20.000 Arten von Bienen
Trailer • Kino
Cocó ist acht Jahre alt und versteht nicht, wieso sie jeder mit ihrem Geburtsnamen Aitor anspricht. Der Spitzname Cocó fühlt sich nicht ganz so eindeutig verkehrt, aber auch nicht richtig an. Im Sommerurlaub im Baskenland vertraut das Kind seinen Kummer Verwandten und Freund:innen an. Doch wie geht eine Mutter, die selbst noch mit ambivalenten elterlichen Altlasten ringt, mit der Identitätssuche ihres Kindes um? In ihrem Spielfilmdebüt erzählt die baskische Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren die Geschichte eines kleinen Mädchens auf der Suche nach dem richtigen Namen. Die Achtjährige Sofía Otero, die für den Film das erste Mal vor der Kamera stand, wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Barbara Schweizerhof über einen berührenden Film, der das Thema Geschlechtsidentität mit großer Sensibilität generationsübergreifend ausleuchtet.
Gewöhnlich ungewöhnlich
Auf den ersten Blick ist Estibaliz Urresola Solagurens „20.000 Arten von Bienen“ ein Film über das Alltägliche: Eine junge Familie mit drei Kindern in Bayonne im französischen Baskenland. Die Eltern Ane und Gorka machen gerade eine Beziehungskrise durch, von der sie noch nicht wissen, ob sie zur Trennung führen wird. Es ist das Ende des Schuljahrs, der Beginn der Sommerferien, Ane fährt mit den drei Kindern in ihr Heimatdorf im spanischen Baskenland, wo ihre Mutter und Tante leben und bald die Taufe eines Neffen ansteht. Gorka bleibt zurück, will aber für das Familienfest vielleicht nachkommen. Beim hektischen Abschied zwischen Wohnung und Auto auf der Straße skizziert der Film gleichsam nebenbei die Familienstrukturen: Sohn Eneko ist der einzige, der über das Zurückbleiben des Vaters wirklich traurig ist. Die ältere Tochter Nerea flüchtet in teenagerhafte Gleichgültigkeit und das jüngste Kind ist vollkommen mit eigenen Problemen beschäftigt – wie zum Beispiel damit, dass es nicht mit dem Kosenamen „Cocó“ gerufen werden will, erst recht aber nicht bei seinem Taufnamen „Aitor“.
Darin liegt das Nichtalltägliche dieser Familie, das die baskische Regisseurin Solaguren aber in besagter Beiläufigkeit einführt: Cocó ahnt, bzw. weiß, dass sie ein Mädchen ist, obwohl ihre Umgebung ihr bislang immer zugeschrieben hat, ein Junge zu sein. Sie hat sich die Haare lang wachsen lassen und ist mit ihrem Auftreten offenbar auch schon in der Schule angeeckt. Die Eltern und Geschwister sind noch ratlos, wie sie mit ihr umgehen sollen. „20.000 Arten von Bienen“ schildert im Weiteren zugleich stimmungsvoll wie lakonisch den Lern- und Entwicklungsprozess, den die Familie und ihre weitere Umgebung in den Ferienwochen durchmacht.
Das Besondere an „20.000 Arten von Bienen“ ist der Blickwinkel, aus dem heraus der Film erzählt. Organisch eingebaut in das zwanglose Tun des Sommers auf dem Land leuchtet Solaguren das Thema von Geschlechtsidentität und neuer Familienrealität in ganz verschiedenen Facetten aus. Im Fokus des Films steht die achtjährige Cocó, die neugierig die Menschen um sich herum beobachtet – eine Neugier, die die Darstellerin Sofia Otero mit ansteckender Aufregung sichtbar werden lässt. Aber es sind weniger die unterschiedlichen Rollen- oder Weiblichkeitsmodelle von Mutter, Tante, Großmutter und vor allem Großtante, die Cocó interessieren; es ist vielmehr die Frage, wie gewiss sich alle in ihrer jeweiligen Identität sind.
