Blaise Campo Gacoscos: Der Junge aus Ilocos

Buch

In der Kultur der Ilocanos im Nordwesten der Philippinen treffen uralte Traditionen auf die Einflüsse der modernen Hauptstadt Manila, landwirtschaftlicher Pragmatismus auf christliche Gottergebenheit. Victor ist ein Kind dieser Welt. Er wächst mit seiner Mutter, Bruder Raffy und den Großeltern am Quinarayan-Fluss auf. Schon früh ist er sich seiner Homosexualität bewusst – und spürt, dass draußen eine größere, vielleicht freiere Welt auf ihn wartet. Was diese Welt mit Victor macht, erzählt Blaise Campo Gacoscos in seinem Debütroman „Der Junge aus Ilocos“. Gabriel Wolkenfeld hat das Buch gelesen und verrät, warum es nicht nur im Hinblick auf den Gastlandauftritt der Philippinen bei der Frankfurter Buchmesse 2025 spannend ist.

Acht Mal Leben

von Gabriel Wolkenfeld

Ein Junge lässt einen Drachen steigen, so, wie es ihm sein Großvater gezeigt hat. Er spielt mit den Nachbarskindern. Um den Neuen zu beeindrucken, vollführt er mit dem Springseil ein Kunststückchen. Er badet im Meer, bis seine Haut gerötet ist …

Die philippinische Region Ilocos mutet an wie ein Ferienparadies: Sandstrand, Kokospalmen, Sonne satt. Die Idylle aber, die Blaise Campo Gacoscos als Kulisse für den Beginn seines Romandebüts wählt, ist trügerisch.

Ebendort, im Nordwesten der Philippinen, fernab der funkensprühenden Metropolen, wächst Viktor auf. Von seiner Armut ahnt er nichts. Denn abgesehen von den wenigen Bessergestellten, die Macht und Reichtum untereinander aufteilen, leben hier alle in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Die Mutter ist als Grundschullehrerin tätig, halst sich aber drei Nebenjobs auf, um ihre beiden Jungen durchzubringen – und doch beschäftigt sie noch eine ferne Verwandte als Haushaltshilfe. Solange es Menschen gibt, die weniger haben, versucht man eben, sie am eigenen bisschen Wohlstand teilhaben zu lassen. Gottergeben akzeptiert die Familie ihr Schicksal. Keine tief empfundene Gläubigkeit bestimmt ihr Handeln, sondern die Bereitschaft, klaglos zu erdulden, was das Leben bringt. Kein Wunder also, dass sich Viktor gegen die Gefühle, die er insgeheim hegt, nicht wehrt, ihnen aber auch nicht in voller Konsequenz nachgibt. Die Abwesenheit des Vaters, die materielle Dürftigkeit, der Katholizismus in Kombination mit dem frühen Wissen um die eigene Homosexualität – dies sind die Koordinaten für diesen Roman, der ganz ohne alberne Knalleffekte den Lebensweg eines schwulen Filipinos aus der Provinz nachzeichnet.

Blaise Campo Gogosos – Foto: Rene Mejia

„Der Junge aus Ilocos“ ist das Romandebüt des philippinischen Autors Blaise Campo Gacoscos. Das englische Original erschien 2022 unter dem Titel „Kites in the Night“. Nun legt der Albino-Verlag als Vorgeschmack auf die Frankfurter Buchmesse, wo die Philippinen Ehrengast sind, die deutsche Übersetzung vor. Die einzelnen Kapitel beleuchten unterschiedliche Phasen im Leben des Protagonisten: Viktor als Kind, das die Nähe eines Nachbarsjungen sucht; als junges Klaviertalent beim Vorspielen für ein Stipendium an der Hochschule der Künste in Manila; als Organist in der örtlichen Kirche, in seiner Zuneigung taumelnd zwischen einem Gleichaltrigen und dem Gemeindepriester; Viktor als Redakteur für ein Boulevardblättchen, an kurzer Leine gehalten von einem Talentmanager mit aufgeblasenem Ego; Viktor als ewiger Student, im Schatten seines Bruders Raffy, der den Absprung geschafft hat und als Chirurg in den USA arbeitet; und schließlich Viktor als Mann mittleren Alters beim Besuch eines Badehauses, Bilanz ziehend in seiner Funktion als schwuler Mann, als Sohn, als Neffe, verlassen vom Vater, vom Bruder und von seinen Liebhabern.

