Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils

Buch

„Ich gehöre zu den Frauen, die sich in Frauen verlieben“. Mit dieser unmissverständlichen Selbstbeschreibung ihrer Romanfigur hat die taiwanesische Autorin Qiu Miaojin einst ein Tabu in der Literatur ihrer Heimat gebrochen. Mit 25 Jahren Verzögerung ist ihr erster Roman „Aufzeichnungen eines Krokodils“ endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen. Das Buch über die inneren Kämpfen und den Liebesschmerz der Studentin Lazi gehört heute zu den zentralen Werken der queeren Literatur Asiens. Axel Schock über das Debüt einer früh verstorbenen Ikone der LGBT-Bewegung in Taiwan.

Tod aus Lebenssehnsucht

von Axel Schock

Sarah Kanes letztes Theaterstück ist ihr bekanntestes. Auch zehn Jahre nach ihrem Tod steht „4.48 Psychose“ auf den Spielplänen. Doch man kann es nicht unbefangen lesen, anschauen oder inszenieren. Der Freitod der queeren Dramatikerin 1999, nur wenige Tage nach Abschluss dieser komplexen Meditation über gescheiterte Liebesversuche, Depression und der langsamen Selbstauflösung, zwingt unweigerlich dazu, den Text der Britin autobiografisch zu lesen. Die Umstände ihres Todes überlagern zwangsläufig die Rezeption durch die Zuschauer*innen und Leser*innen. Qiu Miaojin ist ein ähnlicher Fall. Wenige Monate nach Erscheinen ihres Erstlingswerks, am 25. Juni 1995, beging sie in ihrem Pariser Studentenwohnheim Suizid. Nach einem heftigen Streit hatte Qiu befürchtet, die Beherrschung zu verlieren und ihrer Freundin Gewalt anzutun. Qiu Miaojin starb, wie Sarah Kane, im Alter von 26 Jahren. Die Veröffentlichung der „Aufzeichnungen eines Krokodils“ hat sie zwar noch miterlebt, doch nicht mehr den verspäteten Erfolg. Einen weiteren Roman hatte sie noch fertiggestellt: „Méngmǎtè yíshū“ („Letzte Worte aus Montmartre“) ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden und handelt von einer Trennung und einem Freitod.

Und auch in den „Aufzeichnungen eines Krokodils“ ist der Suizid eine immer wieder erwogene Option. An ihrem 20. Geburtstag möchte die Studentin Lazi, die Ich-Erzählerin des Romans, eigentlich ihr Leben beenden, sie „scheitert“ jedoch. „Ich hab’s nicht geschafft, mein Leben fortzuwerfen und so jung in den Tod zu springen“, schreibt sie ihrer Ex-Geliebten Shuiling, einer Kommilitonin. „Für mich kommt nur ein kurzes Leben infrage, das hatte ich mit mir selbst ausgemacht. Aber die Stärke, die für so einen Schritt nötig ist, brachte mein Körper dann doch nicht auf.“

Qiu Miaojin – Foto: privat

Es liegt nahe, sowohl die „Aufzeichnungen eines Krokodils“ wie auch den Nachlassroman autobiografisch zu lesen: als das Werk einer lebensmüden, an Depressionen und Lebensangst leidenden Frau, die den Kampf dagegen verloren, ihn vielleicht nicht einmal wirklich aufgenommen hat. Für die Verlegerin Ulrike Helmer, die den Roman nun 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung herausgebracht hat, wird diese Lesart der Autorin allerdings nicht gerecht: „Eines muss dick unterstrichen werden“, schreibt sie in einer Nachbemerkung. „Qiu Miaojin starb aus Lebenssehnsucht, nicht aus Todeslust.“ Und weiter: „Sie wollte frei leben und lieben können – auch, wenn sie sich für dieses ‚verbrecherische, sündige Verlangen‘, für ihren Hunger auf ‚vergiftete Nahrung‘ kasteite, für die Gier nach Leidenschaft und nach Liebe verachtete.“

Und von diesem inneren Widerspruch handeln die „Aufzeichnungen eines Krokodils“. Qiu Miaojin erzählt von einer jungen Frau, die sich vom Studium an einer Elite-Universität in Taipeh erhofft, sich von ihrem Elternhaus und dessen hohen Erwartungen lösen und zugleich zu sich selbst finden zu können. Was sie eigentlich studiert hat, erfahren wir nicht einmal, als Lazi nach acht Semestern mit einem Bachelor-Abschluss die Uni verlässt. Überhaupt ist die gesellschaftspolitische Situation wie auch ihr familiärer Hintergrund lediglich zu erahnen. Umso tiefer gewährt uns Qui Miaojin Einblick in die innere Zerrissenheit der Ich-Erzählerin und verwendet dafür einen naheliegenden Kniff. Wir lesen Auszüge aus ihren Notizbüchern: Es sind Selbsterkundungen in Tagebuchform, Schilderungen ihrer Begegnungen mit den Menschen, die sie begehrt und liebt, oder die um sie buhlen. Dazwischen Abschriften von Briefen wie auch Protokolle von Telefonaten und Gesprächen.

