Lars Werner: Zwischen den Dörfern auf hundert

Buch

Speed, Pogo und Trash-Outfits als Antwort auf Nostalgie, Kitsch und Geschichtsvergessenheit. Lars Werner („Weißer Raum“) erzählt in seinem Debütroman von den Coming-of-Age-Wirren des Teenagers Benny, der im Dresden der Jahre 2005/06 eine Ersatzfamilie in der Punk-Szene findet und so Stück für Stück sein queeres Selbst begreift. Dass dabei nicht nur Bennys eigene Vorstellungen von der Welt, sondern auch sämtliche Romantikklischees vom „Elbflorenz“ Dresden gegen den Strich gebürstet werden, macht nur einen Teil des  anarchischen Charmes des Buches aus. Unser Rezensent Gabriel Wolkenfeld hat sich mit „Zwischen den Dörfern auf hundert“ auf die Überholspur begeben und dabei ein Buch entdeckt, das berührt, überzeugt und manchmal auch weh tut.

Das Herz schlägt links

von Gabriel Wolkenfeld

Wie brutal es doch ist, das Erwachsenwerden: Per Schleudersitz wird man ins sogenannte Leben hineinkatapultiert. Ohne Kompass treibt man darin umher, bemüht, sich über Wasser zu halten, ohne Ahnung, wohin es gehen soll, hilflos den Hormonen ausgeliefert. Die wüten und wüten. Zudem die Angst, nicht akzeptiert zu werden, vom Chor der Normalos oder, wenn man sie denn überhaupt ausmacht, von seinesgleichen. Unbedingt begleitet die Pubertät auch das geballte Unverständnis der Eltern für die eigenen Bedürfnisse.

Seinen ersten Roman „Zwischen den Dörfern auf hundert“, erschienen im Albino Verlag, widmet Lars Werner diesem Chaos des Erwachsenwerdens. Was das Buch von anderen Titeln seines Genres unterschiedet, ist zunächst einmal das besondere Setting: Die Geschichte nämlich spielt in zwei aufeinanderfolgenden Sommern kurz nach der Jahrtausendwende. Der Osten scheint endgültig abgehängt. Ein Hitzerekord jagt den nächsten, 2006 wiegt sich Deutschland im Taumel der WM. Benny, durch den Umzug seiner Familie von Dresden in ein Vorstadt-Dörfchen verbannt, bieten sich nicht viele Optionen: im Mainstream mitschwimmen und das Wachkoma als Daseinsform akzeptieren oder nach links oder rechts ausscheren. Während seine Haltestellenbekanntschaft zum Hilfsfascho mutiert, schließt sich Benny den Linken an.

Der Auftakt ist fulminant und katapultiert uns direkt ins Geschehen hinein: In einer Vorblende begleiten wir den jungen Protagonisten auf eine improvisierte Party. Seine beste Freundin legt in einem Kellerraum mit einem Hammer einen zweiten Keller frei: Das „Loch“ ist geboren. Die Party kann steigen. Benny und sein bester Freund Arne trinken um die Wette widerliche Getränke mit z.T. albernen Namen, Mäusepisse etwa. Während des Konzerts fallen die Faschos ein und mischen das linke Publikum auf. Unerwartet kommt es in diesem Schlamassel zwischen den Freunden zu einem Kuss, der die ganze Welt auf den Kopf stellt.

Lars Werner – Foto: privat

Insgesamt tapst Benny ziemlich unbeholfen durch den Alltag. Er weiß nicht, was er sagen soll. Er weiß nicht, was er anziehen soll. Er weiß nicht, wohin. Ihm gelingt es nicht einmal, Interesse für die eigene Zukunft aufzubringen. Die Avancen seiner besten Freundin übersieht er. Die Annäherungsversuche seiner männlichen Freunde bereiten ihm Kopfzerbrechen. Man möchte ihm zurufen. Man möchte ihn anschreien. Und dann in den Arm nehmen. Es berührt, mitzuverfolgen, wie er sich trotz allem behauptet. Durch die limitierte Erzählperspektive entsteht eine Nähe, die mitunter wehtut: Man wird zurückgeworfen in die Zeit, als man selbst Teenager war, unfähig, die Welt zu begreifen und die vielen widersprüchlichen Signale zu deuten.

