Linus Giese: Ich bin Linus

Buch

In seinem Debüt „Ich bin Linus“ schildert Linus Giese, wie es ihm gelang, nach 31 Jahren laut auszusprechen, dass er ein trans Mann ist. Er erzählt von unangenehmen Arztbesuchen, bürokratischen Hürden, alltäglicher Diskriminierung, virtueller Gewalt, aber auch von Euphorie, Freundschaft, Solidarität und queeren Held*innen. Unser Autor Samuel Benke über einen selbstbestimmten Lebensbericht, der ihn zu Tränen rührte.

 

Coming-out bei Starbucks

von Samuel Benke

Es ist lange her, dass ich beim Lesen so geweint habe. Dass ich mich so gefreut habe, so sehr mitgefühlt, mitgelitten habe. Jede freie Minute der letzten Tage saß ich hinter diesem Buch wie festgeklebt und habe mit Spannung einen der offensten und spannendsten Berichte aus einem Leben gelesen, der mir seit langer Zeit begegnet ist.

„Ich bin Linus“ ist die schnörkellos erzählte Geschichte von Linus Gieses spätem Coming-out als trans Mann, von seiner Zeit davor und dem lebenslangen Prozess der Transition danach. Linus Giese ist heute 34 Jahre alt. Sein Coming-out hatte er mit 31. Er arbeitet und lebt in Berlin, ist Blogger, Journalist und Buchhändler. Auf buzzaldrins.de schreibt er Buchrezensionen und auf ichbinslinus.de Erfahrungsberichte über seine Transition. Er hat mehrere Texte für den Tagesspiegel, die taz und das Onlinemagazin VICE veröffentlicht. „Ich bin Linus“, erschienen im Rowohlt Verlag, ist sein erstes Buch.

Linus Giese – Foto: Annette Ettges

Alles beginnt in einem Starbucks im Frankfurter Bahnhof. Linus, von der Barista nach seinem Namen gefragt, spricht ihn zum ersten Mal aus, seinen neuen Namen. Nichts davon war geplant, so Linus. Es hat sich einfach so lange angestaut, bis es nicht mehr ging, bis es rausmusste. Linus ist ein Mann und in diesem Moment teilt er das zum ersten Mal seiner Außenwelt mit.

Linus erzählt seine Biografie geradlinig, ohne Umwege, ohne Sprünge. Er lässt uns an seiner Entwicklung teilhaben. Daran, wie er noch im Sommer 2017 einen Artikel im Tagesspiegel über sein Leben als lesbische Frau schreibt, wie er beginnt sich als trans Mann zu outen, wie er nach Berlin zieht und die Arbeit in einem Buchladen beginnt. Wir lernen, wie befreiend es für ihn ist, dass er hier mit seinem neuen Namen angesprochen wird, begleiten ihn in einen Sexshop, der auf trans Menschen ausgerichtet ist und erfahren von seinem Problem, eine permanente Wohnung zu finden. Wir begleiten Linus zu Minette, einer Malerin. Sie hat ihn nach der Veröffentlichung seines im Sommer erschienen Artikels zum ersten Mal getroffen, jetzt, einige Monate später, begegnen sie sich zum zweiten Mal. Linus schreibt über diese Erfahrung Folgendes: „Nur wenige Wochen später befand ich mich in derselben Wohnung, doch mein Leben war ein anderes, und auch ich war nicht mehr derselbe. Ich hieß erst seit ein paar Wochen Linus und war vor wenigen Tagen mit zwei Koffern nach Berlin gezogen.“

Linus lässt sich im Laufe der Erzählung zweimal von Minette malen. Kurz nach seinem Coming-out und einige Jahre später erneut. Während er vor seinem ersten Portrait noch unheimlich unsicher ist, lässt er sich beim zweiten nackt malen. Diese Szenen sprechen sinnbildlich für Linus Reise. Dafür, wie er in kürzester Zeit so viel Selbstbewusstsein und Selbstbestimmtheit dazugewonnen hat.

Das ist Linus’ Leben, ganz privat. Doch diese autobiografische Erzählform verweist klug auf gesellschaftliche Probleme in Deutschland. Auf unsere Wahrnehmung von Geschlechtern. Wie in Umkleiden, Sportteams, Toiletten, Kaufhäusern noch immer so streng auf einer binären Aufteilung von Mann und Frau bestanden wird und wie schwer es dadurch für Linus und andere trans Menschen ist, sich in diesem festgefahrenen Rahmen zu behaupten, zu überleben. Linus beschreibt seine Erfahrungen mit einem langsamen und bürokratischen Gesundheitssystem. Wie kompliziert und umständlich es ist, Testosteron zu bekommen, wie viele psychologische und ärztliche Gutachten man einholen muss, um zu beweisen, dass man wirklich trans ist.