Acht Mal lernen wir diesen Viktor Molina kennen – immer wieder neu, im Wandel der Jahre, verändert, um Erfahrungen, Begegnungen, Enttäuschungen, Einsichten reicher. Der Autor vermeidet es, sich in der Ausgestaltung seiner Figur allzu sehr festzulegen. Für ein Phantombild etwa gibt der Text kaum ausreichend Anhaltspunkte her. Diese Unschärfe erlaubt es, dass wir unser eigenes Bild entwerfen. Mein Viktor Molina etwa ist ein stiller Held des Alltags, ohne große Ambitionen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, meist leicht neben der Spur, zunehmend desillusioniert, fortwährend fragend im schwülen Halbdunkel tappend. Mir ist er nah in seinem Begehren und in dem fast verzweifelten Wunsch nach Aufrichtigkeit – ein Mann auf der Suche nach seinem Platz in der Welt, einem Ort, der als Zuhause taugt.

Die Einsamkeit ist eine Mitgift der Eltern: Der Vater macht sich früh aus dem Staub. Die Mutter setzt auf den Bruder. Aufgrund der finanziellen Engpässe muss sie eine Wahl treffen. Während sie dem Erstgeborenen ein Studium ermöglicht, hat der Jüngere das Nachsehen. Raffy macht in der Ferne Karriere, Viktor dümpelt ohne Abschluss vor sich hin. Als die Mutter zum Pflegefall wird, ist er es, der sich der Kranken annimmt. Aber das ändert nichts: Der Platz des Lieblingssohns ist vergeben.

Beziehungen zu Männern werden im Konjunktiv oder in der Vergangenheitsform erzählt. Zurück bleibt ein frühzeitig gealterter Nachtschwärmer. Viktor – in seinen Vierzigern, ergraut, mit Warzen am Hals und Schmähbauch – sucht die Liebe und den Sex in einem Bumstempel in Manila und findet Ablehnung und Spott.

Im Nachwort gibt Gacoscos spannende Einblicke in den Entstehungsprozess des Werkes: Den Kapiteln seines Romans liegen Kurzgeschichten zugrunde, die er für seine Masterarbeit im Fach Kreatives Schreiben verfasst hat. Nach intensiver Überarbeitung unter Aufsicht seiner Mentorin hat Gacoscos eine „Composite Novel“ daraus gemacht: Die einzelnen Kapitel ergeben ein Ganzes, lassen sich aber auch als eigenständige Erzählungen lesen. Der stete Bruch ist dabei einkalkuliert. Er macht den Reiz dieses Buches aus: Der Autor vermeidet es, Dinge auszuerzählen. Nicht in epischer Breite wird Viktors Leben erzählt, sondern in mundgerechten Häppchen.

Gacoscos sieht sich der literarischen Tradition von N. V. M. González verpflichtet, eines Landsmanns, dessen Schreiben maßgeblich von Tschechow und Hemingway geprägt ist. Die schlichte, klare Sprache, der sich auch Gacoscos bedient, bezeugt diesen Einfluss. Konsequent wird auf vieldeutige Metaphern und Wortspiele verzichtet. Seelenlandschaften? Ellenlange Gemütsbeschreibungen? Nein, danke. Eine eigene Stimme kann man dem Autor jedoch nicht absprechen: Ganz bewusst entschied er sich dazu, den Roman in seiner Drittsprache zu verfassen. Statt Ilocano oder Tagalog wählte er interessanterweise ein Englisch als Schreibsprache, in dem die Sprachen seiner Heimat lediglich mitschwingen. Der Aufgabe, dies bei seiner Übertragung ins Deutsche zu berücksichtigen, hat sich der Übersetzer Andreas Diesel angenommen.

„Der Junge aus Ilocos“ macht Lust auf mehr. Der Roman fügt der aus europäischer Perspektive nahezu blütenweißen literarischen Landkarte der Philippinen einige stimmungsvolle Farbtupfen hinzu. Begreifen wir dieses Debüt als Anreiz, einen Autor und die Literatur seines Landes zu entdecken.



Der Junge aus Ilocos
von Blaise Campo Gacoscos
Aus dem Englischen von Andreas Diesel
152 Seiten, € 22
Albino Verlag

 

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