Paul B. Preciado: Ein Apartment auf dem Uranus – Chroniken eines Übergangs

Buch

In seiner Aufsatzsammlung „Ein Apartment auf dem Uranus“ kombiniert Paul Beatriz Preciado autobiografisches Erzählen mit queertheoretischem Denken. Dabei illustriert er nicht nur die Thesen seiner Queer-Theory-Publikation „Testo Junkie“ um die Frage, welchen Einfluss Pharmaindustrie und Pornografie auf unser Leben haben, sondern widmet sich auch vielen weiteren politischen und privaten Themen, etwa der Migration und dem Ende einer großen Liebe. Unser Autor Peter Rehberg ist Preciado auf dessen essayistisch-literarischem Weg gefolgt.

Existenzielle Heimatlosigkeit

von Peter Rehberg

Spätestens seit dem Buch „Testo Junkie“, das 2016 ins Deutsche übersetzt wurde, gehört der in Spanien geborene und in Paris lebende transgender Theoretiker Paul Beatriz Preciado zu den wichtigsten Vertreter*innen der Queer Theory.

Die Queer Studies sind mittlerweile ein unübersichtliches Feld politischer Anliegen und theoretischer Perspektiven, und von sehr unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen, Positionen markiert. Ein Teil der Autor*innen insistiert auf Gender und vor allem auch Sexualität als Kerngeschäft der Queer Theory, so wie es zu Beginn um 1990 der Fall war, als „queer“ in Nordamerika entstand – als intellektuelles, künstlerisches und politisches Projekt. Vor allem eine jüngere Generation von Akademiker*innen und Aktivist*innen unterstreicht mittlerweile dagegen den intersektionalen Aspekt des Unternehmens: „Queer“ wird hier nicht in erster Linie als Marginalisierung von Subjekten im Kontext von Gender und Sexualität verstanden, sondern immer auch im Zusammenhang von Rassismus, Klassismus, Ableismus und Misogynie gedacht oder auch gänzlich in diese Richtung verschoben. „Queer“ ist dann die jeweils gemeinte marginalisierte Position. Preciados Arbeiten haben in diesem Umfeld eine herausragende Stellung. Denn ihm gelingt es wie nur wenigen Autor*innen, diese unterschiedlichen Anliegen nicht gegeneinander auszuspielen, wie es in queer-aktivistischen, feministischen oder schwul-lesbischen Kontexten manchmal der Fall ist. Sein Ansatz ist sowohl feministisch als auch sehr schwul, er zeigt seine Verbundenheit gegenüber Migrant*innen genauso wie gegenüber Sex-positiven Lesben, ohne die Widersprüche, die diesen Positionen innewohnen, zu verschweigen.

Die Überzeugungskraft seines theoretisch und politisch radikalen Projekts verdankt sich nicht zuletzt auch Preciados eigener Position als Trans-Person, die in ihren Schriften oft Ausgangspunkt der Analyse ist. In „Testo Junkie“ wechseln sich Tagebucheinträge, die den eigenen selbst-autorisierten Testosteron-Gebrauch protokollieren, mit einer Kulturgeschichte der Pharma- und Pornoindustrie ab. Die Bedeutung von trans im Feld der Queer Studies ergibt sich nicht nur aus der jahrzehntelangen Vernachlässigung des Themas innerhalb der Lesben- und Schwulenbewegung, sondern auch daraus, dass einem Teil der Lesben und Schwulen, zumindest denjenigen, die der weißen Mittelklasse angehören, mittlerweile Angebote der Normalisierung gemacht werden, von denen Trans-Personen ausgeschlossen sind. Die Queerness von Trans-Menschen ist weiterhin existenziell, die Queerness von Lesben und Schwulen ist 2020, zumindest in den Ländern des „Westens“, in vieler Hinsicht eine politische Entscheidung geworden (wobei Preciado uns auch daran erinnert, dass Homosexualität weltweit in 74 Ländern illegal ist und in 13 Ländern dafür die Todesstrafe droht; auch in westlichen Ländern ist sie weiterhin verschiedenen Formen von öffentlicher und privater Gewalt ausgesetzt).

