Heiner Möllers: Die Affäre Kießling

Buch

Noch anfang der Achtzigerjahre reichte allein der Verdacht, nicht-heterosexuell zu sein, um als Träger gewisser Ämter und Würden in Verruf zu geraten. Von Günter Kießling, dem hochdekorierten Viersterne-General der Bundeswehr und stellvertretenden Oberkommandierenden der NATO, hieß es irgendwann, er sei schwul. Es blieb bei Gerüchten, der General wurde dennoch entlassen. Die „Affäre Kießling“ erregte die Bundesrepublik wie kaum ein zweiter Skandal in der Amtszeit Helmut Kohls, und das allein will einiges heißen. Nach 35 Jahren hat nun ein Offizier der Bundeswehr die offizielle Chronik der Ereignisse geschrieben. Detlef Grumbach, der die Affäre einst journalistisch begleitete, hat das Buch mit dürftigem Erkenntnisgewinn gelesen – und sieht alte Denkfiguren noch immer am Werke.

Don’t ask, don’t tell!

von Detlef Grumbach

„Homosexuelle als Sicherheitsrisiko“ – diese Vorstellung hat sich dort festgesetzt, wo es gilt, Staatsgeheimnisse zu hüten, Spionage abzuwehren oder, salopp gesagt, den eigenen, patriarchal organisierten Männerladen „sauber“ zu halten. Sie beruht darauf, dass Homosexualität gesellschaftlich geächtet, homosexuelle Taten strafbar und Homosexuelle deshalb als erpressbar gelten. Eine einfache und leicht zu durchbrechende Logik. Man hebe die Strafbewehrung homosexueller Handlungen auf und erkläre Homosexuelle zu geachteten Personen. Ganz einfach? Ja, schon, nur das Gegenteil galt lange Zeit als Devise staatlichen Handelns. Tatsächliche oder nur behauptete Homosexualität wurde in der Geschichte immer wieder als Vorwand genutzt, unliebsame Personen kaltzustellen. Die Grundlage, auf der dies funktionieren konnte, wurde damit jedes Mal gefestigt.

Der letzte Fall, der nach diesem Muster in Deutschland ablaufen sollte, war die Entlassung Günter Kießlings, Vier-Sterne-General und Stellvertreter des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa im Nato-Hauptquartier bei Brüssel, durch Verteidigungsminister Manfred Wörner. Ende 1983 bahnte der Skandal sich an und hielt im Januar 1984 die Bundesrepublik in Atem. Doch die Sache lief nicht rund. Die Motivlage und die treibenden Kräfte hinter den Gerüchten waren undurchsichtig. Beteiligte Institutionen wie Bundeswehr, MAD und Polizei waren nicht in der Lage, den Verdacht der Homosexualität zu erhärten, geschweige denn zu beweisen. Vielmehr entstand der Eindruck, dass entgegen der Faktenlage und jeder Rationalität auf Biegen und Brechen ein Verdacht konstruiert werden sollte. Und nicht zuletzt: Das Opfer wehrte sich. Nur zwei Dinge waren unmissverständlich: Die öffentliche Generalmobilmachung gegen alles, was mit Homosexualität in Verbindung gebracht wurde, und die Botschaft an die Homosexuellen im Land. Mein Artikel zur Affäre in der Tageszeitung „Unsere Zeit“ vom 21. Januar 1984 trug den Titel „Schwule als Freiwild“. Denn es war die Zeit des gesellschaftspolitischen Rollbacks. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1982 eine „geistig-moralische Wende“ ausgerufen, und deren Akteure, so formulierte ich damals, brauchten „Sündenböcke, Minderheiten, an denen sie ein Exempel statuieren können“. Umso gespannter war ich auf das 35 Jahre nach der Affäre erschienene Buch über „Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr“. Doch ich wurde enttäuscht.

