Paris is Burning (1991)
VoD
Nach seiner Premiere beim Sundance Film Festival 1991 wird „Paris is Burning“ von Jennie Livingston zum ersten weithin bekannten Dokumentarfilm über die queere Schwarze- und Latinx-Ballroom-Szene in Harlem – ein Erfolg, mit dem wahrscheinlich weder die Regisseurin noch die Mitwirkenden gerechnet hätten. Niemand ahnte, wie sehr dieses Zeugnis über Jahrzehnte hinweg das populäre Verständnis der Ballroom-Kultur prägen würde. Für sissy-Autorin Anja Kümmel ist der Film immer noch aktuell: „Durch seine nicht-lineare, nuancenreiche Machart zeigt der Film ganz nebenbei eine Vielfalt an Perspektiven und Identitäten, die heute unter dem Sammelbegriff ‚queer‘ Platz finden.“

Bild: Janus Films
Im Rausch der Ballnacht
von Anja Kümmel
„Paris is Burning“ beginnt und endet auf der Straße. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil wir heute wahrscheinlich vor allem das Geschehen im Innern der Ball Rooms in Erinnerung haben, wenn wir an Jennie Livingstons Kult-Klassiker von 1991 denken: die stilisierten Dance Moves und exaltierten Posen, die schrillen Kostüme und turmhohen Perücken, die Aufregung der Teilnehmenden und das quirlige Durcheinander im Publikum. Vielleicht sehen wir auch Pepper LaBeija – Mutter (und Vater!) des House of LaBeija – vor uns, wie sie in ihrem ausladenden goldglänzenden Outfit den Saal betritt. Und damit sowohl einen Fantasieraum, in dem sie einen Abend lang ein glamouröses, erfolgreiches Supermodel sein kann, als auch den sehr realen Raum einer alternativen Art der Verwandtschaft, in dem queere Menschen of Color einander unterstützen und wertschätzen.
Bezeichnend ist aber eben auch das Über-die-Schwelle-Treten, mit dem die Doku einsetzt. Die Durchlässigkeit der Räume, die Fluidität zwischen Innen und Außen, zwischen verschiedenen Identitäten und Zeiten. In den Anfangsszenen, und immer wieder zwischengeschnitten, sehen wir eine untergegangene Welt voller Freiräume für Queers und PoC, aber auch voller Unterdrückung und potentieller Gefahr. Wir sehen, wie die Hip-Hop-Street-Culture in die Ballrooms einfließt, wir sehen queere Kids und Sexarbeiter:innen am Christopher-Street-Pier herumhängen, erste Voguing Moves ausprobieren, einander anfeuern und im geschützten Kreis Gleichgesinnter Zärtlichkeiten austauschen. Dass wir uns in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, mitten in der Amtszeit von Ronald Reagan und zu Hochzeiten der AIDS-Krise befinden, bleibt eher Hintergrundfolie. Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit und Gewalt sickern als Teile der Lebensrealität vieler Protagonist:innen zwar immer wieder ins Filmmaterial, werden jedoch selten explizit verhandelt. Stattdessen konzentriert sich der Film bewusst auf die Momente der Freude und des Glamours, kondensiert im Rausch der Ballnacht und der fiebrigen Erwartung des Events, auf den Zusammenhalt, den Einfallsreichtum und die Widerstandskraft queeren Lebens am Rand der Gesellschaft.
Mitte der 80er Jahre ist Jennie Livingston eine junge angehende Filmemacherin, die mit einem Yale-Abschluss in der Tasche frisch nach New York gezogen ist, dort die Voguing-Kultur entdeckt und beschließt, darüber ihren ersten Langfilm zu drehen. Nach sieben Jahren Dreharbeiten und der Premiere der finalen Fassung auf dem Sundance Film Festival 1991 wird „Paris is Burning“ zum ersten weithin bekannten Dokument der queeren Schwarzen und Latinx-Ballroom-Szene in Harlem, ein Erfolg, mit dem wahrscheinlich weder die Regisseurin noch die Mitwirkenden gerechnet hätten. So erscheinen viele kleine Entscheidungen des Filmteams im Nachhinein ungleich gewichtiger, da wohl niemand ahnen konnte, wie sehr dieses Zeugnis über Jahrzehnte hinweg das populäre Verständnis der Ballroom-Kultur prägen würde.
