Amazing Grace (1992)
VoD & DVD
Amos Guttmans Klassiker „Amazing Grace“ aus dem Jahr 1992 verwandelt Konflikte des Alltags in eine Vision der Liebe im Angesicht von allgegenwärtigem Leid – so düster wie sensibel, schreibt Janick Nolting. Als erster israelischer Film, der sich mit der Aids-Krise beschäftigt, ist er zudem eng mit der Biografie des Regisseurs verbunden: Guttman starb am 16. Februar 1993 im Alter von 38 Jahren. Sein Gesamtwerk blieb in der Menge überschaubar, doch dessen Einfluss ist unschätzbar – zusammen mit der restaurierten Fassung von „Amazing Grace“ ehrt nun auch der neue Dokumentarfilm „Taboo“ Guttmans Schaffen.

Bild: Salzgeber
Zeit der Schwere
von Janick Nolting
Unbesorgte, ausgelassene erotische Begegnungen sind bereits in das Reich der Tagträume und Visionen verbannt. Als Jonathan, der junge Protagonist von „Amazing Grace“, ein Magazin mit freizügigen Bildern durchblättert, werden diese Bilder plötzlich in seinem schummrig beleuchteten Schlafzimmer lebendig. Halbnackte Männerkörper liebkosen einander, Hände streicheln zärtlich über Haut. Dann ist die Schwärmerei plötzlich zu Ende. Die lästige Familie platzt herein. Zurück im tristen Alltag. Jonathan ist Gefangener seiner Umstände, eine Figur, die ihr ganzes Leben erst noch vor sich hat, aber kaum noch weiß, wohin mit sich. Der Alltag rinnt ihm durch die Finger. Jede glückliche Fügung in der eigenen Biographie, egal ob sie die Liebe oder die berufliche Karriere betrifft, ist erstarrt und kommt nicht von der Stelle. Das Streben danach hat sich in einen Zustand der Frustration verwandelt, der auch den Umgang mit den Mitmenschen permanent zu einem emotionalen Pulverfass macht.
„Amazing Grace“ von 1992 ist der vierte abendfüllende Spielfilm von Amos Guttman und zugleich sein letzter. Im Jahr nach der Uraufführung stirbt Guttman mit 38 Jahren an den Folgen seiner Aids-Erkrankung. Mit ihm verließ ein künstlerischer Rebell des israelischen Kinos die Weltbühne, der ein überschaubares, aber nachhaltig prägendes Schaffen hinterlassen hat. Drei kurze und vier lange Filme hat er inszeniert. Er war es, der als Tabubrecher voranschritt und mit dem offen homosexuellen Film „Drifting“ Anfang der 1980er Anstoß für ein neues queeres Kino in Israel gab. Überhaupt sorgte die Auseinandersetzung mit totgeschwiegenem und stigmatisiertem Begehren in seinen „unbürgerlichen“ Filmen, wie er sie selbst bezeichnete, für Aufsehen – wenngleich die thematische Bandbreite Guttmans bedeutend größer ist.
Shauly Melamed hat die Karriere des Regisseurs in dem Dokumentarfilm „Taboo: Amos Guttman“ (2024) rekonstruiert, der auf der „Amazing Grace“-DVD enthalten ist. Mit altem Archiv- und Behind-the-Scenes-Material entwirft „Taboo“ das Porträt eines Widerständigen, der sich gegen einen Status quo gesellschaftlicher und künstlerischer Diskurse richtete. Was auch die Abkehr von einem angepassten patriotischen Kino einschließt, wie man in dem Dokumentarfilm erfahren kann. Guttman, der Luchino Visconti und Pier Paolo Pasolini zu seinen prägenden Einflüssen zählte, erscheint in dem Film in den letzten Zügen seines Lebens. In Ausschnitten aus seinem letzten Interview ist sein Körper sichtlich geschwächt. Guttmans Erfahrungen mit Krankheit und gesellschaftlicher Marginalisierung inmitten der Aids-Krise flossen dezidiert in die Arbeit an „Amazing Grace“ ein. Auch in dieser Hinsicht stach und sticht dieses Drama heraus. Seine offene, kompromisslose Auseinandersetzung mit HIV und Aids und der tabuisierten Lebensrealität junger Homosexueller galten als Novum und Meilenstein im israelischen Kino. Inzwischen liegt eine restaurierte Fassung des Films vor, die mit Guttmans Nichte Maureen Friedman und dem Kameramann Amnon Zalait zusammen entwickelt wurde.
Freudvolle Momente kennt „Amazing Grace“ selten, wenngleich hin und wieder ein morbider, abgründiger Humor durchschimmert. Mögen einzelne Schicksale in diesem Film noch so tragisch erscheinen; seine Figuren erkennen sich oft auch in einem Gefühl der Absurdität ihrer ganzen Existenz in einer Gesellschaft, die sie mit Ignoranz, Stigmata und Verachtung straft. Jede Abweichung von einer Norm soll sogleich wieder diszipliniert werden, oder man versucht schlichtweg, sie in den Mantel des Schweigens zu hüllen. Mit den zentralen Hauptfiguren Jonathan und dem älteren Thomas installiert Amos Guttman zwei entgegengesetzte Bewegungen im Drehbuch.

