Jungs vom Lande
Trailer • DVD/VoD
Leere Dörfer, vertrödelte Nachmittage und die Fantasie, ganz woanders zu sein. Mit präzisem Blick und tief atmosphärischen Bildern zeigt Gaël Lépingle in „Jungs vom Lande“ queeres Leben abseits der großen Metropolen als eine sommerschwüle Mischung aus wilden Wünschen und romantischen Abenteuern: Youcef arbeitet in einem Nachtclub, in dem eigentlich nie etwas passiert. Als eines Abends eine queere Performancetruppe in der Kleinstadt Halt macht, ist er schockverliebt. Ein junger Mann läuft mit hohen Absätzen durch das Dorf, das er eigentlich für immer verlassen will. Und auf einem abgelegenen Hof hat sich Jonas mit einem Unbekannten verabredet, um mit ihm erotische Fotos in historischer Maskerade zu machen. Andreas Wilink über einen fein beobachtenden Film der peripheren Begegnungen und großen Sehnüchte, den es jetzt als DVD und VoD geht.

Foto: Salzgeber
Der Traum von einem anderen Leben
von Andreas Wilink
Zylinderhut, Federboa und Fächer in rosa- und orangeroten Farben. Huch, das würde man nicht als erstes verbinden mit „Jungs vom Lande“ – und von der Provinz kaum so erwarten. Dann folgt jemand im Pink-Shirt, der sich mit Ohrgehänge schmückt. Der nächste schlenkert mit dem Handtäschchen, der vierte trägt Nasenring, ein weiterer im transparenten Oberteil hat Blondhaar wie für eine Filmrolle bei Luc Besson und der letzte hat sich mit schwarzem Leder gepolstert. Noch ist der Vorspann nicht zu Ende, aber der Zuschauer kapiert: Es handelt sich um „Verzauberte“. Womöglich Zugereiste, Gäste, gestrandet samt Gepäck. Sechs Männer allein auf weiter Flur bzw. auf einem von Sonne beschienenen, menschenleeren Dorfplatz, hinter dem der vermutlich katholische Kirchturm aufragt.
Was führt das queere Sextett aufs Land: Familienbesuch, eine Kundgebung, ein Statement zum Christopher Street Day oder vielleicht die Neueröffnung von „La Cage aux Folles“? Aber wer von ihnen wäre Albin/Zaza?
Jedenfalls ist in dem Etablissement, wohin die Ankömmlinge gebracht werden, schon einiges im Gange. Auf der Minibühne des Restaurants, das einem schwulen Freundes- und Liebespaar gehört, wird geprobt für eine Show von Drag Queens in ausladenden Abendroben. In ihrer Garderobe stecken am Schminkspiegel vorbildhaft Fotografien von Maria Casarès, Catherine Deneuve und Marlene Dietrich. Die hochhackige Revue kann sich sehen lassen, vor allem die Tanznummer des blonden süßen Gifts Baby Sun, in den sich Youcef verguckt, der das Lokal mit seinem Partner betreibt. Wenn es nicht eher Sehnsucht nach dem Anderswo ist, die sein Begehren lenkt. Auf nächtlichen Übermut und aufgekratzte Feierlaune folgt der Absturz: Am Morgen danach schweift Youcefs Blick zum blauen Himmel und darüber hinaus zu dem Traum von einem anderen Leben, einem anderen Glück. Die schräge Gruppe mit Baby Sun aber fährt juchzend davon und lässt Luftballons steigen, die wie ein Ausrufezeichen vor Youcefs Augen stehen.

Foto: Salzgeber
Zweite Episode. Ortsmarke: La Chapelle Saint-Mesmin. Zwei halbwüchsige Brüder hängen zuhause Wäsche zum Trocknen, räumen nachlässig auf. Eine Landkarte mit dem ‚Stiefel’ ist an eine Zimmerwand gepinnt. Bella Italia. „Wo meine Sonne scheint“, sang einst Caterina Valente. Sehnsüchtiger Lockruf, dem neben vielen anderen – von Goethe und August von Platen bis zu dem Capri-Flüchtling Arndt von Bohlen und Halbach – auch der Filmemacher Werner Schroeter gefolgt ist, als er die Alternative „Palermo oder Wolfsburg“ als Titel über seinen 1980 mit dem Goldenen Bären geschmückten Film schrieb. Der ältere Bruder, der kurz vor seinem Studienbeginn in Angoulême steht, verabredet sich eher missmutig und widerwillig zum sexuellen Rendezvous, streift vor der Haustür seine Sneakers ab und zieht Pumps an. Er streunt durch den sommerheißen Tag, übersieht Blicke auf sich, als er seine langen, schlanken Beine auf einem Barhocker elegant übereinander schlägt – „bizarr“, sagen gesetzte Herren, die vor ihrem Bier sitzen –, und trifft seinen gleichalten Lover. Der wünscht sich sich trotz der Heimlichkeiten, die er arrangiert, mehr von der Beziehung, was der Andere kurz und knapp als „Drama“ abtut, bevor er sich verdrückt.

