Jörg Rehmann: Herr Wunderwelt

Buch

Jörg Rehmann erzählt in seinem Roman „Herr Wunderwelt“ vom Heranwachsen in der DDR und der Schwulenszene im Berlin zur Wendezeit. Der Protagonist Dirk schummelt sich in alternativen Identitäten und erfundenen Biografien durchs Leben. Er träumt davon, Schriftsteller zu sein – landet jedoch als Pfleger in der Residenz am Grunewald, ohne eine Ausbildung zu haben. Unser Autor Marko Martin empfand den Roman als eine Wundertüte voller despektierlicher Schnurren – und gerade deshalb als das richtige Buch zu dreißig Jahren „deutscher Einheit“.

Der Solschenizyn aus Schkopau

von Marko Martin

Bereits kurz nach der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 kannte das hiesige Feuilleton vor allem eine Sorge: „Wo bleibt der große Wenderoman?“ Die Frage kam im Laufe der Jahrzehnte immer wieder auf, verlor dabei jedoch an Lautstärke und Dringlichkeit. Immerhin sind jene Romane, die von den Umbrüchen der Jahre 1989/90 erzählen, mittlerweile Legion. Autoren wie Thomas Brussig, Ingo Schulze, Bernd Wagner, Alexander Osang, Daniela Krien oder Lutz Seiler haben dabei alles andere als bräsige Selbstverständigungstexte zur Schimäre „unserer Identität“ geschrieben, sondern in der Tat Bücher, in denen ein verschwundener Staat und eine vergangene Zeit zu relevanter, vor allem ästhetisch überzeugender Literatur geworden sind.

Und dennoch: Das frechste, unverschämteste, aberwitzigste Ost-West-Buch ist erst jetzt erschienen, im 30. Jahr der Wiedervereinigung. Der Roman trägt den Titel „Herr Wunderwelt“, und sein Autor ist Jörg Rehmann. Dessen Ich-Erzähler ist einer, der sich immer wieder neu erfindet und bereits zu DDR-Zeiten seine ganz persönlichen „Wenden“ zelebriert hatte.

Das Buch beginnt im Frühjahr 1989 mit dem ersten Arbeitstag des Helden in einer gediegenen Seniorenresidenz im Westberliner Grunewald. Auf die Frage, ob er Erfahrungen mit Inkontinenten habe, behauptet der kurz zuvor aus der DDR ausgereiste Bettelstudent mit vollendeter Dreistigkeit: „Im Osten war das nicht erlaubt.“ Seine Masche aus Anpassungsbereitschaft und Renitenz hat Erfolg, zumindest wird er viele Jahre hierbleiben, auch wenn er vor seinen wechselnden Westberliner Lovern den Status als Altenpfleger verschweigt und sich stattdessen als exotischer Russe namens Kolja Michovski ausgibt. Schließlich hatte er bereits in der DDR an schulischen „Russisch-Olympiaden“ teilgenommen und – während seine Mitschüler heimlich die aus dem Westen hereingeschmuggelte „Bravo“ lasen – die Seiten der Zeitschrift „Sowjetfrau“ durchgeackert: Porträt eines eigenwilligen Knaben als Freak.

Jörg Rehmann – Foto: becker.camera

Der Junge, der einst Prüfungsfragen wie „Welchen Beitrag leistest du zur Erfüllung der Beschlüsse des neunten Parteitages?“ in fließendem Russisch beantworten konnte, erscheint dabei in der Rückschau eher sonderlich als sympathisch. Ist es wirklich „Subversion durch Affirmation“, was er da als hyperaktiver Schüler betreibt, wenn er etwa auf dem Appellplatz Klassenkameraden zurechtweist und eigene Gedichte wie „Friedenslied vor Schichtbeginn“ verfasst, die die Parteilyrik noch toppen? „Ich galt als rotes Arschloch.“ Gleichzeitig ist sein Leben im sachsen-anhaltinischen Schkopau (ehemalige Transitreisende werden sich noch an die Autobahn-Plakate der dort gefertigten „Plaste und Elaste“ erinnern) schon lange vor dem homosexuellen Coming-Out derart Camp, dass es dem Leser immer wieder Lachtränen in die Augen treibt: Der Schlingel mit Pionierhalstuch und später dann in FDJ-Hemd träumt von westlichen Truckern, die ihn über die Grenze schmuggeln, sieht im Westfernsehen die „Schwarzwaldklinik“ und „Ich heirate eine Familie“, sucht sich aus dem Bücherregal seiner Oma ausgerechnet die Romane von Hedwig Courths-Mahler und träumt von der Eislauf-Genossin Katharina Witt.

Freilich bleibt es auf Dauer nicht so lustig. Als es Zeit wird, zur Armee zu gehen, begeht er, um seine noch nicht ausgelebte Sexualität wissend, einen Suizidversuch, den er glücklicherweise jedoch ebenso unbeschadet übersteht wie einen Anwerbungsversuch der Staatssicherheit, die in dem fantasiebegabten, doch fragilen Jugendlichen bereits den idealen „Inoffiziellen Mitarbeiter“ gewittert hatte. Selbst die Erfahrung mit einem korrupten Universitätsprofessor, der sich vom Studenten sexuell bedienen lässt und ihm danach dennoch die Abschlussnoten vermasselt, können den jungen „Herrn Wunderwelt“ nicht brechen, der zur mentalen und körperlichen Stabilisierung entweder einen „Arbeitskreis Homosexualität“ aufsucht (und dort seinen ersten festen Freund findet) oder am Leipziger Hauptbahnhof das dortige Zeitkino frequentiert: „Dort bliesen, wichsten und vögelten die Männer und betrachteten dabei den sowjetischen Abenteuerfilm oder DEFA-Trickfilme.“

Wie aber dann im Westen von solchen Erfahrungen erzählen – etwa als „der Solschenizyn aus Schkopau“? Anfang der neunziger Jahre sucht „Herr Wunderwelt“ alias Kolja Michovski Anschluss an die schwule Szene-Berühmtheit Napoleon Seyfahrt, dem er sich auf vertrackte Weise nahe fühlt: „Sein Vater war Zuhälter, meiner hatte in der DDR ein Wahllokal geleitet.“ Diese urkomische Geschichte-in-der-Geschichte endet mit einem veritablen Zerwürfnis, aber auch der freundliche (und real existierende) Verleger Jim Baker kann mit den inzwischen fertiggestellten Manuskripten des zur Hochstapelei Neigenden nur wenig anfangen: In welcher Passage hatte er eigentlich nicht plagiiert?

Ob Jörg Rehmann heute noch immer als Krankenpfleger arbeitet („Die Residenz war meine zweite DDR geworden; eines Tages würde ich sie verlassen“) bleibt im Ungewissen, sicher jedoch ist: Keine Zeile seines hinreißenden Debüt-Romans ist geklaut, das über drei Jahrzehnte währende Anlaufnehmen hat sich für den Autor und seine vergnügt-verdutzten Leser wahrlich gelohnt. Deshalb: Chapeau!




Herr Wunderwelt
von Jörg Rehmann
Gebunden, 304 Seiten, 20 €,
Kommode Verlag

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