Bild: Salzgeber
Der eine, Jonathan, gespielt von Gal Hoyberger, will nach New York gehen, um Musik zu studieren. In Tel Aviv hält ihn nichts mehr. Seine Mutter und Schwester gehen ihm auf die Nerven. In der Liebe hat er wenig Erfolg. Sein Freund Micky geht ihm fremd. Er langweilt sich zu schnell. Der andere, Thomas, ist frisch aus Amerika zurück nach Israel gekehrt. Er hat sich mit HIV infiziert und ist unerbittlich mit dem eigenen Sterben konfrontiert, findet sich jedoch in einem Umfeld und einer Familie wieder, der er sich nicht ohne Weiteres anvertrauen kann. Sharon Alexander spielt diesen Mann mit eindringlichen, ermatteten und leidenden Blicken. Wiederholt tastet er nervös nach seinen Lymphknoten. Das Atmen fällt ihm schwer. Er wirft Pillen ein. Beruhigungsmittel, belügt er seine Mutter. Über seine Erkrankung spricht er nicht offen, auch wenn sie sich immer deutlicher in seine Körperlichkeit einschreibt.
In Jonathan findet er zunächst einen Erfüllungsgehilfen, um an Drogen zu kommen, damit das Schicksal wenigstens ein klein wenig erträglicher wirkt. Dieses Unterfangen gestaltet sich schwieriger als gedacht, aber die Verschlossenheit und anfängliche Kälte und Zurückweisung zwischen den beiden Männern taut langsam auf. Guttman suggeriert gar nicht erst, als würde sich mit diesen Anklängen einer Romanze irgendetwas fundamental ändern. Aber da erkennen sich zwei Charaktere in ihrer Einsamkeit, Perspektivlosigkeit und Bürde und in der Schwierigkeit, überhaupt mit anderen über ihre Empfindungen sprechen zu können. Zugleich wissen beide, dass ihre wenigen Momente körperlicher und emotionaler Nähe und Zuneigung auf Illusionen basieren. Die Lichtkontraste in den Aufnahmen überziehen Körper und Gesichter mit vielsagenden, dunklen Schattierungen. „Ich will mich nicht an etwas gewöhnen, das ich morgen nicht mehr habe“, sagt Jonathan in einer Szene im Bett, als die Affäre gerade an Fahrt aufzunehmen scheint. Damit ist die ganze Angst und Verletzlichkeit dieser Figur auf den Punkt gebracht. Begegnungen sind immer schon von einer Ahnung der Trennung, Auflösung, des Scheiterns oder gar einer Eskalation innerhalb der Familien und Freundschaften geprägt. Der melodramatische Gestus, der sich dadurch einstellt, wird zum Ausdruck eines ganzen Lebensgefühls, in dem sich mehrere Generationen vor der Kamera vereinen.

Bild: Salzgeber
In einer Bar wird über Tote gesprochen. Feierstimmung und gemeinsamer Drogenkonsum werden eher routiniert und rituell vollzogen, als dass sie tatsächlich gelebt werden oder etwas Ekstatisches bieten. „Amazing Grace“ folgt damit weniger einer stringent erzählten Handlung, sondern fächert eine Figurenkonstellation rings um Jonathan und Thomas in einer Phase des Übergangs auf. Kontakte werden gesucht und gehen wieder auseinander. Eltern und ihre Kinder können und wollen sich kaum noch einander in die Augen sehen. Man spricht in Verbitterung und Enervierung miteinander, voller Enttäuschung, dass der Mitmensch nicht dem eigenen Ideal entspricht.
Da gibt es Thomas‘ Mutter, die an ihrer eigenen Hilflosigkeit gegenüber ihrem Sohn verzweifelt. Das Thema Nachwuchs ist ohnehin längst abgeschrieben. Zugleich hat man innerhalb der Familie emotionale Panzer errichtet, die höchstens dann und wann von ein paar verbalen Giftpfeilen durchschossen werden. In „Taboo“ spricht Amos Guttman über eine markante Szene, die ihn immer wieder zum Weinen gebracht habe. Thomas betritt darin gegen Ende des Films die Wohnung, nähert sich seiner Mutter von hinten, umarmt sie leicht, gibt ihr einen Kuss und die Mutter greift nach einer Zigarette. Die Berührung wird zur Kompensation all dessen, was unausgesprochen in der Luft liegt. Zugleich ist sie Teil des Spiels eines geordneten Alltags, in dem schon längst nichts mehr in Ordnung ist.
In der nächsten Szene wird der Koffer gepackt. Abschiede stehen bevor. Thomas‘ Großmutter verbringt die meiste Zeit im Bett. Auch sie ist von Verbitterung und Kälte erfüllt und ihre zynischen Spitzen gehören zu den humoristischen Höhepunkten des Films, sofern einem in dem tief melancholischen Szenario überhaupt zum Lachen zumute ist. „Ich habe keine Zeit, nett zu sein“, sagt sie schroff. Sie verkümmert innerlich an der Erkenntnis ihrer Abhängigkeit im Alter und weiß, dass das Heim schon auf sie wartet. Vorher gilt es noch, über das zu reflektieren, was von der zerfallenden Familie einmal bleiben soll.