Foto: Salzgeber
Noch ein Szenenwechsel. Ein junger Mann, Jonas, den Patrice Chéreau vor 30 oder 40 Jahren hätte gecastet haben können, nähert sich einem abgelegenen Haus, in dessen Vorgarten ein älterer Mann arbeitet. Vorstellbar wäre, dass der verlorene Sohn heimkehrt. Aber hier geht es um einen Fototermin. Eine erotische Serie wird aufgenommen. Jonas, anscheinend mindestens halbprofessionell, posiert vor der Kamera, entblößt im Rüschenhemd mit Federhut und Degen wie ein lasziver d’Artagnan, dem seine Musketiere abhanden gekommen sind, als anmutiger Schäfer, Gladiator und Brigant mit Messer. So hätten im Frühbarock der Maler Caravaggio und sein Kollege Georges de La Tour (auf den die Lichtregie einiger Motive anzuspielen scheint) ihre Models im Atelier inszeniert. Aber es ist keine zweideutige Situation, auch wenn Jonas, nicht ohne offensiven Gestus und erwartungsvoll, das einkalkuliert haben mag. Er bekommt von Mathieu, der im Hauptberuf Spanischlehrer ist und am Heimatort eine Ausstellung mit seinen – anderen – Fotografien vorbereitet, ein Honorar et fini. Oder doch nicht?

Foto: Salzgeber
Es folgt etwas. Schwebend, undeutlich, unaufgelöst. Regen in der Campagne. Tristesse. Grau in Grau. Eine Teestunde. Nun animiert Jonas den Älteren, sich zu kostümieren. Mathieu verkleidet sich als Marquis. Ein Rollenspiel, das erleichtern könnte, Distanz zu verringern. „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“, wie Heiner Müller gesagt hätte. Aber es passiert nichts. Mathieu zögert, als schrecke ihn die Berührung. Nachts masturbiert Jonas vor Mathieus Computer, auf dem er dessen Bilder-Ordner anklickt, eine Session mit einem Jungen namens Tom betrachtet und die gesamten Serien löscht, um am folgenden Morgen mit einer schroffen, herben Absage auf Mathieu zu reagieren. Sexualität ist ein Programm, das jeder für sich auf die ihm eigene Weise und ohne Anspruch, eine irgend geartete Norm zu erfüllen, herzustellen und zu erfüllen unternimmt, ob es nun einsames Solo bleibt oder ein komplizierter Paartanz ist.

Foto: Salzgeber
Miniaturen, die ins Offene auslaufen wie verschüttete Milch. Gefühlszustände, wobei das Befremden über das Anders-Sein bei sich selbst jeweils größer zu sein scheint als in Bezug auf den Menschen gegenüber. Periphere Begegnungen. Bestandsaufnahmen des Unbeständigen, die für Romantik kaum Platz bieten. Vielleicht ist „Jungs vom Lande“ sogar eine ethnografische Studie.
In der Gesamtkomposition des zurückhaltend beobachtenden Films von Gaël Lépingle, der davor scheut, die innersten Beweggründe der Figuren in ihrer Tiefe ganz auszuloten, als kenne und fürchte er das Resultat, wirken die beiden ersten Geschichten wie ein Vorspiel für die dritte (längste und ergiebigste) Haupterzählung. „Liebe wird uns nicht mehr umbringen“, singt am Ende einer aus der bunten Künstlertruppe vom Anfang. Diesem Auftritt in Paris sieht auch Jonas zu.
Jungs vom Lande
von Gaël Lépingle
FR 2022, 84 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT
Als DVD und VoD