I.V. Nuss: R-O-N=O
Buch
Was bedeutet es, wenn Queerness zur Allegorie wird? Was, wenn wir die ekstatische Überschreitung der Realität, die mit der „Ontologie“ des Transsexuellen verbunden ist, nicht als bloße Metapher, sondern als Aufgabe betrachten? Diesen Fragen widmet sich I.V. Nuss in ihrem zweiten Roman „R-O-N=O“ – unter anderem. Nuss’ literarisches Debüt „Die Realität kommt“ charakterisierte Anja Kümmel in ihrer sissy-Rezension als „wilden Ritt durch die Welten“ und als „Höllenspaß“. Im Nachfolger hat Kevin Junk eine nicht minder wilde Mischung aus Roadtrip, SciFi-Story, Furry-Manifest, Transitionsbericht und popliterarischem Experiment gefunden.

Mit Poppers und Furry-Tatzen gegen die Dysphorie
von Kevin Junk
Die These, Literatur von trans Personen überschreite per se Genregrenzen und stelle grundsätzlich die Frage, wozu Texte in der Lage sind, ist ein bisschen klischiert. Ist es also auch klischiert, dasselbe über die Arbeit von I.V. Nuss zu sagen? So oder so: Es stimmt. Mit ihrem neuen Werk „R-O-N=O“ reißt Nuss Genregrenzen ein und demonstriert eindrücklich, was einen Text ausmacht, der aus allen Nähten platzt und seine Innereien wie eine durchgebumste Semiotik in unseren Köpfen verteilt. Spekulative Szenarien stecken ebenso in diesem Buch wie Autofiktion und gesellschaftsphilosophische Exkurse. Während es in der deutschen Gegenwartsliteratur nur so wimmelt von bemühten, besorgten, anständigen Romanen, die sich an unserer Zeit abarbeiten wie ein Chirurg, der ein Steak zerlegt, geht Nuss mit anderen Werkzeugen vor. Sie zieht sich Furry-Tatzen an und gräbt den Hinterhof unseres Bewusstseins durch.
Fangen wir beim Titel an: „R-O-N=O – Alkylnitrite. Sie enden chemisch mit einem O, NO! Das R ist ein Platzhalter und steht für mögliche Verbindungen am Nitrit (O-N=O)“, erklärt der Text. Zu sagen, „R-O-N=O“ sei ein Roman, wäre nicht falsch, denn diese Textgattung kann sich viel erlauben. Aber ein Roman ist immer auch eine fiktive Erzählung. Diesen Text auf die Fiktion zu reduzieren, würde ihm nicht gerecht werden. Ihn als reinen Diskurs zu lesen, wäre aber auch falsch. Denn: „R-O-N=O“ kann und will mehr. Wie gehen wir also mit der Ambiguität um? I.V. Nuss unterbreitet uns dazu einen praktischen Vorschlag: Ein bisschen Poppers schadet nie. Halb legal, halb illegal, am besten im Kühlschrank gelagert, ist diese Droge (ist Poppers überhaupt eine Droge?) fest im queer-schwulen Kulturgedächtnis verankert. Ein kleiner Moment der Euphorie und ein sich entspannender Anus, was soll da schon schief gehen? Das denkt sich auch I.V. Nuss. Sie nimmt uns schüchtern und zugleich forsch an die Hand, hält uns ein Fläschchen Poppers unter die Nase und dann geht’s ab: Roadtrip, Sexfantasie, Transitionsbericht, Theory fiction, Autofiktion, Kulturgeschichte und Millieustudie – „R-O-N=O“ ist all das und noch viel mehr.
Die Stimme, mit der das Buch spricht, richtet sich direkt an uns Lesende: durchgehend im „Du“. So sind wir ganz nah dran an Geschehen, fast schon zu nah. Die Du-Form erzeugt einerseits eine große Intimität mit dem Erzählten, ist aber gleichzeitig ein Split, weil es ja ein Ich geben muss, das dieses Du adressiert. Dieser direkt-indirekte Dialog durchzieht den kompletten Text.
Dann heißt es zum Beispiel: „Du denkst über ein merkwürdiges Zitat von Timothy Morton nach, wenn dey in ‚Being Ecological‘ schreibt: ‚It’s hard to describe what happens, but something does happen.‘“ Das Zitat geht damit weiter, dass Morton sich darüber auslässt, wie es ist, zu existieren, als hätte jemand einen mit dem Skalpell aufgeschnitten: „You started bleeding everywhere. It’s something like that.“ Was das bedeutet? Die Erzählerin weiß es nicht, schert sich aber auch nicht darum, sondern ergeht sich stattdessen in der Faszination darüber, überallhin zu bluten und sich zu verteilen.
Dieses Verfahren erinnert an den spanischen Theoretiker und queeren Vordenker Paul B. Preciado, der es in seinem literarischen Selbstversuch „Testo Junkie“ schon in den späten Nullerjahren anwandte. Bei Preciado stehen Biografie, Analyse und Gesellschaftskritik neben Exkursen über die Geschichte der Testo-Pille und die sie betreffenden Verhütungsregimes. Bei Nuss sind solche Exkurse immer kleine Kulturgeschichten oder Milieustudien. Kurz und prägnant schreibt sie mal über das Gebaren reicher Schwuler, um ein paar Seiten später die schwule Sexkultur als solche auseinanderzunehmen. Zu ihrer vollen Blüte gelangt die Erzählung immer dann, wenn Nuss sich den Furrys widmet – der Subkultur antromorpher Tiere und der Menschen, die sie bevölkern.