Im Laufe der 1960er Jahre hatte sich die Ballroom-Szene in New York City aus einer Bewegung zumeist afroamerikanischer und lateinamerikanischer Akteur:innen der queeren und trans Subkultur entwickelt, als Gegenentwurf zur überwiegend weiß und cis-männlich dominierten Gay Bar Culture und dem strukturellen Rassismus herkömmlicher Drag Balls. In den neu erschaffenen Räumen wurde Intersektionalität verstanden und Inklusion gelebt, lange bevor diese Begriffe gebräuchlich waren. So zeichnet sich Ballroom durch eine Vielzahl innovativer Kategorien aus (Executive Realness, Luscious Body, Schoolgirl/-boy, Face, Butch Queen etc.), um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht jeder:r wie ein Las-Vegas-Showgirl aussehen kann oder will. Zugleich dienen die „Häuser“, in denen sich viele Mitglieder der Ballroom-Szene organisieren, als alternative Familien, in denen insbesondere queere und trans Jugendliche, die von ihren Herkunftsfamilien verstoßen wurden, Unterstützung, Rückhalt und Anleitung erfahren.

Bild. Janus Films
All dies transportiert „Paris is Burning“, allerdings nicht im Sinn einer kleinen Geschichtsstunde für Außenstehende. Vielmehr erschließt es sich Stück für Stück, in einer immersiven Collage aus Szenen der Bälle, der Piers und der Straße sowie Ausschnitten aus Interviews, die Livingston mit einigen der zentralen Protagonist:innen führte: Neben Pepper LaBeija kommen vor allem Dorian Corey, Octavia St. Laurent, Willi Ninja, Venus Xtravaganza, und Angie Xtravaganza zu Wort. Anstatt ein lineares Narrativ zu erschaffen, dient die komplexe Choreographie aus Bildern, Kommentaren und Sound dazu, Affekte zu erzeugen und queere Möglichkeitsräume zu eröffnen, die außerhalb von Raum und Zeit liegen. Einzig in Zwischentiteln eingeblendete Begriffe wie „Legendary“, „Shade“ oder „Reading“ strukturieren den Film offenkundig für ein mit dem Phänomen „Ballroom“ unvertrautes Publikum.
„Paris is Burning“ ist also beileibe kein Produkt, das Queerness für ein Mainstream-Publikum nachvollziehbar machen will – und paradoxerweise doch genau das geschafft hat. U.a. gewann er den Großen Preis der Jury als bester Dokumentarfilm auf dem Sundance Film Festival und den Teddy Award für den besten Dokumentarfilm auf der Berlinale 1991. Zudem spielte er die für einen Independent-Dokumentarfilm unglaubliche Summe von fast vier Millionen Dollar ein, von denen die Mitwirkenden jedoch nur einen Bruchteil sahen, was im Nachgang zu einem Rechtsstreit führte und bei einigen der Protagonist:innen das bittere Gefühl hinterließ, ausgebeutet worden zu sein.
Gerade der unerwartete und anhaltende Erfolg des Films sorgt dafür, dass Fragen nach Aneignung und Repräsentation immer wieder aufgeworfen werden. Bereits kurz nach der Veröffentlichung kritisierte bell hooks in ihrem Essay „Is Paris burning?“ den „ethnographischen Blick“ und die „imperiale, alles überschauende Position“, die Livingston ihrer Meinung nach einnimmt, um ein Spektakel für weiße Zuschauer:innen zu kreieren.

Bild: Janus Films
Tatsächlich ist Livingston, die sich selbst als „weiße, jüdische, akademisch gebildete Lesbe“ bezeichnet, zu Beginn der Dreharbeiten kein Teil der Ballroom-Szene, sondern nähert sich ihrem Thema als „eine Außenstehende, die hineinblickt“ (hooks). Im Film selbst bleibt ihre Position unklar, da zwar an einigen Stellen ihre Stimme zu hören ist, sie jedoch unsichtbar bleibt.
Der Eindruck einer allwissenden, vermeintlich objektiven Perspektive stellt sich beim Schauen des Films dennoch nicht ein. Im Gegenteil: Die Kamera ist oft so nah an den Figuren dran, dass nur Teile ihrer Körper und Kostüme erkennbar sind. Schräge Bildausschnitte und exzentrische Frames fangen das schwindlige Chaos der Bälle ein, in das die Zuschauer:innen allein durch die Kraft der Bilder hineingezogen werden, ohne den Anspruch zu erheben, alles erklären oder begreifen zu wollen, was vor sich geht. Die ganz unterschiedlichen, einander teils widersprechenden Stimmen und Bilder lässt Livingston unkommentiert nebeneinander stehen.
