Joshua Whitehead: Jonny Appleseed

Buch

Two-Spirit, queer und „NDN Glitzerfee“ – das ist „Jonny Appleseed“. Der Angehörige des Volkes der Oji-Cree hat das Reservat verlassen und schlägt sich in Winnipeg als Sexarbeiter durch. Viele seiner weißen Kunden sind vom Indianer-Mythos fasziniert. Als er vom Tod seines Stiefvaters erfährt, bleibt Jonny eine Woche, bis er zur Beerdigung ins Reservat zurückkehren muss. In seinem Debüt-Roman erzählt Joshua Whitehead in einer mitreißenden Sprache und in berührenden Traumbildern von Jonnys Leben zwischen den Kulturen. Unser Autor Michael Sollorz ließ sich von Whiteheads sinnlicher Schilderung mitreißen.

Der Regen macht keinen Unterschied

von Michael Sollorz

„Mit acht wurde mir klar, dass ich schwul bin.“ Ein anständiger erster Satz, in dem schon jener trotzige Stolz anklingt, mit dem der Ich-Erzähler seine prekäre Existenz zu meistern versucht. „Man nannte mich Schwuchtel, Homo, Tunte – die ganzen netten Sachen eben. Aber ich machte mir nichts draus.“ Das stimmt natürlich nicht, der kleine Jonny leidet, wie noch jedes gemobbte Kind, an jedem Ort. Jonnys Ort ist ein kanadisches Indianerreservat, er selbst ein NDN, so die häufig verwendete Abkürzung für Indian, und schon früh erwacht seine Sehnsucht nach einem freieren Leben. Denn „ob man es glaubt oder nicht, selbst im 21. Jahrhundert können sich zwei braune Jungs noch immer nicht im Reservat verlieben.“ Als er zu Hause davon spricht, das Reservat verlassen zu wollen, nennt ihn sein Stiefvater abfällig einen Apfel: außen rot und innen weiß. Der Junge ist indes nicht aufzuhalten, der Prozess der Ablösung längst im Gange, und so bricht er eines Tages aus, lässt alles hinter sich. Doch der Preis ist hoch. „Nichts und niemand bereitet einen auf den Schmerz vor, wenn man die Heimat verlässt.“

Jahre später, längst ist Jonny über alle Berge, rafft den stieseligen Stiefvater standesgemäß der Suff dahin, gerade rechtzeitig zu Beginn des Buches, denn nun muss der Held sich aufmachen, um seiner Mutter bei der Beerdigung beizustehen. Das Reservat ist ihm immer noch Heimat und Sehnsuchtsort, aber ebenso vermintes Gelände. „In dem Jahr, in dem ich mich vor den Leuten im Reservat outete, schickte einer meiner Cousins mir eine Textnachricht, dass er mich totschlagen würde, wenn er mich erwischte.“ Seit jeher bemühen Romane als dramaturgischen Motor eine unfreiwillig notwendige Rückkehr an einstige Lebensorte. Die Reise und ihre Vorbereitung provozieren Besinnung auf Vergangenes, auf Gründe für das Fortgehen, und sie geben zuverlässig Anlass, die eigene Entwicklung zu hinterfragen.

Joshua Whitehead – Foto: ebd.

„Meine Arme sind dünn wie Zweige, und ich benutze sie meistens auch nur dazu, um Lipgloss und Mascara zu schütteln.“ Aus der schüchternen Reservats-Sissy wurde in Winnipeg ein halbwegs abgebrühter Sexworker, ein mittelprächtig gebuchter femme-boy, vom Leben schon über so manches belehrt. „Aber mal ehrlich, wenn du beim Analsex Schmerzen hast, machst du irgendwas falsch.“ Im Netz fischt er nach solventen Männern, zumeist für Cam-Sex. „Das Lustige an Grindr ist, dass es dort jede Menge Rothaut-Jäger gibt.“ Für seine Internet-Freier schlüpft Jonny in alle möglichen gewünschten Rollen. „Meistens jedoch soll ich den NDN spielen. Ich habe mir vor ein paar Jahren an Halloween einige Kostüme gekauft, die mir dabei helfen: Pocahontas und Häuptling gefleckter Schweif.“

Jonnys Beobachtungen bei seinem Eindringen in die privilegierte Welt weißer Großstädter gehören unbedingt zu den erheiternden und erhellenden Passagen des episodisch gegliederten Romans. „Als ich nach meinem Umzug anfing, meine Zeit mit den Schwulen dort zu verbringen, war Rasse ständig ein Thema … Und natürlich fand auch immer wieder mal irgendein schäbiger Typ heraus, dass er zu einem Fünfundzwanzigstel Cree war, dann bezeichnete er sich selbst als Proto-Hiawatha und hielt uns Vorträge über indianische Themen.“ Obwohl es seinen Marktwert vermutlich höbe, verschweigt das Frischfleisch der neuen Umgebung seine Herkunft, „weil ich mich nicht schon wieder outen wollte. Ich spielte im Reservat den Hetero, um ein NDN zu sein, und hier mimte ich den Weißen, um schwul zu sein.“