Was war geschehen? Günter Kießling, lediger Schöngeist unter den Generalen, wird als deutscher Vertreter ins Nato-Hauptquartier entsandt. Schon zuvor als Geschwätz gewertete Gerüchte über eine mögliche Homosexualität Kießlings gewannen – von wem und in wessen Interesse auch immer lanciert – eine eigene Dynamik. Auf gut 360 Seiten erzählt der Historiker und Offizier der Bundeswehr Heiner Möllers die Vorgeschichte der Affäre, blättert in einer Art Tagebuch ausführlich den Kern ihres Verlaufs vom 5. Januar bis zum 3. Februar 1984 auf und skizziert ihre Nachwehen, einschließlich zweier etwas angeklebt wirkender Abschnitte über die „Schuldigen“ und „Schwule Soldaten“. Als Einstieg wählt er das Ende der Affäre: Kießling wurde rehabilitiert, als General wiedereingestellt, nur, um anschließend ehrenhaft und mit Großem Zapfenstreich in den Ruhestand verabschiedet zu werden.

Heiner Möllers – Foto: Ch. Links Verlag

Für seine Darstellung hat Möllers umfangreiches Archivmaterial gesichtet, Presseberichte ausgewertet und Zeitzeugen interviewt. Doch fällt auf, dass er sich auf eng mit der Bundeswehr verbandelte „Bundeswehrberichterstatter“ und Insider beschränkt hat. Ein Blick von außen, der das Geschehen in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einordnet, fehlt fast immer. Auch die Auswirkungen der Berichterstattung wird allein mit Blick auf die Bundeswehr und die Beteiligten analysiert: Was schreibt Kießling zu dieser Meldung in sein Tagebuch oder in seinen späteren Darstellungen, wie reagiert der Minister oder sein Staatssekretär auf jene Meldung, was sagen andere Offiziere, Generäle …? Und wenn Möllers ausnahmsweise Günter Amendt erwähnt, stellt er ihn vor als „Sozialwissenschaftler, der sich als Autor von Konkret der Sexualforschung gewidmet hat“. Gesellschaftliche Gruppen, Parteien, die Bevölkerung bleiben außen vor, von den Auswirkungen auf sowieso wieder stärker unter Druck geratene Schwule ganz zu schweigen. Lediglich die positiven Allensbacher Umfragewerte für Helmut Kohl und seine Regierung werden als Beleg dafür herangezogen, dass das Volk die Sache wohl nicht so dramatisch gesehen hat.

Statt dessen Akten und Tagebücher. Und – zugegebener Maßen – überraschende Einblicke ins Nato-Hauptquartier. „Eine Party folgte der anderen. Die britischen und amerikanischen Generale beschäftigten jeweils eigene Dienerschaften von bis zu 17 Personen in ihrem Haushalt. […] Ein unverheirateter Vier-Sterne-General, der allein mit seinem Fahrer und ohne weiteres Personal in einer weitgehend leeren Villa wohnte, war in diesem Umfeld ein wundersamer Exot und selbstverständlich Thema des Tratsches auf vielen Gesellschaften.“ Und auch schon bei seiner Vorverwendung als Kommandierender General, so der Autor, stand die ernsthafte Frage im Raum: „Mit wem sollte er einen Divisionsball eröffnen?“ Kießling passte demnach nicht in das Hauptquartier, das Hauptquartier passte nicht zu ihm, doch da er amtsmüde war und bereits um seine Versetzung in den Ruhestand gebeten hatte, bot sich eine „elegante Lösung“ des Problems an: die Gerüchte unter dem Deckel zu halten und Kießling zum 31. März 1984 ehrenhaft in den Ruhestand zu schicken. Doch gegen diese Option des Ministers wurde innerhalb seines Ministeriums tatkräftig intrigiert: Minister Wörner entließ den General zum 31. Dezember, und die ganze Geschichte gelangte an die Öffentlichkeit, auch das völlig unakzeptable Handeln Wörners dem General und der Öffentlichkeit gegenüber: Kießling wurde während der Affäre nicht einmal offiziell angehört.

