Anhell69

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Halb rekonstruiert, halb imaginiert erzählt Theo Montoya in seinem atemberaubenden Regiedebüt „Anhell69“ von den Träumen und Ängsten, den Exzessen und der Melancholie seiner Freund:innen, den queeren Außenseiter:innen im kolumbianischen Medellín. Sein fluider Film über eine zerstörte Generation, die Kraft der Gemeinschaft und die schmale Grenze zwischen Leben und Tod wurde in Venedig uraufgeführt und beim Dok. Leipzig mit der Goldenen Taube ausgezeichnet. Jetzt ist „Anhell69“ auch in ausgewählten Kinos zu sehen. Für Philipp Stadelmaier ist Montoyas transgressive, höchst politische, durch und durch queere Geisterbeschwörung einer der schönsten, traurigsten und dunkelsten Filme des Jahres.

Foto: Salzgeber

Stadt der Geister

von Philipp Stadelmaier

Kolumbien, Medellín, die Stadt der Toten. Ein Friedhof. Ein Niemandsland, umgeben von Bergen, die den Horizont nicht zu erkennen geben. Eine Art Gefängnis unter freiem Himmel. Ein düsteres, in Blut schwimmendes Hollywood auch, eine bizarre Kopie von Los Angeles, von den Hügeln aus gesehen, wo die rotäugigen Geister wie Zombies auf die Geisterstadt hinabblicken: ein Lichtermehr, eine Traumfabrik. Die Stadt der Engel?

Der Titel von Theo Montoyas dokumentarisch-essayistischem Film, „Anhell69“, einem der schönsten, traurigsten, dunkelsten Filme des Jahres, verrät so viel, wie er verbirgt. Er weist ebenso ins Engelhafte wie auf die Hölle. Auf Engel, die, wie es einmal heißt, in Medellín „in der Hölle ihrer Begierden leben“ und dabei von Anfang an schon gestorben sind, in dieser Welt des Todes und der Gewalt, in der sie nur darauf warten können, erlöst zu werden. Jeder Rausch, jeder Tripp, jede durchtanzte Nacht der queeren Jugend ist hier nichts anderes als die Intensivierung dieses Begehrens nach einem unmöglich gewordenen Leben, das permanent vom Tod begleitet wird, der ganz nah ist, alle ständig begleitet, wie ein Engel oder ein Freund, jederzeit bereit, einen zu umarmen.

Hinter dem Instagram-Pseudonym „Anhell69“ verbirgt sich der Name der „Hauptfigur“ des Films, Camilo Najar. Najar ist ein junger schwuler Freund von Theo Montoya – und mittlerweile tot. Ebenso wie viele andere seiner Freund:innen. Manche starben an einer Überdosis, manche an Selbstmord, oder an beidem. In einem Klima der Gewalt, Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit. Womit „Anhell69“ nicht nur für Najar, sondern auch für all die anderen steht, die in Montoyas Film vorkommen – und die dessen Fertigstellung oft nicht erlebt haben.

In dieser Film-Nekropole kann die Position des Filmemachers, dessen Stimme aus dem Off heraus erzählt, nur die eines Toten sein. Montoya zeigt sich, wie er im offenen Sarg von einem Leichenwagen durch die nächtliche Stadt kutschiert wird. Er durchlebt sein eigenes Begräbnis wie im Traum, ähnlich dem jungen Studenten in Carl Theodor Dreyers „Vampyr“ aus dem Jahr 1930. Die Geste des Filmemachers im Sarg ist die einer Solidarität mit den Toten, einer Vergemeinschaftung mit den Toten, die seine Freund:innen waren oder sind. Diese geben ihm etwas von sich, von ihren Bildern, die er für sie verwahrt; er steigt dafür (als Toter) in ihr Reich herab, um ihnen zu einem filmischen Nachleben zu verhelfen. Wofür er selbst ein wenig von seinem Leben dahingeben muss, in diesem Leichenwagen, der von dem großen kolumbianischen Filmemacher Víctor Gaviria gefahren wird.