Ein aus heutiger (westlicher) Sicht unspektakuläres Bekenntnis ist für die taiwanesische Literatur der Mitneunziger Jahre eine Sensation: „Ich gehöre zu den Frauen, die sich in Frauen verlieben“. Ein solch unmissverständliches Coming-out einer literarischen Figur (und damit auch ihrer Schöpferin) hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Zwar hatte Taiwan nach dem Ende der Militärdiktatur (vergleichbar mit Spanien nach der Franco-Diktatur) einen enormen Aufbruch insbesondere innerhalb der Kultur- und Intellektuellenszene erfahren. Davon zeugen in Miaojins Buch die zahlreichen Referenzen an westliche Kultur – von den Filmen der französischen Nouvelle Vague über Derek Jarman und Jean Genet bis zu Jean-Jacques Beineix‘ „Betty Blue“ (1986). Von diesem Liberalisierungsschub profitierte auch die LGBT-Community. Erste Organisationen und Selbsthilfegruppen wurden gegründet, in Taipeh entwickelte sich ein Szeneleben mit Bars und Treffpunkten. Doch der Weg zu einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz war noch weit. Deutlich wird dies an einem spektakulären Medienskandal. Ein TV-Sender hatte 1993 in einer Lesbenbar in Taipeh mit versteckter Kamera gefilmt und die Besucherinnen mit der Ausstrahlung in den Abendnachrichten (!), begleitet von homophoben Kommentaren, geoutet. Eine der Frauen nahm sich daraufhin das Leben.

Erst vor diesem Hintergrund lässt sich Lazis Verzweiflung, ihr Selbsthass, ihre Verzweiflung, aber auch ihr Aufbegehren verstehen. „Ich liebe die, die so sind wie ich – Frauen. Von dem Moment an, als mein Bewusstsein für die Liebe erwachte, liebte ich Frauen. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Da gibt’s keine Hoffnung auf Heilung! Und diese vier Worte – keine Hoffnung auf Heilung – beschreiben mein Leiden bis zum heutigen Tag. Lebenslänglich.“ Wenn das abgegriffene Bild vom „Wechselbad der Gefühle“ mal angebracht ist, dann hier. Unverhohlen schildert Lazi sich als Monster und Raubtier mit unstillbarer Gier nach dem Fleisch anderer Frauen – um sich dann gleichermaßen für dieses Begehren zu geißeln. Eben noch ein waidwundes, leidendes, um Liebe bettelndes Wesen, ist Lazi im nächsten Moment eine widerborstige Butch, die ihre Geliebte an der langen Leine hält, sie wegstößt und bewusst verletzt. „Das eine Ich küsste und knutschte ihren Körper in einer irren Unersättlichkeit, das andere Ich nahm davon kühl Abstand und überlegte sich, wann und wie es sich smart aus der Affäre ziehen könnte.“ Lazi kann nicht anders: „Auch wenn die Welt mich liebt: Es ändert nichts daran, dass ich mich hasse.“ Dem Glück, der erfüllten Liebe, kommt Lazi dabei erstaunlich oft recht nah. Sie kann durchaus forsch und erfolgreich auf die Objekte ihre Begierde zugehen; doch das Glück leben, es zu teilen und zu genießen, also tatsächlich eine Beziehung zu führen, scheint ihr nicht möglich.

Wirklich packen lässt sich diese Figur nur schwer. Denn Qiu Miaojin beschreibt sie keineswegs nur als von Depressionen und Selbsthass zum Unglück verdammtes Wesen. Nach außen hin selbstsicher und bestimmt, erweist sie sich zudem als geradezu lesewütig, wissbegierig und kommunikativ. Sie konsumiert Bücher und Filme, ist aktiv in einer Studierendenorganisation und offenbar Teil einer kleinen queeren Community. Sie ist eine fleißige Studentin und schreibt dann auch noch bis in die Nacht in ihrem Tagebuch. Qiu Miaojin war sich der Gefahr der Larmoyanz bewusst und hat den mit kühler Prosa formulierten Verzweiflungen und Liebesbekundungen einen zweiten Erzählstrang entgegengesetzt, der in eine absurde Realität führt. In der zieht sich ein Krokodil, ein Wesen ohne Geschlecht, einen „Menschenanzug“ über, um so die eigene Andersartigkeit verbergen und unerkannt unter den Menschen leben zu können. Man braucht nicht viel, um diese Metaphorik zu entschlüsseln. Das scheue Reptil wird bald zu einem geheimen Maskenball anderer Krokodile eingeladen und ist erstmals unter seinesgleichen – und damit völlig überfordert. Später löst es gar einen Medienhype aus, der die Gesellschaft in Unterstützer*innen und Feinde der Krokodile spaltet. Diese Parallelerzählung wirkt wie ein Spiegel der Welt Lazis und zugleich wie eine Utopie, in der es zuletzt gar eine „Allianz zum Schutz der Krokodile“ gibt. Dass eines Tages Taiwan als erstes asiatisches Land überhaupt die gleichgeschlechtliche Ehe beschließen würde, mag für Qui Miaojin außerhalb ihrer Vorstellungskraft gewesen sein.

Und so liest man diese „Aufzeichnungen eines Krokodils“ in erster Linie als literarisches Dokument. Vor allem mit der Neuveröffentlichung ist der Roman von LGBT in Asien wie in der asiatisch-stämmigen LGBT-Community der USA als zentrales Werk von einer neuen, queeren Genration neu entdeckt worden. „Qiu Miaojin gilt als Märtyrerin, als erste taiwanesische Autorin, die sich zu ihrer Homosexualität bekannte. Und gleichzeitig ist sie die erste, deren Schreiben auf radikale, autobiografische Weise vom Lesbischsein handelt“, schreibt die Journalistin Hannah Lühmann in ihrem Nachwort zu diesem Roman. Ganz nebenbei hat Qiu Miaojin zudem den chinesischen Wortschatz bereichert. „Lazi“, der Name ihrer Romanheldin und eigentlich eine Verballhornung des Begriffs Lesbe, ist längst Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs geworden und das Krokodil zum Symbol für trans* Menschen.




Aufzeichnungen eines Krokodils
von Qiu Miaojin
Aus dem Chinesischen von Martina Haase
Nachwort von Hannah Lühmann
Broschur, 320 Seiten, 20 €,
Ulrike Helmer Verlag

↑ nach oben