Zum Vorteil gerät ihm seine helle Haut. „Meine Kokum war vom Thema Weißsein besessen“, berichtet Jonny. Bei seiner Geburt hätte sie erleichtert seinen Körper untersucht. „Oh, Gott sei Dank“, sagte sie. „Er sieht weiß aus.“ Die Großmutter wird für den Heranwachsenden zur wichtigsten Person. In ihr lebt noch manches von dem alten Wissen, das sie dem Enkel antragen möchte. Doch Jonny gibt zu: „Tradition ist für einen NDN ein rettender Strohhalm, doch offenbar steht diese Medizin nur bestimmten Bewohnern des Reservats zur Verfügung, nicht aber einer selbsternannten braunen Glitzerprinzessin wie mir.“ Google hat Manito besiegt. Und trotzdem, aufgewachsen mit TV-Serien und Spielshows, Supermärkten und Fast-food, bleibt ein Teil von Jonnys Seele verbunden mit der sterbenden Natur. „Ich höre die unheilvollen Lieder von Walen, Wölfen und Bären um mich her – das kakofonische Kreischen eines Tiers, das den Tod spürt wie ein Gewebe aus Blut und Stein.“ In seinen leisen und lyrischen Momenten berührt der Text am tiefsten. Sie klingen nach. „Der Wind zerzaust mir das Haar; ich strecke die Hände hinaus in die Finsternis und warte, dass mich jemand nimmt.“

Jonnys geliebte Großmutter ist es schließlich, der er am Telefon unter Tränen anvertraut, dass er Jungen liebt. Sie habe das längst gewusst, erwidert sie ihm gelassen, er sei eben ein „Two-Spirit. Du wirst immer mein wunderschönes Enkelkind sein, ganz egal, wie du aussiehst oder wer du sein willst.“ Von dieser starken Frau erführe man so gerne mehr! Sie sei durch die Hölle gegangen, heißt es vielsagend, und der Leser vermutet zu Recht, die Alte trüge eine dunkle Erblast. Völkermord und Landraub, das kollektive Trauma der nordamerikanischen Ureinwohner grundiert die Biografien in noch jeder nachgeborenen Generation. Das sind starke Geschütze. Whitehead fährt sie gar nicht erst auf. Nur ganz kurz wird ein altes Foto erwähnt; es zeigt einen gelynchten Vorfahren. Das Reservat der Gegenwart ist eine Stätte sozialer Verwahrlosung. Immerhin lauern in den Gebüschen Bären und Kojoten. Alkoholismus und Gewalt bestimmen das Zusammenleben, wie vergleichbar in zahllosen literarischen und cineastischen Zeugnissen verschiedener Hochhaus-Vorstädte oder Elendsviertel rund um den Globus. Ungeachtet dessen beklagt Jonny für sich und seine Stammesbrüder, dass „wir gelernt haben, in einer heiligen Hölle, in einem apokalyptischen Scheißhaufen zu leben und zu lieben.“ Auffallend häufig ist auch die Rede von Schmerzen. „Mittlerweile glaube ich, dass sie alle ständig so betrunken sind, weil sie alle erdenklichen Schmerzen fühlen.“ Oder: „Schmerz intensiviert die wahren Gefühle, die es wert sind, dass man sie fühlt, und jeder NDN kann ein Lied vom Schmerz singen.“

Als Debütant in Prosa genießt Joshua Whitehead noch Welpenschutz; vielversprechend scheint seine Fähigkeit zur sinnlichen Schilderung, die ganz und gar für sich selbst spricht und durchlittene Schrecken umso eindrücklicher nachfühlen lässt. Ein gelungenes Beispiel ist jene universelle homophobe Szene, in der ein wutschnaubender Vater seinem kindlichen Sohn die übermütig lackierten Fingernägel schneidet. Und er schneidet tief. Gilt nicht, was Joshua Whitehead seinen Jonny über dessen Kopfbehaarung feststellen lässt, künftig umso mehr für seine Arbeit als Schriftsteller? „Meine Haare sind die Vermittler zwischen meinen Identitäten, meinen Geistern, meiner braunen Haut und meiner Queerness, meiner Sexiness und meiner Schande, der Narbe all unserer Schmerzen.“




Jonny Appleseed
von Joshua Whitehead
Aus dem Amerikanischen von Peter Peschke
Klappenbroschur, 268 Seiten, 18 €,
Albino Verlag

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