Kate Davies: Love Addict
Buch
Die 26-jährige Londonerin Julia geht einem monotonen Bürojob nach und hat schlechten Sex mit Männern. Bis sie zum ersten Mal mit einer Frau schläft und die Künstlerin Sam kennenlernt, die sie in die Welt der Sexclubs einführt. Julia ist überwältig, doch ihrer Liebe zu Sam stehen einige Hindernisse im Weg. Stefan Hochgesand hat Kate Davies‘ Debütroman für uns gelesen – ein Buch mit groteskem Figurenarsenal und lebensverändernden Orgasmen.
Im Einklang mit sich selbst
Ja, Julia, die Ich-Erzählerin des tragikomischen Romans „Love Addict“ von Kate Davies, hat eine ganze Menge Sex in diesem unterhaltsamen Pageturner von prallen 512 Seiten. Und Julia beschreibt ihn minutiös, ach was, sekundiös. Dennoch wäre es unfair, ja falsch, „Love Addict“ primär als Buch über lesbischen Sex oder gar als Porno zu lesen. Denn so ist es nicht.
Tatsächlich erleben wir Julia, 26, nicht ego-isoliert als eindimensionale Figur, die allein über ihr lesbisches Begehren charakterisiert wird. Davies lässt uns Julia als Mensch mit diversen Facetten kennenlernen, die sowohl ihre Gegenwart als auch ihre Vergangenheit betreffen: Sie war einst Tänzerin, doch musste sie einer Fußverletzung wegen ihren Traum von einer Profikarriere an den Nagel hängen. Nun zeitarbeitet sie im Londoner Gesundheitsministerium, genauer gesagt in der dortigen Kommunikationsabteilung, wo sie diplomatische Post beantwortet, hauptsächlich Beschwerden übers englische Gesundheitswesen. Auf diese Weise hat Julia qua Beruf einen „Brieffreund“ gewonnen, einen verwitweten Weltkriegsveteran über 90, der Julia an ihren verstorbenen Opa erinnert. Im Office herrschen Neid und Existenzängste ob der neuesten Sparpläne. Julias Eltern wiederum hausen gediegen im akademischen Oxford: Der Papa, ein Literatur-Dozent, versucht sich an einem eigenen YouTube-Channel und hat immerhin schon zwei Fans; die Mutter kommentiert am liebsten besserwisserisch die nervtötende Baustelle der Nachbarn. Vor allem gibt es in Julias Leben noch Alice, ihre beste Freundin und WG-Genossin, die sich bei Liebeskummer am liebsten Chips und eine Flasche Rotwein genehmigt.
Stoff und Settings genug also für allerlei Situationskomik und groteske Alltagsbeobachtungen. Dabei ist es eine Qualität des Texts, dass das Lachen einem immer wieder auch halbwegs im Halse steckenbleibt – etwa wenn Julia eingangs (wohlgemerkt nach drei Jahren vollkommener Abstinenz) so richtig schlechten Heterosex mit Finn hat, einem Typen, der erst mal kratzig schön knutscht, bei dem sich dann aber in seiner winzigen, spinnennetzbehangenen Wohnung herausstellt, dass er von Sex als Paarspaß anscheinend noch nie was gehört hat: Nachdem Finn keinen mehr hochbekommt, womöglich wegen seines Alkoholpegels, beschimpft er Julia und ihre Blowjobskills dafür, seinen Schwanz „kaputtgemacht“ zu haben.
Julia hat verständlicherweise erst mal keinen Bock mehr auf Männer. Zum Glück lernt sie auf einer Party die lesbische Künstlerin Jane kennen, die einige Erfolge mit sogenannten „Fotzenbildern“ hat. Eigentlich ein etwas konstruiert wirkender Plot-Turn – aber nehmen wir das der Autorin Kate Davies einfach mal ab. Schließlich ist sie selber lesbisch. Auch Oxford kennt sie gut, da sie an der University of Oxford studiert hat. Und Tänzerin war sie, wie Julia, ebenfalls, wenn auch in der Sparte Burlesque.
Mit Jane hat Julia einen lifechanging One-Night-Stand-Orgasmus, und bald lernt sie Sam kennen – die eigentliche zweite Hauptfigur des Romans. Psychologisch nimmt der Roman Fahrt auf, gerade während Davies das Erzähltempo und die Gag-Frequenz drosselt. Waren die ersten hundert Seiten zum Schmunzeln, Unter-den-Tisch-Lachen und Wegschmökern, kriegen wir nun eine Liebesgeschichte serviert, allerdings keine astreine, sondern eine, wie sich herausstellen soll, ast-, stamm- und überhaupt hindernisreiche.
Es gibt nach wie vor zu wenig lesbische Sichtbarkeit in der Mainstream-Populärkultur. Regisseurin und Drehbuchautorin Clea DuVall hat uns allerdings letztes Jahr in „Happiest Saison“ etwas wirklich witzig Lesbisches gegönnt, gemacht fürs größere Publikum, bei allem Schabernack empathisch und klug. Während „Happiest Season“ indes auch eine Art Coming-Out-Katastrophe herbeibeschwört, ist „Love Addict“ von anderem Zuschnitt: Mit dem Coming-Out von Julia hat höchstens der Papa ein inneres Hühnchen zu rupfen, der Sam, die hosen-und sakkotragende Butch, dann auch beim Kennenlern-Dinner in Oxford annähernd ignoriert. Mama hingegen kumpelt direkt mit Sam. Julias Kolleg*innen und natürlich auch ihre queere Swingtanzgruppe sind alle sofort cool mit Julias „neuem“ Lesbischsein.
Julia selbst findet es hingegen höchst aufregend, eine ganz neue Welt öffnet sich ihr, zumal in SM-Fetisch-Kellern mit Sam, zu dritt und auch in der Gang. Aber da tun sich dann auch die großen Probleme auf, von denen der Roman in erster Linie erzählt: Vertrauen, Kontrolle, Eifersucht bis zur (Selbst-)Zerstörung. Hier hört der Roman immer wieder auf, Komödie zu sein, und versucht sich in ernsteren Psychogefilden.
„Love Addict“ ist vermutlich nicht der große lesbische Liebesroman des Jahres. Aber es ist ein gutes Buch, etwa für die Feierabendcouch. Es liest sich, trotz des reichen, grotesken Figurenarsenals, nicht wie ein halber Zauberberg, sondern eher wie die Staffel einer Streaming-Serie weg. Letztlich bleibt das mit Julia erworbene Wissen, dass Pride nicht damit aufhört, selbstbewusst zu sagen, dass man homo ist – sondern dass man immer darauf achten muss, mit sich selbst im Einklang zu sein.
Love Addict
von Kate Davies
Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung
Gebunden, 512 Seiten, 23,00 €
S. FISCHER