I.V. Nuss – Selbstporträt
„R-O-N=O“ liefert zunächst eine kurze Kulturgeschichte der Furrys. Wo kommen sie her und wo stehen sie heute? Weil Nuss selbst in der Welt der Furrys unterwegs ist, sind ihre Exkurse über Menschen und ihre Fursonas – um ein oft missbräuchlich genutztes Wort zu benutzen – authentisch. Ihr Psychogramm der Furrys leiht sie sich bei der bisexuellen Künstlerin und Youtuberin Patricia Taxxon aus. Taxxon bringt Furrys mit Autismus in Verbindung und beschreibt das Annehmen einer Fursona als Ausweg aus der neurotypischen Welt. Auch Nuss ist der Meinung, dass die Masken der Furrys eine andere Verhandlung von Körper und Interaktion ermöglichen, frei vom Druck, einen Gesichtsausdruck zu zeigen. An diesem Punkt schießen ihre Theorien teilweise ein bisschen übers Ziel hinaus und könnten mehr kritische Tiefe vertragen. Aber als Einladung, um über den Mangel an autistischen Stimmen in der deutschen Gegenwartsliteratur nachzudenken, funktionieren sie.
Eine Einladung in die Welt der Furrys bleibt „R-O-N=O“ durchgehend: So sind auf dem Cover zwei Furries zu sehen, die gleichermaßen selbstvergessen und auffordernd miteinander rumknutschen. Womit wir bei der fiktiven Seite des Romans angelangt wären: einer spekulativen SciFi-Erzählung, in der sich I.V. Nuss mit viel Verve dem surrealen Wahnsinn hingibt. Was genau passiert, bleibt schemenhaft, aber sicher ist, dass die Hauptfigur – das uns so nahe Du – an einem Ort lebt, der eine Mischung aus einer deutschen Großstadt und einer amerikanisierten Fantasiemetropole ist, mit einem 7Eleven in Laufweite, wo man sich Slurpies kaufen kann, und wo sich UFOs am Himmel zeigen. Die nebulöse Handlung und die zusammengefaltete Örtlichkeit, die keinen Sinn ergibt, sind Teil des Vertrags, den wir mit diesem Text eingehen. Er muss weird sein, um Sinn zu ergeben. Denn er muss nicht logisch sein, damit du was fühlst.
Ist all das bloßer Eskapismus? Oder will Nuss die Gegenwart in ihrer absurden und rohen Gewaltbereitschaft beschönigen? Ich glaube eher, sie will uns in all der omnipräsenten Dysphorie unseres Alltags Hoffnung an die Hand geben. Ihre zärtliche und zugleich präzise Prosa macht deutlich, wie wichtig Freundschaften und Kinship sind, gerade für Personen, die vom Rand her auf die Gesellschaft schauen. I.V. macht Mut, weird zu bleiben und sich nicht dem Anpassungsdruck zu beugen – sei es wegen neurotypischer Regeln, der Verwertungslogik des Kapitalismus oder cis-normativer Erwartungen. Die Lektüre dieses Buches fühlt sich ein bisschen an wie eine Gehirnmassage – sie ist die dringend benötigte Auflockerung, die unsere vom Zeitgeist zerpflügten Gehirne nötig haben.

R-O-N=O
Von I.V. Nuss
128 Seiten, 16 Euro
Diaphanes Verlag