Foto: Salzgeber

Was diese Gemeinschaft zwischen Lebenden und Toten webt, was die einen davor bewahrt, mit den anderen asozial zu werden, ist das Kino selbst, für Montoya „der einzige Ort, an dem er weinen kann“, also trauern. Montoya beschreibt, wie er selbst in den Jahren nach dem Tod von Pablo Escobar ohne Vater aufwuchs. Die hier Porträtierten bilden überhaupt eine „Generation ohne Väter“, die abwesend sind, gestorben, umgekommen. Eine Generation von queeren Leuten, aufgezogen von Frauen – und vom Kino.

Seine eigene Biographie vollzieht Montoya in einem Kameraschwenk nach, der von einem Ausblick auf die Stadt durch ein mit Erinnerungsgegenständen bestücktes Zimmer gleitet: Verlust des Vaters; Exkommunikation aus der Kirche (nach der Beichte des jungen Theo, er denke beim Masturbieren an Jesus, ein doppeltes Sakrileg); die Entdeckung der Straße mit 14 und die Rettung durch die Filme (an der Wand hängen Poster von „Titanic“ und „E.T.“). Die Biographien der anderen nimmt er hauptsächlich in einem mit Stühlen bestücken, nackten Raum auf, im Zuge eines Castings zu einem Spielfilm, den er plant, aber nie drehen wird. Montoya will Camilo Najar für die Hauptrolle, der aber kurze Zeit nach dem Casting stirbt.

Foto: Salzgeber

Die jungen Menschen erzählen von ihren Webcam-Auftritten und ihren Erfahrungen mit Drag, Drogen und HIV; ihren (oft im Fluss befindlichen) sexuellen Orientierungen; davon, dass sie Grafikdesign studieren oder Theater; dass sie nicht arbeiten und sich durchs Leben schnorren. Ihre Träume: Hollywood, Hormone nehmen, das Land verlassen. Es sind Träume von einer Verwandlung ihres Geschlechts, des Landes, des Ortes. Aber diese Träume sind zutiefst verzweifelt, denn sie sind hier entstanden, in Medellín, dieser Todes- und Alptraumfabrik. Und während sie so erzählen, entsteht ein Gedanke: Diese Menschen mit ihren Geschichten sind bereits Figuren einer Fiktion. Einer Wirklichkeit, die sie nicht wollte und auslöschte. Ist „Fiktion“ im Kino das Nachleben von Toten, dann ist Montoyas morbides (und dokumentarisches) Making-Of zu einem Film, der nie existieren wird, bereits selbst ein Werk der Fiktion – und dann ist diese Fiktion in Medellín vollkommen realistisch. Sie ist der einzige Weg, den vielen Toten gerecht zu werden, die sich im Laufe der Zeit im Leben des Regisseurs angehäuft haben.

Montoyas unrealisiertes Filmprojekt war ein „B-Movie über Geister“. Eine Allegorie auf die Gewalt von Pablo Escobar, der Narcos, der FARC, der Polizei, der Kirche, der Regierung. Escobar erscheint in dem Filmprojekt als „Vater einer vaterlosen Stadt“. Der „Vater“ ist in seinem Film also der Tod selbst, der nur immer wieder den Tod und neue Tote zeugt, der Ursprung einer patriarchalen Todesmaschine der toten (und tötenden) Väter. In dieser Welt ist das einzig mögliche Leben zum einen antipatriarchal, vaterlos und queer. Es ist außerdem ein filmisches Leben, ein durch Film gegebenes Leben. Und es ist das Leben von Toten, von Geistern. Die Toten sind so zahlreich in Montoyas B-Movie-Idee, dass sie keinen Platz mehr finden auf den Friedhöfen und zurückkehren, während die Jugend anfängt, sie zu begehren. „Spektrophilie“ heißt diese neue, von der Regierung schnell untersagte sexuelle Orientierung: Sex mit Geistern. Man fragt sich, ob Spektrophilie hier nicht auch ein anderes Wort für Cinephilie ist. Die Liebe zu Geistern ist die Liebe zum Kino. Eine Liebe, die den Vater ersetzt und der Nekropolitik der Väter widersteht.