Aber hat sich die Affäre damals nur einer eigenen, inneren Dynamik folgend entwickelt? Oder gab es doch übergeordnete Anlässe und Interessen, die den Irrsinn entfesselter Homosexuellenfeindlichkeit plausibel machen? Neue Erkenntnisse zu diesen schon damals virulenten Fragen liefert das Buch bei aller Materialfülle nicht. Und auch nicht dazu, dass schon während der Ereignisse kaum noch jemand von der „Affäre Kießling“ gesprochen hat – die Sache war in der öffentlichen Wahrnehmung sehr schnell ein „Fall Wörner“ geworden: Der Minister konnte nur mit Not im Amt gehalten werden.

Minister Wörner agierte innerhalb eines gesellschaftlichen Klimas, das von der Durchsetzung des Nato-Nachrüstungsbeschluss bestimmt war – Aufrüstung nach außen also, und „Aufrüstung“ im Inneren. Diese Dimension klammert der Autor jedoch weitgehend aus. Die Aufrüstungsdebatte erwähnt er nur, um zu verdeutlichen, dass der Minister wenig Zeit hatte, sich um Kießling zu kümmern. Und nicht einmal ansatzweise geht er dem Katalysator des Skandals, dem Charakter und der Bedeutung des § 175 StGB nach. Stattdessen mogelt er sich darum herum, übt sich in Desinformation und wäscht die Bundeswehr rein: So zitiert er die Dienstvorschrift der Bundeswehr aus dem Jahr 1971, die Homosexualität zum Sicherheitsrisiko erklärt, weil – so die Logik der Vorschrift – homosexuelle Handlungen strafbar und Homosexuelle somit erpressbar seien. Diese Dienstvorschrift und ihre Grundlage könnte man durchaus historisch einordnen, diskutieren und in Frage stellen, denn immerhin waren homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen seit 1969 straffrei, was die Logik der Dienstvorschrift außer Kraft gesetzt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nennt Möllers zwar „zwischenzeitliche Reformen gerade des § 175“, bezieht sich aber nur auf die „umfassende Reform des Sexualstrafrechts“ unter Bundeskanzler Willy Brandt im Jahr 1973, auch hier, ohne deren Inhalt zu benennen. Da Möllers so das Datum der Strafrechtsreform um vier Jahre verschiebt, kann er behaupten, dass die Dienstvorschrift diese Reform noch nicht berücksichtigen konnte, weshalb sie „ohne Folgen“ blieben. Dass sich die Reform bis 1983 bei der Bundeswehr durchaus hätte herumsprechen können, kommt dem Autor ebenfalls nicht in den Sinn.

Wer sich heute den Verlauf der Affäre und die bundeswehrinternen Machtkämpfe, die Schlampereien und Intrigen rund um die Affäre Wörner noch einmal vergegenwärtigen möchte, wird bei Heiner Möllers gut bedient und auch mit einigen neuen, für die Beurteilung des großen Ganzen aber eher belanglosen Details konfrontiert. Wer hofft, dass es neue Erkenntnisse und Einschätzungen über mögliche Interessen an der Affäre gibt oder sich eine Einordnung in die politische und gesellschaftliche Situation wünscht, wird jedoch enttäuscht. Das verrät bereits der Titel des Buchs. Zwar notiert auch Möllers am Rande, „‚die Affäre Kießling‘ war eher ein ‚Skandal Wörner‘“, aber es bleibt bei folgenlosen Randbemerkungen. Das Buch heißt „Die Affäre Kießling“. Und an Kießling bleibt in Möllers Darstellung letztendlich auch noch die Schuld kleben: Immerhin hätte er sich „nie durchringen [können], energisch den Gerüchten entgegenzutreten, von denen er selbst spätestens seit Herbst 1981 wusste und die offensichtlich schon länger kursierten. Da half es ihm auch nicht, nach der Affäre auf vier Seiten ‚Die Frauen in meinem Leben‘ niederzuschreiben und dabei 20 Damen aufzulisten …“. Ende der Durchsage.




Die Affäre Kießling.
Der größte Skandal der Bundeswehr

von Heiner Möllers
Hardcover
, 368 Seiten, 25 €,
Ch. Links Verlag

 

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