Preciados Werk ist aber weit davon entfernt, nur eine identitätspolitische Erweiterung des queeren Spektrums zu formulieren. „Trans“ wird hier auch nicht umstandslos als queeres Subjekt gefeiert, sondern, wie alle anderen Subjektpositionen auch, im Fadenkreuz verschiedener Mächte verortet, denen gegenüber man sich stets strategisch und experimentell verhalten muss. Im Unterschied zu den diskurstheoretisch angelegten Texten der 1990er unternimmt Preciados Version von Queer Theory allerdings eine entscheidende Wendung: Denn ihm zufolge stößt man mit begrifflicher Analyse allein – wie zum Beispiel in Judith Butlers Theorie der Performativität – schnell an eine Grenze. Um die entscheidenden Wirkungsweisen von Macht und die Prozesse der Subjektwerdung in der Gegenwart zu begreifen, muss Begriffskritik – also das klassische Geschäft von Ideologiekritik – um zwei Perspektiven ergänzt werden. Zum einen widmet sich Preciado den sogenannten Mikroprozessen des Körpers: Politisch ist nicht nur die sprachliche Arbeit am Bewusstsein, sondern auch der Umgang mit materiellen Substanzen, zum Beispiel Hormonen oder Medikamenten. Das (geschlechtliche und sexuelle) Individuum des 21. Jahrhunderts ist nicht nur geprägt von Vorstellungen über Gender und Sexualität, sondern auch von den Produkten der Pharmaindustrie, Stichwort: Pille, Testosteron, Kombi-Therapie, Viagra und Truvada. Unsere sexuellen Kulturen, und die Art und Weise wie wir uns als ein Gender verstehen, hängen von diesen Substanzen ab.

Nicht weniger bedeutend ist für Preciado die Geschichte der audiovisuellen Pornografie. Bietet die pornografische Kultur – insbesondere in ihrer digitalen Variante mit Phänomenen wie z.B. self-pornification in Dating-Profilen – doch den Hintergrund dafür, wie wir uns selbst als sexuelle und geschlechtliche Wesen wahrnehmen, wie wir als solche handeln und schließlich auch, wie wir lernen, Lust zu erleben.

Weit davon entfernt, irgendwelchen Fantasien von „Natürlichkeit“ hinterherzuhängen, radikalisiert Preciado also den Begriff des Konstruktivismus, indem er ihn sehr konkret auf materielle Fragen wie pharmazeutische Produkte oder chirurgische Eingriffe bezieht. Widerstand kann es nach Preciado nicht in der Ablehnung dieser Machttechnologien geben – also beispielsweise im Verzicht auf Medikamente –, sondern gerade in der Aneignung und im Experimentieren damit. Nicht um das System von Zweigeschlechtlichkeit und die Unterscheidung in Homo- und Heterosexualität zu stabilisieren, sondern um diese in den Sog von Transformationsprozessen hineinzuziehen.

„Testo Junkie“ hat Preciado berühmt gemacht. Preciado hat allerdings keine akademische Karriere verfolgt, sondern immer als freier Autor gearbeitet. Damit hat er eine Strahlkraft entwickelt, die sich in anderen kulturellen Bereichen niedergeschlagen hat. Für die Documenta 14 in Kassel und Athen hat Preciado das Begleitprogramm „Parliament of Bodies“ kuratiert. Der Star-Kult um Preciado hat jetzt auch dazu geführt, dass „Ein Apartment auf dem Uranus“ im Suhrkamp-Verlag erscheint (und nicht bei b_books, wie die vorherigen Texte von Preciado auf Deutsch), der Queer Studies oft erst dann anfasst, wenn sich die Autor*innen schon woanders etabliert haben.

Das Leben eines freien Autors und Kurators zwischen Barcelona, Paris, Berlin, Athen, Palermo und Kassel – eine Art europäisches Jet-Set-Leben – bietet den Hintergrund für Preciados Texte in „Ein Apartment auf dem Uranus“. Geschrieben wurden sie in Hotelzimmern und auf Flughäfen. Das Stichwort für den Titel von Preciados Aufsatzsammlung liefert Karl Heinrich Ulrichs Theorie der Urninge von 1864. Nach der griechischen Mythologie entstand Aphrodite Urania, die Göttin der himmlischen Liebe, aus dem amputierten Geschlechtsorgan ihres Vaters Uranus. Sie wurde eingeschlechtlich erzeugt. Diese Geschichte nahm Ulrichs zum Anlass, Homosexuelle als „Urninge“ zu bezeichnen, im Unterschied zu den zweigeschlechtlich erzeugten (also heterosexuellen) „Dioningen“. Preciado sieht ihre Trans-Position in einer Abfolge mit Ulrichs‘ Theorie der Urninge und erweitert diese Geschichte einer queeren Genealogie: Auch wenn der Uranus als Planet bei Ulrichs keine Rolle spielt, imaginiert Preciado sich als einsamen Bewohner davon. Mit seinem nomadischen Dasein propagiert er eine Form der existenziellen Heimatlosigkeit: in keinem Geschlecht zuhause, in keinem Land der Welt und auch nicht auf dem Planeten Erde.