Dieser Sex der Spektrophilen ist eine Wiederauferstehung des Lebens durch das Kino. Die Geister, die zurückkehren, kehren durchs Kino zurück, das heißt: aus den Filmen der Anderen. Als schwarze Wesen mit rot leuchtenden Augen erinnern die Geister faszinierenderweise an die Affen-Geister in Apichatpong Weeasethakuls „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010). Montoya denkt außerdem an kolumbianische Filme, etwa an jene seines Leichenchauffeurs Garivia, die er in seiner Jugend gesehen hat und die er einmal einmontiert: Leichen, Blut und queere Nachtclubsänger:innen aus einer anderen Zeit.

Ein Ausschnitt stammt aus „Pura Sangre“ von Luis Ospina, aus dem Jahr 1982. Man denkt bei Montoyas Film aber vor allem an Opinas wunderbaren letzten, testamentarischen Film „It All Started at the End“ von 2015, in dem der Regisseur die Geschichte der eigenen Krankheit mit jener der von ihm mitgegründeten, aus Filmemacher:innen, Autor:innen und Künstler:innen bestehenden Grupo de Cali und zugleich mit der Geschichte Kolumbiens verknüpft. Opinas Dokumentarfilm erzählt davon, wie die gewaltsame Realität der Achtzigerjahre in den Spielfilmen der Gruppe Eingang gefunden hat, und benennt das Kino als Möglichkeit, mit einer brutalen, grausamen Umwelt umzugehen. Gerade in diesem Film, der „am und mit dem Ende“ beginnt, nimmt sich ein (in diesem Falle altgedienter) Filmemacher zurück, um ausgehend vom eigenen sterbenden Körper eine Gruppe von Künstler:innen zu präsentieren, von denen die meisten bereits gestorben sind.

Foto: Salzgeber

Das Kino ist nicht einfach eine Kunstform, es ist ein Band des Lebens, welches Zeit und Verbindungen vom Ende her knüpft, also vom Tod aus, sie dort erfindet, wo sie im biologischen Sinne verfallen. Ebenso präsentiert Montoya seinen Körper als gestorbenen – nicht, um die heute allzu geläufige Geste vom „Tod des Autors“ zu wiederholen, sondern als Opfergabe an die Geschichte und die Toten, die sie bevölkern, und als Ursprung eines dokumentarischen Zugangs zur Realität, deren Form von Anfang an die Fiktion, das Erzählen ist, beginnend mit dem Körper des Autoren/Erzählers selbst.

Im kolumbianischen Kino, so kann die Hypothese lauten, bei Opina und nun auch bei Montoya, ist das dokumentierte, einfach nur gefilmte Leben nie einfach „rein“ oder „authentisch“. Es wird gestaltet, gespielt, inszeniert, ausgemalt, verwandelt. Es wird getanzt, high auf Drogen, mit Hormonen und in Träumen verbracht. Manchmal verkleidet es sich sogar, wie Montoya, als Leiche. Aber diese „Fiktion“, diese „Erzählung“ wird wiederum vom Tod selbst dirigiert, der ihr ein absolutes Gewicht und eine absolute Würde verleiht. Am Ende filmt Montoya die Freund:innen auf einem Friedhof. Und da verstehen wir, einfach nur, indem wir hinschauen, die wunderbare Intelligenz, Sensibilität und Genauigkeit seiner Mise en scène. Durch den Tod gewinnt Montoyas Kamera automatisch die richtige Distanz zu den gefilmten Trauernden – weil er selbst trauert. Da sind unsichtbare Fäden, Gitter, Stäbe, Architekturen der Trauer, die sich unsichtbar in den Raum eintragen, ihn strukturieren. Bestimmte Personen können in bestimmten Situationen und an bestimmten Orten nur auf eine bestimmte Weise gefilmt werden, und nur von bestimmten anderen Personen. Das ist Medellínsche Pädagogik. Die Pädagogik von Geistern.




Anhell69
von Theo Montoya
CO/RU/FR/DE 2022, 72 Minuten,
spanische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Ab 28. September im Kino

 


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