Seashore

Trailer • DVD

Brasilien im Winter. Die Freunde Tomaz und Martin reisen in die Küstenstadt Porto Alegre, um dort Papiere für eine Familienerbschaft zu besorgen. Man merkt sofort: Die beiden kennen sich schon lange, haben eine besondere Vertrautheit, aber sind mittlerweile irgendwie voneinander entfremdet… In ihrem wunderbaren Debütfilm „Seashore“, der soeben auf DVD erschienen ist, erzählen Marcio Reolon und Filipe Matzembacher vor einer sinnlich-spröden Strandkulisse und mit wenigen Dialogen von einer Reise, die zu einer allmählichen Wiederannäherung wird. Ihr Road Movie gerät durch seine authentisch agierenden Darsteller und einen bemerkenswerten Sinn für kleine Geste, Blicke und das Nicht-Ausgesprochene in natürliche Schwingung – und durch das politische Engagement, das ihm zu Grunde liegt.

Foto: Pro-Fun

Take Me Back to the Place That I Know

von Toby Ashraf

Es ist kalt und ungemütlich in Porto Alegre, jener weiten Küstenstadt im Süden Brasiliens, nahe der Grenze zu Uruguay. Der örtliche Strand Capão da Canoa, an dem die beiden Filmemacher Marcio Reolon und Felipe Matzembacher als junge Erwachsene viel Zeit miteinander verbracht haben, lädt nicht zum Schwimmen ein und könnte in all seiner atlantischen Schroffheit nicht weiter entfernt sein von unseren Vorstellungen eines sonnigen Copacabana-Landes. Kein Samba, keine Salsa, keine heißblütigen, südamerikanischen Männerbilder bekommt das Publikum in „Seashore“, dem Langfilmdebüt von Reolon und Matzembacher zu sehen, sondern ganz bewusst ein anderes Brasilien und viel wichtiger: ein Stück gemeinsame Biografie, verpackt in einem zärtlichen filmischen Gedicht über zwei junge Männer, die noch nicht wissen, dass sie sich vielleicht gesucht haben.

Marcio Reolon und Felipe Matzembacher sind queere Aktivisten und haben in „Seashore“ bewusst ein anderes Bild ihres Herkunftslandes gezeichnet als man vielleicht hätte erwarten können. Das sagt Reolon mehrfach und in klaren Worten 2015 so dem Publikum der Berlinale, wo der Film gleich in zwei Sektionen (Forum und Generation) seine Weltpremiere feierte. Aktivisten sind die beiden Filmemacher schon allein deshalb, weil sie in Porto Alegre mit „CLOSE“ und “ Dialogo do cinema“ queere Filmfestivals, bzw. Events veranstalten und es ihnen eben nicht darum geht in Rio oder São Paulo den Mangel an queerer Kultur hinter sich zu lassen, sondern etwas anderes dort aufzubauen, wo sie selbst großgeworden sind – für Menschen wie sie.

„Seashore“ ist eine sehr persönliche Geschichte und zudem ein Projekt, an dem Reolon und Matzembacher viele Jahre, mit viel Herzblut und einer Gemeinschaft von enthusiastischen Mitstreiter_innen gearbeitet haben. Kein großes Budget, keine professionellen Schauspieler, kein Interesse sich beim Erzählen dieser sehr fragilen Geschichte an kommerziellen Maßstäben zu orientieren. Musikalische Untermalung – und das passt zum ruhigen Ton des Films, zu seinen oft wortkargen Figuren und zu den kargen, beinahe unwirtlichen Landschaften – bleibt fast vollkommen aus. Nur zu Beginn, als die Reise von Martin und Tomaz beginnt, schallt „My Life Is Starting Over Again“ bedeutungsvoll aus dem Lautsprecher des Autoradios. Zuvor haben sich die beiden Jungen in einer wunderbar konspirativ anmutenden Einstellung des Films in einer Tiefgarage getroffen um gemeinsam mit Freund_innen im leeren Strandhaus der Eltern nicht viel zu machen, aber viel über sich zu entdecken.

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Immer wieder erzählt sich der Film und damit auch das vorsichtige Herantasten von Martin und Tomaz über seine Orte, die fast ausnahmslos verlassen wirken, geradeso als wollten sie den beiden Figuren eine Bühne für ihr Kennenlernen bereitstellen: ob es jetzt der nächtliche Platz vor dem Club ist, in den die beiden nicht reingelassen werden, das große Feld hinter dem Haus als Erinnerungsort oder eben der Strand Capão da Canoa; die größere Gesellschaft scheint unsichtbar oder zurückgezogen, sodass man sich einander Gesellschaft leistet oder Freund_innen für Partys ins Haus einlädt.