„Ich möchte ein verwöhntes reiches weißes Mädchen sein“, sagt etwa Venus Xtravaganza, eine junge trans Frau mit puerto-ricanischen Wurzeln: „Ich will ein Auto. Ich will irgendwo hin, wo mich keiner kennt, weit weg von New York, mit dem Mann leben, den ich liebe.“ Sehnsüchte, die sich allzu leicht in eine binäre Geschlechterlogik und die unkritische Nachahmung einer weißen Konsumgesellschaft einordnen lassen. An einer anderen Stelle jedoch, auf ihre Tätigkeit als Escort angesprochen, liefert Venus nonchalant ein äußerst pointiertes Statement ab, das sich weitaus subversiver lesen lässt: Eine Mittelklasse-Hausfrau in der Vorstadt, die von ihrem Ehemann eine neue Waschmaschine möchte, mache im Prinzip die gleiche Art von Sex Work wie Venus, um von ihrem Kunden ein neues Outfit für den nächsten Ball geschenkt zu bekommen.
Während einige der interviewten trans Frauen davon träumen, durch eine geschlechtsangleichende OP „eine komplette Frau“ zu werden, steht Pepper LaBeija, die weibliche Pronomen bevorzugt, sich aber nicht als Frau identifiziert (und sich heute vielleicht als nicht-binär definieren würde?) geschlechtsangleichenden OPs kritisch gegenüber. Auch potentiell toxische Dynamiken innerhalb der Houses und auf den Wettbewerben werden angesprochen, etwa wenn eine der Interviewten sich über zu strenge Auslegungen der Kategorie-Regeln und übertriebenes Konkurrenzgehabe („War on the floor“) mokiert, oder eine Ballszene in einem lautstarken Wortgefecht über die Frage endet, auf welcher Seite sich die Knopfleiste eines Pelzmantels befindet.

Bild: Janus Films
Die häufig geäußerte Kritik, „Realness“ würde einzig und allein bedeuten, so sehr wie möglich einem reichen, weißen Top-Model zu gleichen, ist ebenfalls zu kurz gegriffen. Was wir auf den improvisierten Laufstegen in „Paris is Burning“ sehen, ist ganz offensichtlich ebenso „fake“ oder ebenso „real“ wie die Anzugträger und Frauen in Business-Kostümen in den Alltagsszenen aus dem heterosexuellen Mittelschichtleben, die Livingston gekonnt dazwischen montiert. So kann man das Wetteifern um „Realness“ als ein Bemühen um Nachahmung oder „Passing“ lesen – genauso gut aber auch als gewitzte Parodien auf den weißen Amerikanischen Traum. Kein Wunder, dass der Film sofort von den zeitgleich aufkommenden Queer- und Gender-Studies aufgegriffen und in vielen Colleges gezeigt wurde, um Judith Butlers Konzept von „Geschlecht als Performance“ zu illustrieren.
Durch seine nicht-lineare, nuancenreiche Machart zeigt der Film ganz nebenbei eine Vielfalt an Perspektiven und Identitäten, die unter dem Sammelbegriff „queer“ Platz finden – wohl nicht zuletzt deshalb wirkt er auch heute noch so aktuell und wird immer wieder als Inspirationsquelle zitiert. Ohne „Paris is Burning“ gäbe es wahrscheinlich weder „RuPaul’s Drag Race“ noch Serien wie „Pose“ und „Legendary“, oder die Doku „Kiki“ von 2016, die sich einer neuen Generation der New Yorker Ballroom-Szene annimmt. Dass diese Serien und Filme von queeren Menschen of Color, die selbst in der Ballroom-Szene verortet sind, (mit)gestaltet werden, zeugt von einem gewachsenen Bewusstsein darüber, wer wessen Geschichte erzählen darf, und von einer graduellen Umverteilung von Einfluss und Ressourcen – auch dies vielleicht ein Vermächtnis der Debatten rund um „Paris is Burning“.
Vieles hat sich in den letzten 35 Jahren verbessert: Es gibt effektive AIDS-Therapien, mehr (positive) mediale Repräsentationen von queeren und trans Menschen of Color und mehr Eltern, die ihre Kinder so akzeptieren, wie sie sind. Die Freiräume und Refugien jedoch, die wir im Film sehen, sind für immer verloren: Nicht lang nach Abschluss der Dreharbeiten wird Rudy Giulianis strikte Law-and-Order-Politik die ohnehin schon durch die fortschreitende Gentrifizierung in Bedrängnis geratenen Räume endgültig zerschlagen und Manhattan in ein familienfreundliches, dem Kommerz huldigendes Disneyland verwandeln. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir eine erneute Zunahme von Hassverbrechen gegen queere Menschen, transfeindliche Gesetzgebungen und ein Wiederaufleben von White-Supremacist-Ideologien sehen, wird das Fehlen von Räumen für DIY-Kultur und Orten des lebendigen Widerstands, wie sie in „Paris is Burning“ blühen und gedeihen, schmerzlich spürbar.
Paris is Burning
von Jennie Livingston
USA 1991, 71 Minuten, nicht FSK-geprüft
englische OF mit deutschen UT
Auf VoD