Der Film wird bestimmt von zwei gegenläufigen Bewegungen: Einerseits weist er auf das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen hin, andererseits betont er das Gewöhnliche des Ungewöhnlichen, Abweichenden. Cocós Welt wird nicht vorschnell in zwei Lager verteilt, von denen das eine bereit ist, sie als Mädchen zu akzeptieren, während das andere das nicht begreifen kann oder will. Stattdessen gibt es viele Schattierungen des einen wie des anderen: Bruder Eneko, seiner selbst und seines Jungseins gewiss, scheint keine Berührungsängste zu kennen, sowohl wenn er mit der kleinen Schwester zankt, als auch wenn er ihr hilft, nachdem sie das Bett genässt hat. Schwester Nerea ist als aufblühender Teenager sowieso vor allem genervt von den Jüngeren. Großmutter Lita denkt traditioneller und meint das „Problem“ durch Haareschneiden lösen zu können. Aber wenn sie mit Cocó an der Hand durchs Dorf spaziert und für ihre hübsche Enkelin gelobt wird, nimmt sie die Komplimente doch mit einem Lächeln an.
Einzig Großtante Lourdes reagiert von Anfang an anders: Die ältere Frau, die stets nur Hosen und Hemden trägt und sich mit Leidenschaft den von ihrem Vater vererbten Bienenstöcken widmet, ist die erste, die Cocó als Mädchen begreift. Sie zeigt ihr die Imkerei und erklärt die Zusammenhänge der Bienengesellschaft. An einer Stelle gehen die beiden spielerisch die einzelnen Familienmitglieder durch und weisen ihnen Bienenrollen zu – Gorka, der Vater, sei eine Drohne; die Rolle der „Königin“ aber reklamiert Cocó für sich.
In Gesellschaft der verständnisinnigen Lourdes kann sich Cocó sichtlich entspannen. Mit ihr traut sie sich baden zu gehen und gewinnt ein Stück Selbstbewusstsein, das ihr später auch im Umgang mit einer gleichaltrigen Spielgefährtin hilft. Auch von ihr erfährt sie eine selbstverständliche Akzeptanz, die ihr von Seiten der Mutter, der Großmutter und dem Vater noch fehlt. An einer Stelle bekommt Cocó die Legende der heiligen Lucía erzählt, die ihr Martyrium erlitt, weil sie ihren Glauben nicht aufgeben wollte. In einem Moment, der eine Spur zu symbol-schwer wiegt in dem ansonsten atmosphärisch-sommer-leichten Film, entschiedet sich Cocó/Aitor, dass sie fortan Lucía heißen möchte.
Als interessanten Kontrapunkt zu Lucías Selbstfindung setzt der Film die Entwicklung der Mutter Ane. Wie ihre kleine Tochter ist auch sie auf der Suche nach der eigenen Identität. Ihrem verstorbenen Vater nacheifernd, hat Ane Bildhauerei studiert, es in der Kunstszene aber nie so weit gebracht, dass sie aus dem Schatten seines Erfolgs hätte treten können. Sie will den Sommer auf dem Land nützen, um eine Bewerbungsmappe für eine Dozentenstelle fertig zu ,acjem. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter und der Transtochter bringt bei Ane schließlich einen Prozess in Gang, an dessen Ende auch bei ihr eine neue Ehrlichkeit steht, was die eigene Selbsteinschätzung angeht.
Ihre Tochter Lucía unterstützt sie am Schluss liebevoll und aus ganzen Herzen dabei, zum Familienfest ein Kleid anzuziehen. Doch die Spannungen, die das zwischen den Eltern und auf der ganzen Feier auslöst, sind zu viel für Lucía. Nicht alles wird einfach gut, wenn schließlich sogar ihr Vater bereit ist, sie „Lucía“ zu rufen. Genau darin kommt die besondere Sensibilität des Films zum Ausdruck: Er lässt seinen Figuren Zeit zur Bewältigung der Widersprüche und bricht nicht durch ein erzwungenes Happy End ab. Sowohl Lucía als auch Ane stehen am Ende erst am Anfang.
20.000 Arten von Bienen
von Estibaliz Urresola Solaguren
ES 2023, 125 Minuten, FSK 6,
deutsche SF & spanische mit deutschen UT
Ab 29. Juni im Kino.