„Wer trans ist, der bekommt nichts geschenkt. Wir müssen uns alles selbst erkämpfen und auf alles lange warten, von der Indikation bis zur Behandlung – und ein paar von uns bleiben deshalb unterwegs auf der Strecke, weil sie keine Hilfe oder Unterstützung finden.“ Linus sucht nach dieser Unterstützung, nach Halt und nach Liebe. Er sucht sie schlussendlich dort, wo eigentlich eine offene Community sein sollte. Er meldet sich bei „Planet Romeo“ an, weil er sich in der Zeit nach seinem Coming-out als schwuler Mann identifiziert. (Mittlerweile bezeichnet er sich als bisexuell.) Er hofft hier einige positive Dating-Erfahrungen sammeln zu können. Was ihm stattdessen begegnet, sind Hass und Häme. „Ich hatte vorher nicht damit gerechnet, weil ich glaubte, dass wir alle Teil einer Community seien, schwule Männer können jedoch unglaublich diskriminierend und abwertend sein.“

Dadurch, dass der Autor die vielen Schritte seiner Transition ausführlich im Netz beschreibt, immer wieder Fotos von sich zeigt und sehr offen mit seiner Identität als trans Mann umgeht, zieht er den Hass fremder Menschen auf sich. Ein besonders hartnäckiger Twitter-User beginnt, ihm bei der Arbeit Erdbeeren zu schicken, Sticker mit Erdbeeren an die Scheiben seines Arbeitsplatzes zu kleben. Die Erdbeere, das ehemalige Profilbild des Stalkers, wird zu einem Sinnbild der Verfolgung für Linus. Bald taucht es auch vor seiner Haustür und an seinem Briefkasten auf. Sein Name auf dem Klingelschild wird mit seinem früheren überklebt. Es geht sogar so weit, dass zwei Personen auf seinem Arbeitsplatz auftauchen und ihn beleidigen und bedrohen. Und irgendwann steht dann ein fremder Mann vor seiner Tür und geht nicht mehr weg. Linus schildert eine Polizei, die weder klare Antworten auf das Stalking, noch auf den Hass findet, der ihm im Netz begegnet.

Aber Linus berichtet auch von Freunden. Von Arbeitskollegen, die die Angreifer wütend abweisen, sich solidarisch zeigen. Von seiner Mitbewohnerin und ihrem Hund, die immer für ihn da sind. Die Antwort dieser Menschen auf den Hass? Wir sind bunt, wir sind mehr. Er erzählt auch von Vorbildern, die er für sich gefunden hat. Von Billy Porter, der in extravaganten Kleidern auf dem roten Teppich erscheint oder von Alok Vaid-Menon, they in sozialen Netzwerken gegen Gendernormen kämpft. Linus erzählt seine Geschichte, für sich und für andere. Um Geschlechtervorstellungen aufzubrechen und irgendwann bei einer neuen Selbstverständlichkeit und Normalität anzukommen. „Ich bin überzeugt davon, dass queere Vorbilder Leben retten können.“

Ob er selbst schon ein Vorbild ist, das weiß er nicht genau. Was er aber weiß, ist, dass Vorbilder fehlen in Deutschland. Dadurch, dass Linus Giese sein Leben sichtbar macht, leistet er wichtige Aufklärungsarbeit. Aber er emanzipiert sich auch. Von einer Welt, die Erwartungen an ihn und seinen Körper stellt. Von einer Gesellschaft, die versucht, ihn in Schubladen zu zwängen. Linus‘ Buch schreit förmlich: Hier bin ich, take it or leave it. Und er ermutigt auch uns, die Schubladen hinter uns zu lassen: „Du darfst alles ausprobieren, dir alles erlauben, alles tragen, was dir gefällt, und alles tun, woran du Freude hast. Gender ist eine Spielwiese – probiere dich aus und habe Spaß dabei.“

Das Ziel dieses Buches ist es, Menschen die Augen zu öffnen, über die Lebensrealität von trans Menschen in Deutschland. Den Lesenden Zugang zu einer gendergerechten, trans freundlichen und generell inklusiveren Sprache zu ermöglichen. Linus appelliert an uns, liebevoller miteinander umzugehen, mehr Verständnis füreinander zu haben und auch uns selbst gegenüber mehr Liebe zu zeigen. Und er macht dies auf eine mitreißende und ehrliche Art und in einer klaren, klugen Sprache, wie man sie sich für diesen Appell nicht besser wünschen könnte: „Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich damit, was ich mir wünsche, was ich brauche, was mir fehlt, was mich glücklich macht – trans zu sein empfinde ich keinesfalls als ein bedauernswertes Schicksal oder gar einen tragischen Leidensweg, sondern viel mehr als das große Glück, mein Leben mit großer Intensität leben zu dürfen. Wäre da nur nicht immer ein Teil der Gesellschaft, der mich daran hindern möchte.“




Ich bin Linus
Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war
von Linus Giese
Paperback, 224 Seiten, 15,00 €,
Rowohlt Verlag

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