Das Alltägliche, aber nicht das Banale dominiert: kleine Gesten, kleine Blicke, kurze Stationen im Haus des unsichtbaren Vaters, Computerspiele und ein verschwommen gezeigter nackter Körper, der gerade aus der Dusche kommt; die Kamera von João Gabriel de Queiroz gibt sich große Mühe durch einen Wechsel von beiläufig erscheinenden und dann wieder deutlich gesetzten Bildern eine dokumentarische Grundhaltung aufzubauen, die das Wichtige nicht aus den Augen verliert, aber oft genug den Fokus bewusst anders zu setzen weiß.

Dadurch behält der gesamte Film bis zu seinem sinnlichen Finale eine Spannung, die aus dem Nicht-Gezeigten, nicht Ausgesprochenen und (noch) nicht Gemachten, wohl aber auch aus seiner Unschuld resultiert: Guckt man, wie die Kamera, so lange in die leicht melancholischen, vor allem aber ausgesprochen jungen Gesichter der beiden Hauptdarsteller Mateus Almada und Maurício Barcellos baut sich unweigerlich eine Sehnsucht auf nach dieser Zeit zwischen Kindheit und erwachsen werden müssen. Da werden als Mutprobe die Haare blau gefärbt, der Babyspeck im Gesicht verzeiht noch viele durchzechte Nächte, die Zigaretten schmecken noch nach Rebellion und eine Autofahrt in eine kalte, ungemütliche Küstenregion verheißt noch Abenteuer und Aufbruch.

Foto: Pro-Fun

Marcio Reolon und Felipe Matzembacher haben viel und lange mit ihren Hauptdarstellern geprobt um diese Unschuld und diese Natürlichkeit im Spiel zu erreichen. Die Gratwanderung zwischen coolen Halbstarken und verletzlichen Jungs, die sich ja doch für die Dauer eines Filmes mehr umschwirren, als dass sie nur miteinander abhängen würden, gibt „Seashore“ das, was man als authentische Grundstimmung bezeichnen könnte. Das Homosoziale und das Homoerotische liegen immer zum Greifen nah beieinander. Und so sehr dieser Film den Machern gehört, sind doch auch Mateus Almada und Maurício Barcellos Teil einer Aktivistengruppe geworden und stehen in Berlin – einer von ihnen definiert sich als schwul, der andere nicht – ebenso selbstbewusst und beinahe kämpferisch vor Hunderten von Jugendlichen und Erwachsenen auf der Bühne und sprechen über die oft unausgesprochene Homophobie in Brasilien. Darüber, dass ihr Film ein politisches Projekt ist und jungen Brasilianern helfen soll, ihre Angst vor einem Coming-out zu überwinden, dass sie für die Sache kämpfen wollen und ein Zeichen setzen für eine selbstbestimmte Sexualität.

Foto: Pro-Fun

Auf Facebook posen die vier gutgelaunt wie beste Freunde zusammen auf Bildern und werben für ihren Film, legen sich ins Zeug jeden Presseartikel und jedes Bild zu verlinken und hochzuladen und die Früchte ihrer Arbeit gedeihen zu sehen. Es ist eine beneidenswerte Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Film bewerben und ihren Aktivismus vorantreiben. Als von einem älteren Mann schließlich die Frage gestellt wird, ob sie schwul geworden seien, weil es in Porto Alegre keine attraktiven Frauen gebe, ergreift Marcio Reolon seelenruhig das Mikrophon und setzt zu einem kleinen Vortrag über die Bedeutung nicht-normativer Sexualitäten an. Es scheint, als gäbe es noch viele Vorurteile auszuräumen – ob sie nun Länder wie Brasilien oder Männer wie ihn betreffen; doch wer so viel Klarheit und Ruhe besitzt – im filmischen Erzählen wie im Führen eines gesellschaftlichen Diskurses – hat schon viel bewiesen und viel erreicht. Und wer weiß, vielleicht ist der Strand Capão da Canoa  doch gar nicht so ungemütlich wie es scheint, lädt das Meer doch zum Schwimmen ein am Ende eines Filmes, in dem trotz weniger Worte sehr viel passiert ist.




Seashore
von Filipe Matzembacher & Marcio Reolon
BR 2015, 83 Minuten, FSK 12,
portugiesische OF mit deutschen UT,
Pro-Fun

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