Ursprünglich sind die meisten Texte von „Ein Apartment auf dem Uranus“ zuvor als Kolumnen in der französischen Zeitung Libération erschienen. Schon in „Testo Junkie“ zeigte Preciado, dass er sich für mehr als eine Schreibweise interessiert. Preciado fühlt sich nicht nur Philosoph*innen wie Michel Foucault und Judith Butler verbunden, sondern auch den Schriftsteller*innen Jean Genet, Kathy Acker und Guillaume Dustan. In „Ein Apartment auf dem Uranus“ geht er diesen essayistisch-literarischen Weg weiter. Zwar liefern die Analysen aus „Testo Junkie“ immer noch den Rahmen von vielen der hier versammelten Texte. Die Frage, wie Pharmaindustrie und Pornografie unsere Existenz steuern, ist immer präsent. Insofern sind die Texte in „Ein Apartment auf dem Uranus“ auch eine Illustration der Thesen aus „Testo Junkie“. Es geht aber auch um andere politische und persönliche Themen: Migration und Ökologie, das Ende einer Liebe (mit der Schriftstellerin Virginie Despentes, die auch das Vorwort beigesteuert hat) und verschiedene Formen der Freiheit, sexuell, sozial und politisch. Manche der hier entworfenen Konstellationen werfen neue Fragen auf: lässt sich z.B. Migration als Flucht vor Hunger und Krieg auf der einen Seite mit der Transition eines Körpers innerhalb eines von Zweigeschlechtlichkeit geregelten Gender-System auf der anderen analog setzen, wie Preciado es unternimmt? So klarsichtig Preciados Geschichte von Gender und Sexualität ist, zeigen diese kürzeren Texte auch, wie ihr Analyseapparat bei tagespolitischen Ereignissen an seine Grenzen stoßen kann. Auch Preciados aktueller Text zur Corona-Krise, der der deutschen Ausgabe hinzugefügt ist, bringt schon bekannte Konzepte zur Anwendung, ohne das Neue der gegenwärtigen Krise in den Blick zu bekommen.

Am besten ist „Ein Apartment auf dem Uranus“, wenn Preciado ins autobiografische Erzählen übergeht, zum Beispiel wenn er beschreibt, wie er alleine in einem fast leeren Apartment in Athen lebt, oder die verschiedenen Szenen der Auseinandersetzung mit seinen Eltern schildert. Mikroprozesse der Macht werden hier im Blick für die Details sozialer, technologischer und ökonomischer Welten offengelegt. Während in „Testo Junkie“ die autobiografischen Episoden etwas gestellt wirkten – eine etwas manierierte Geste, die dem Theorie-Projekt mehr Glamour geben sollte – ist es hier umgekehrt: „Ein Apartment auf dem Uranus“ ist eine Sammlung fragmentarischer autobiografischer Texte, die z.T. auch ganz gut ohne Theorie ausgekommen wären. Allerdings liegt gerade in dieser Hybridität der Perspektiven ein Reiz des Buches, auch wenn das Bespielen unterschiedlicher Schreibweisen nicht immer aufgeht. Und sowieso gilt: „Ein Apartment auf dem Uranus“ ist ein ziemlich niedrigschwelliger Einstieg in das Werk Predciados, dem wichtigsten queertheoretischen Autor der Gegenwart. Alle, die sich für queeren Aktivismus, queere Kultur oder queere Theorie interessieren, sollten das Buch lesen.




Ein Apartment auf dem Uranus: Chroniken eines Übergangs
von Paul B. Preciado
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
Klappenbroschur, 368 Seiten, 20 €,
Suhrkamp Verlag

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