, für den man jedoch keine Liebe empfindet: Selten hat man es so erbarmungslos vorgeführt bekommen wie hier.

Aber eigentlich geht es in diesem elegant erzählten und sich in jeglicher Hinsicht very british präsentierenden Buch ja um Fielding Gray. Der zieht sich als Protagonist durch den gesamten Zyklus und wird dem geneigten Leser bereits in der nächsten Lieferung der Serie, die der Verlag für Oktober angekündigt hat, wiederbegegnen – „Die Säbelschwadron“ wird der Roman heißen. Er beleuchtet die nächste Lebensstation von Fielding, denn der beginnt keineswegs die ursprünglich angestrebte Unikarriere, sondern bleibt beim Militär hängen. Er hat es mit dem „angenehmen Leben“ offenbar in mancherlei Hinsicht übertrieben. Schon der Roman „Fielding Gray“ ist 25 Jahre nach den Collegegeschehnissen aus der Rückschau erzählt, die der Ich-Erzähler an einem gottverlassenen Stützpunkt der britischen Armee auf einer griechischen Insel hält. Er nennt sie ausdrücklich eine Geschichte von „Verheißung und Verrat“.

Und hier schleichen sich nun doch Melancholie, ja Wehmut in die upper-stiff-Haltung des Autors ein, denn was im „ersten Friedenssommer“ so verheißungsvoll beginnt, Fieldings Leben, das sexuell, intellektuell, beruflich zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, scheint später völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein. Womit, wodurch, das werden wir wohl peu à peu in den Folgeromanen erfahren, denn da muss ja mehr passiert sein, als dass gebrochene Jungenherzen den Weg des ambivalenten Fielding pflasterten. Aber so, wie wir ihn jetzt kennengelernt haben, können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass in diesem Romanzyklus vom „Unglück des begabten Kindes“ erzählt werden soll, also vom Lebensweg eines Menschen, auf den die Götter das Füllhorn ihrer Gunst ausgeschüttet hatten, die der ursprünglich Begünstigte dann jedoch verspielte. Auch Selbstbestrafung scheint ein Thema zu sein. Das verspricht eine aufregende Vita, und das amuse gueule, das wir mit dem vorliegenden Buch haben, macht uns den Mund wässrig in der gespannten Erwartung auf das, was da noch kommen mag.




Almosen fürs Vergessen – Fielding Gray
von Simon Raven
Aus dem Englischen von Sabine Franke
Gebunden, 264 Seiten, 22 €,
Elfenbein Verlag

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