Drei Kilometer bis zum Ende der Welt
Trailer • Kino
Im Coming-of-Age-Thriller „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ muss ein Teenager in einem rumänischen Dorf den Widerstand von Familie, Kirche und Staatsgewalt überwinden, um frei leben zu können. Regisseur Emanuel Pârvu prangert neben immer noch alltäglicher Homophobie auch staatliche Korruption und religiösen Fanatismus an – und stellt deren zersetzende Kraft der atemberaubend schönen Natur des rumänischen Donaudeltas entgegen. Ab Anfang September laufen Previews in der Queerfilmnacht, vor dem Kinostart am 25. September. Esther Buss über ein messerscharf inszeniertes Drama und aufwühlendes Filmerlebnis.

Bild: Salzgeber
Weg, nur weg
von Estehr Buss
Zwei Sonnenuntergänge rahmen den Film wie eine Klammer, in den 24 Stunden, die dazwischen liegen, ereignen sich gewalttätige Übergriffe, und eine Familie zerfällt. Wenn Adi am Ende seinem Heimatdorf (und der Kamera) buchstäblich den Rücken kehrt und auf einem Motorboot davonfährt, hinein ins Bild und in die untergehende Sonne, wünscht man, dass er nie wieder zurückgeht. Sein Abschied ist kein Aufbruch, sondern Flucht, ein Gefängnisausbruch.
Das Dorf im Donaudelta ist malerisch gelegen, die Natur mit ihren sanften, von Schilf umrandeten Küsten wirkt unberührt. Man muss den Wasserweg nehmen, um an Land zu gelangen, zwischen den wenigen, von Gartenzäunen eingefassten Häusern liegen sandige Straßen. Auch die örtliche Polizei ist ausschließlich zu Fuß unterwegs. Der Großteil ihrer Arbeit spielt sich nicht im Präsidium, sondern draußen oder vielmehr ‚dazwischen‘ ab: auf den Wegen, vor den Häusern und Vorgärten. Auf der Veranda von Zenţov, dem Vater zweier geständiger Täter, wird ein Verhör abgehalten, der Gastgeber serviert Weißwein und kalte Vorspeisen. Die Verwischung von Grenzen, Positionen und Zuständigkeiten ist im Dorf Normalität.
Adi (Ciprian Chiujdea) ist nachts auf offener Straße brutal zusammengeschlagen worden. Der 17-jährige, der vor dem Beginn seines Studiums einen letzten Sommer zu Hause verbringt, kann nur mit Mühe aus den zugeschwollenen Augen schauen, auch sein Rücken ist mit Hämatomen übersät. Eine ärztliche Untersuchung findet in Anwesenheit des Polizeipräsidenten (Valeriu Andriutâ) und der Familie statt, die Eltern (Bogdan Dumtrache und Laura Vasiliu) erstatten Anzeige. Adis Vater Florin verdächtigt Zenţov, bei dem er hoch verschuldet ist, dahinter zu stecken. Und tatsächlich führen die Befragungen schnell zum Strippenzieher des Ortes, wenn auch die Hintergründe des Verbrechens andere sind.
Kaum haben die Täter ihr Motiv ausgesprochen – Adi habe einem Touristen aus Bukarest die Hand geleckt, ihn umarmt und geküsst – dreht sich die Situation und das Opfer ist plötzlich der Schuldige. Zenţov bittet den befreundeten Polizeipräsidenten, die Unterlagen nicht an die zuständigen Behörden in der nahe gelegenen Stadt Tulcea zu schicken, im Gegenzug könne er seinen Antrag auf Vorruhestand durchwinken, sein Schwager sei jetzt Leiter der Bezirksinspektion. Als Adis Eltern, mit denen er eigentlich ein liebevolles Verhältnis hat, von seiner sexuellen Orientierung erfahren, eskaliert die Situation. Die Mutter weint und rennt zum Priester, der Vater nimmt ihm das Handy ab und setzt ihn unter Arrest. Mitten in der Nacht wird Adi aus dem Schlaf gerissen, gefesselt, geknebelt und einem Exorzismus unterzogen.

