Glitter

Buch

„Glitter“ versteht sich als „Die Gala der Literaturzeitschriften“. Sie erscheint jährlich im Dezember; nun bereits zum vierten Mal. Zu lesen gibt es darin queere Kurzgeschichten, Lyrik und Essays, queer illustriert und queer verteilt. Unser Autor Stefan Hochgesand hat sich in die glitzernden Wunderkammern aus Texten begeben und dabei große Freude empfunden.

 

Queeres Wortglitzern

von Stefan Hochgesand

„Glitter And Be Gay“ heißt die Schmetter-Arie der Baronesse Kunigunde im Musical „Candide“ (1956) des schwulen Komponisten Leonard Bernstein. Bernsteins Werk zieht die opportunistischen Verfechter*innen der Idee, dass unsere schlimme Welt bereits aufs Beste bestellt sei, tragikomisch durch den Kakao. Kunigunde gelangt zur weisen Ansicht, lieber Champagner zu schlürfen, Diamanten strahlen zu lassen und, vor allem, gay zu sein. „Glitter And Be Gay“. Yes!

Ob sich die Redaktion der queeren Literaturzeitschrift „Glitter“ (namentlich Kathrin Maurer, Johannes von Dassel, Ivona Brđanović und Donat Blum) von Bernsteins Gay-Glitzer hat inspirieren lassen, ist nicht überliefert – aber passen würde es, zumal die Zeitschrift im Untertitel „Die Gala der Literaturzeitschriften“ zu verstehen gibt: Manche Dinge nimmt man ernst, indem man sie nicht allzu ernst nimmt: Literatur, auch queere Literatur, darf Spaß machen. Vielleicht sollte sie es sogar?

Die Literaturzeitschrift „Glitter“ aus der Schweiz tritt, nun schon in der vierten Ausgabe, den Beweis an, dass es sich lohnen würde, mehr Texte von und über Queers zu publizieren und zu lesen, vielleicht sogar finanziell, aber vor allem intellektuell und künstlerisch. Was also hat „Glitter“ mit uns vor im vierten Heft? Facts first: Es sind 14 Autor*innen mit sogenannten „Langtexten“ (meist so um die sechs Seiten „lang“) und 22 Autor*innen mit Kurztexten. Es fallen ein paar bekanntere Namen (wie Kristof Magnusson) auf, einige Szene-Darlings (wie Dramatikerin Laura Naumann), aber insgesamt überwiegen die (Noch-)Geheimtipps. Die Identitäten sind, was Gender und Hautfarben betrifft, so divers, wie man sich das ansonsten meist nur wünschen kann. Formal haben wir es bei den Texten zu tun mit Kurzgeschichten, Romanauszügen, Lyrik, Prosagedichten, biografischem Hybrid, Drama-Miniatur und Essay. Die Genres reichen von Science-Fiction bis Pseudo-Märchen.

Melany Dudlley, Berliner trans-Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, schreibt in ihrem Text „Und sie warf den ersten Stein von Stonewall“ über Marsha P. Johnson, eine trans woman of color, die womöglich (damals gab es keine Handy-Kameras!) 1969 bei den Stonewall Riots in der New Yorker Christopher Street die erste war, die gegen die gewalttätige Polizei Widerstand leistete. Der Text ist so ganz anders als der typische Wikipedia-Bio-Style, nicht nur wegen der eingestreuten Song-Fragmente, die einem souligen Off-Off-Brodway-Musical entstammen könnten. Wir erfahren, wie aus Malcolm Marsha wird, eine Prostituierte, besonders durch die 42nd Street highheelstolzierte, denn dort gab es 28 Eissorten, und zwar 24 Stunden am Tag. Eine vordergründig völlig unnütze Information, die indes aus einer papierenen Vita einen echten Menschen wieder auferstehen lässt, einen echten Menschen, der Eis nascht. Bevor er mutmaßlich ermordet wurde aus Transfeindlichkeit.

Durch sein Alter etwas heraus fällt in der aktuellen „Glitter“ der Autor Christoph Geiser, schon 71-jährig. Es spricht sehr für die junge hippe Redaktion, dass sie in ihrem Glitzer-Kaleidoskop auch Geisers Text „Friedlos“ aus einem entstehenden Roman abdruckt. Denn literarisch ist er äußerst raffiniert. Der Ich-Erzähler begibt sich auf Zeitreise zu seiner verstorbenen Großmutter, einem Phantom oder Phantasma, das er niemals wirklich kennengelernt hat. Sprachgewaltig erzählt Geiser vom Brand des jüdischen Schtetls 1891 in Basel. Aber auch von einem anderen Jungen:

„Wir waren siebzehn, vielleicht schon achtzehn, kurz vor der Matur und dem Sechstagekrieg. (…) Ich lehnte ärschlings gegen den Radiator unter dem geöffneten Fenster, halb sitzend, halb stehend, untätig, während Samuel emsig war, Stühle zurechtrückte, Pulte aufräumte, die Wandtafel sauber wischte mit dem Schwamm. Das mulmige Gefühl im Unterleib von der Wärme des Heizkörpers. Der Druck in der Unterhose.“

Doch dann beginnt der Erzähler, den eigenen Erinnerungen zu misstrauen. Denn einiges kann nicht so gewesen sein. Ist er selbst ein Anderer? Wie haben die Erinnerungen sich nachträglich verformt?