Bild: Salzgeber
Auch unter den anderen Figuren und Gefügen im Film setzen sich vergleichbare Dynamiken und Konflikte fort. Jonathan und Micky treffen wiederholt im überspielten Schmerz ihrer gescheiterten Beziehung aufeinander. Körperliche Intimität wird unterbrochen, zurückgewiesen, weil man sich plötzlich an den emotionalen Verrat erinnert. Micky flüchtet vor der Armee, die ihn einziehen will, und vor seiner Mutter, die ihn auf der falschen Bahn wähnt. Als das Unausweichliche eintritt, wird er mit einem gescheiterten Selbstmordversuch brutal aus der Handlung scheiden. Nicht einmal diese drastische Form der Erlösung bietet Guttman seinen Figuren in diesem düsteren wie hochsensiblen Film.
„Amazing Grace“ holt nicht zum wortgewandten Diskurs über die Tragweite und die Verheerungen der HIV-Pandemie aus. Stattdessen verdichtet der Film diese Krisenzeit auf wenige individuelle Erfahrungen und Berichte. Vor allem aber dominiert auch hier das Suchen nach einer Sprache, das Ringen um Worte. Thomas, der Erkrankte, wird immer wieder in seiner Isolation in Szene gesetzt, die auch die kurzen romantischen Begegnungen nicht zu überwinden vermögen. Jonathan erblickt ihn am Beginn allein am Fenster. Dann sitzt er draußen und wartet. Worauf eigentlich? Sterben wird er einsam in New York. Dialoge kreisen um die explizite Benennung des Übels. Man spricht vage miteinander und doch wissen alle, was gemeint ist. Einmal bringt Jonathan gegenüber Micky das Wechseln von sexuellen Partnern zur Sprache. Micky wähnt sich sicher mit seiner bedachten Auswahl. Zumindest tut er so. „Besser, nicht zu viel darüber nachzudenken“, wird der Austausch irgendwann abgebrochen. Also flüchtet man wieder in die Verdrängung, um nicht gänzlich zu verzweifeln.
Worauf kann man also noch hoffen in der Momentaufnahme, die Amos Guttman zu Beginn der 1990er einfängt? „Amazing Grace“ ist ein Film der ewigen, erdrückenden Kindheit und Abhängigkeit. Seine Konflikte sind existenzieller Natur zwischen Öffnung und Abschottung, Artikulation und Stillschweigen. Gesprochen und gehandelt wird in Verfassungen der Resignation und der permanenten Gereiztheit. Das Faszinierende dieses Films besteht aber auch darin, dass er manchmal ganz unscheinbare, beiläufige Momente als Ventil für all den angestauten Frust findet. Sei es in einer Form von Galgenhumor oder dann, wenn sich Figuren einfach mal nebeneinander auf eine Bank setzen. Oder dann, wenn Jonathan auf einem Liegestuhl in die Sonne schaut, während sich immerhin für wenige Sekunden ein Lächeln auf dem blassen Gesicht abzeichnet. Erstaunlich, dass man erst so spät erkennt, wie sehr man dieses abwesende Lächeln vermisst hat! Und für einen Augenblick scheint es so, als könnte doch noch etwas gut werden. Auch wenn dieses Etwas noch eine unbestimmte Idee bleibt.

Amazing Grace
von Amos Guttman
IL 1992, 99 Minuten, FSK 12,
hebräische OF mit deutschen UT
Ab 30.11. als VoD im Salzgeber Club, ab 27.11. auf anderen Plattformen. DVD-Start Ende Januar.