Benny stolpert hinein in die linke Subkultur. Doch Überzeugungen? Fehlanzeige. Picklig ist der junge Mann, Zehntklässler ohne Plan und Peilung. Übergewichtig, rothaarig, mit Nachnamen Winter – ein verhaltener Einspruch gegen die drückende Hitze? Dass sein Protagonist zunächst einmal ziemlich blass daherkommt, ist Teil von Werners Konzept: Benny ist eben noch kein fertiger Mensch, niemand, der sich gefunden hat. Gerade weil er kein Überflieger ist, fällt es leicht, sich mit ihm zu identifizieren. Die Perspektive des unbedarften Neulings ermöglicht zudem den Blick über die Schulter: Vom ersten Schritt sind wir bei Bennys Punkwerdung dabei.

Während Benny zunehmend an Kontur gewinnt, verharren die Nebenfiguren größtenteils in Posen. Ruft man sich ins Gedächtnis, dass allein ein lässiger Spruch, ein cooler Style, ein unvorsichtig hingeworfenes Lächeln das Teenagerherz höherschlagen lässt, ist auch das schlüssig. Zum Figurenensemble gehören eine Handvoll in Maßen unangepasster Heranwachsender – der Chaosmensch Arne, mit sich bereits abzeichnender Glatze und Pornobärtchen, Rob, Sänger in einer Punkband, Liz, die auffällig gestylte Unnahbare, Maren, ihre kleine Schwester, eher zurückhaltend, der Hauptfigur als eine Art Schatten an die Seite gestellt, Draufgänger Mischa, genannt Schweißer, russlanddeutscher Herkunft, der sich, wenn es sein muss, eine Schlägerei mit dem Nazinachwuchs liefert. Insgesamt handelt es sich bei der Truppe um eine Art Schicksalsgemeinschaft am linken Rand der Gesellschaft, Heranwachsende, durchs Raster gefallen, ausgestoßen oder verlorengegangen.

Werner zeichnet ein überzeugendes Porträt der linken Szene. Er trifft ihren eigenwilligen Humor, diese besondere Mischung aus Ulk und Trotz. Er stellt ihre Abneigung gegen Vater Staat und Mutter Heimat dar. Er führt vor, wie divers die Szene ist, deutet aber auch an, dass sich die Menschen, die sich in ihr bewegen, oftmals gegenseitig kopieren, dass Originalität mit Monotonie einhergeht. Er zeigt den Einfallsreichtum, mit dem sich Menschen behelfen müssen, um finanzielle Nöte zu kompensieren. Prügeleien mit Nazis inszeniert er, ebenso Straßenschlachten mit der Polizei. Getrunken wird bei jeder Gelegenheit, konsumiert, was an Drogen in Reichweite ist. Süß ist der Rausch, angenehm der Nebel.

Dem Chaos im Leben seines Protagonisten kommt Lars Werner bei, indem er es chronologisch schildert. Erzähltechnisch geht er kein großes Risiko ein. Verflochtene Handlungsstränge gibt es nicht. Zugunsten einer stringenten Erzählung verzichtet der Autor auf allzu krasse Schnitte und gehetzte Sprünge durch Zeit und Raum. Geschickt spielt er mit dem Tempo: die drögen Tage im Abseits des Dorfes werden ebenso nachvollziehbar wie das Leben auf der Überholspur. Nebenbei legt Werner behutsam die Ursachen für die seelische Misere des Teenagers frei: Bennys Vater gelingt es nicht, Nähe zuzulassen. Mit seinem Sohn findet er keine gemeinsame Sprache. In einer Excel-Tabelle listet er neben den Ausgaben für Haushalt und Sanierung auch Geburtstagsgeschenke und Aufwendungen für Klassenausflüge auf. Der Sohn, degradiert zum Objekt, erfährt keine Liebe. Die Mutter, durch ihr schlechtes Gewissen an den Ehemann gebunden, bemüht sich um Schadensbegrenzung. Kein Wunder also, dass der Sohn der emotionalen Verwahrlosung seines kleinbürgerlichen Elternhauses entflieht.

Lars Werner, bisher mit Theaterstücken hervorgetreten, legt mit „Zwischen den Dörfern auf hundert“ einen beachtenswerten Erstling vor. Es gelingt ihm, die Atmosphäre der frühen Zweitausender beeindruckend abzubilden, gerade im Hinblick auf seine Heimatstadt Dresden und die Konflikte zwischen links und rechts. Ein handwerklich solider Roman, der im unaufgeregten Sinn auf der Höhe unserer Zeit ist.




Zwischen den Dörfern auf hundert
von Lars Werner
Hardcover, 248 Seiten, € 24,
Albino Verlag

 

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