Sich selbst und ihren romantischen Empfindungen misstraut auch die Erzählerin Muriel (deren Namen wir erst im letzten Satz erfahren) in der Shortstory „Jackie“ von Yael Inokai. Der tragikomische Text ist von einer erfrischenden Leichtigkeit:

„Und dann bringt sie mich zum Rennen, kaum hat sie die Augen auf, weil wenn jemand wie Jackie sagt: Guten Morgen, hast du auch Latte Macchiato, dann sagst du nicht: Nein, hier gibt’s nur Filter, hol dir das Gesöff woanders.“

Umso ernüchternder, dass Muriel letztlich in Panik vor einer sogenannten RZB (wobei es sich um eine „romantische Zweierbeziehung“ handelt) gerät.

Die Prosagedichte von Ozan Zakariya Keskinkılıç sind wie Zimt, es reicht ganz wenig schon, um einen zu verzaubern, nie zu würzig, nie zu süß: „freundschaft nach dem ersten kuss ist wie nussmischung lüks karışık. Zu wenig mandeln, zu viele haselnüsse.“ Schon die Titel sind toll, wie wäre es mit „topfplanze in geiselhaft“? Oder eben „bartstoppel“:

„bisschen netflixen. ist schon spät da draußen. und kalt zwischen den folgen. verwebt sich ein arm in den anderen. dein satz klammert sich an die zunge. das wird nicht nochmal passieren. passiert nochmal. und nochmal. zerkratzt rücken, brust und bauch auf meinen. weiß nicht, wann ich mir das letzte mal so nah war. zwischen den folgen ist es kälter geworden. pflücke deine bartstoppel wie blüten von der matratze.“

Wow! Ja, wann war man sich das letzte Mal so nah – wenn nicht da? Ganz phantastisch ist auch das Mini-Drama (oder ist es ein Hörspiel?) namens „Rosenstengel“ von Elias Kosanke. Zwei Erzähler*innen gehen am 20. November, dem Transgender Day of Rememberance, auf einen mittelalterlichen Platz in Halberstadt in Sachsen-Anhalt, und „erleben“ den ebenso mittelalterlichen Prozess gegen den titelgebenden trans Jungen Rosenstengel, der sich einen Lederpenis zwischen die Beine klemmte, seit er 15 war.

Ein großes Highlight ist auch der Text „Was ist sicher was ist sorry“, aus dem Romanfragment „Swell“ von Laura Naumann, die sich als Dramatikerin schon einen Namen gemacht hat. Robyn, Luz und die Ich-Erzählerin kochen Fenchel-Risotto („Ein Risotto macht immer, dass sich alle fühlen, als würden sie auf etwas ganz Besonderes warten. Dabei ist es nur gerührter Reis.“) und treiben es dann zu dritt, aber irgendwie geht das mit den Plastikhandschuhen und der Awareness, auch vor potentiellen Krankheiten, nicht so unkompliziert wie im Porno, den die Erzählerin zuvor gesehen hatte.

Als letzten „Langtext“ hält Caspar Sheller eine Wutrede über den gefeierten US-Autor Garth Greenwell, 42, der angeblich prekäre Menschen in Bulgarien, insbesondere einen Stricher, ausbeute, da er dieses Land als morbide Melancholia-Kulisse für seine Bestseller verwende. Steile These, sehr fragwürdig, aber furios geschrieben.

Von diesem Essay abgesehen, packen wohl diejenigen Texte am meisten, die nicht belehren wollen, sondern ihrem erzählerischen Flow ganz und gar vertrauen. Es sind viele. Und es bereitet Freude, diese Wunderkammern aus Texten zu erkunden. Also, was ist nun queere Literatur 2020? Kann „Glitter“ das beantworten? Wie es sich für guten Glitzer gehört, kristallisieren sich, je genauer man schaut, immer mehr Farben und Nuancen heraus, und sie bleiben auch nie lang dieselben. Queere Literatur, sie kann all dies sein. Und sie könnte es für noch viel mehr Menschen sein, wenn die Gatekeeper sich ein Scheibchen bei Baronesse Kunigunde abschnitten. Scheiß auf Champagner und Diamanten, aber glittern und gay sein – ja, das wärs!




Glitter, Bd. 4
herausgegeben von Kathrin Maurer, Johannes von Dassel, Ivona Brđanović und Donat Blum
Kartoniert, 144 Seiten, 8,00 €
https://glitter-online.org

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