Bild: Salzgeber
Emanuel Pârvu ist Filmemacher und Schauspieler, er hatte etwa Rollen in Cristian Mungius „Graduation“ (2016) und „Tales from the Golden Age“ (2009), bevor er nach einigen Kurzfilmen mit „Meda or the Not So Bright Side of Things“ (2017) sein Spielfilmdebüt drehte. Als Schauspieler war er zuletzt in Călin Peter Netzers Spielfilm „Familiar“ (2023) zu sehen, „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ ist seine dritte Regiearbeit.
Für eine bestimmte Spielart des rumänischen Kinos ist der Film geradezu prototypisch: lange, sorgfältig beobachtete Szenen, die Betonung der Einheit von Raum und Zeit, keine Schuss-Gegenschussaufnahmen, eine Fallgeschichte, die durch ihren sezierenden Blick auf menschliche Interaktion und behördliche Arbeit auf größere gesellschaftliche Komplexe und Strukturen verweist. Erzählerisch wie formal mag das nicht unbedingt neu sein, doch die Relevanz des Films liegt in einer anderen Aktualität begründet. Seit der Hochphase von Filmemachern wie Cristian Mungiu, Cristi Puiu und Corneliu Porumboiu, die die rumänische Welle entscheidend prägten, hat sich die Welt fundamental geändert. Die allgegenwärtige Korruption, die Verfilzung von staatlicher Macht und Kirche und die tief verankerte Homophobie, die Emanuel Pârvu mit messerscharfer Präzision schildert, lässt sich nicht mehr als das Problem rückständiger Dörfler abtun, und ebenso wenig als Phänomen, das aus dem Zusammenbruch des Sozialismus geboren wurde.
Die weltweit verbreitete Rhetorik der autokratischen Rechten und das verschwörungstheoretische Gehetze hat auch in den entlegensten Winkeln des Donaudeltas Einzug gehalten. Es müsse doch in seinem Sinn sein, dass sich die Sache nicht rumspreche, meint Zenţov zum Polizeipräsidenten, sonst würde das Dorf bald vor „Schwuchteln“ wimmeln. Sie würden alle Arten von Drogen mitbringen und an jeder Ecke herumlungern, er habe die Idioten ja sicher im Fernsehen gesehen: „mit nackten Hintern, voll mit Piercings und so“. Auch die orthodoxe Kirche mixt ihre mittelalterlichen Praxen mit ‚neuem‘ Querdenkertum. Ob Adi eine Covid-Impfung bekommen habe, erkundigt sich der Priester. Man solle den Jungen nicht seiner „Krankheit“ überlassen, bevor es zur Heilung zu spät sei, der Mutter legt er nahe, ihn ins Kloster zu stecken.

Bild: Salzgeber
Die Bewegungen im Film kreisen zwar um Adi, als Figur steht er aber nicht unbedingt im Zentrum, und was in ihm vorgeht, bleibt eine Leerstelle. Pârvu geht es mehr um die Dynamiken, die durch den Gewaltakt in Gang kommen oder genauer: ausgebremst werden. Die Ruhe, mit der im Dorf die Dinge geregelt werden, ist dabei so trügerisch wie die idyllische Natur, Inszenierung und Bildkompositionen legen die dahinterliegenden Mechanismen offen.
Die körperliche Misshandlung findet im erzählerischen Off statt, auch versteckt sich die patriarchale Gewalt gerne hinter verständnisvollen Gesten, man spricht leise und am liebsten außerhalb der Dienstrolle und des Protokolls. Pârvu und sein Bildgestalter Silviu Stavilâ zeichnen Hierarchien und Machtverhältnisse regelrecht ins Bild, entscheidend ist die Anordnung der Figuren und die Wahl der Kameraperspektive. Türschwellen und Spiegel trennen Adi von seiner Familie, beim Gespräch mit seinem Vater sitzen beide wie bei einem Verhör gegenüber, beim tatsächlichen Verhör dagegen nimmt der Vater der Täter leger neben der Exekutive Platz. Bei einer Unterredung mit Zenţov wird der Polizeipräsident vom Gartenzaun verdeckt, während eine Beamtin vom Jugendamt sich im Unschärfebereich der Kamera auflöst, bevor sie als Figur zum ersten Mal sichtbar wird.
Ihr Kommen, ausgelöst durch den Telefonanruf von Adis einziger Vertrauten Ilinka, bringt noch einmal Bewegung in das Drama, und wird doch nicht für Gerechtigkeit sorgen können. So bleibt am Ende nur ein „Deal“, der das System unangetastet lässt.

Drei Kilometer bis zum Ende der Welt
von Emanuel Pârvu
RO 2025, 105 Minuten, FSK 12,
rumänische OF mit deutschen UT, deutsche SF
Im September in der Queerfilmnacht. Ab 25. September im Kino