Eva Baltasar: Mammut
Buch
Als eine „sprachgewaltige und sehr originelle Autorin“ pries Pedro Almodóvar die katalanische Autorin Eva Baltasar. Nun ist erstmals einer ihrer Romane auf Deutsch erschienen. In „Mammut“ geht es um eine junge Frau, die, frustriert von ihrem schlecht bezahlten Uni-Job und ihren erfolglosen Versuchen, schwanger zu werden, beschließt, ein ursprüngliches und einfaches Leben fernab urbaner Zivilisation zu führen. Zwischen putzen, Holzhacken und Vorräte für den Winter anlegen, fühlt sie sich schon bald, als würde das Wilde wie ein Keim in ihr austreiben. Aber um welchen Preis? Anja Kümmel hat die deutsche Fassung von „Mammut“ ebenso gelesen wie die spanischen Fassungen der beiden zuvor erschienenen Romane von Eva Baltasar – und dabei eine Autorin entdeckt, die brillant, komisch und entlarvend zielstrebig zum Kern des Wesentlichen vordringt.

Ankunft in der Grenzenlosigkeit
von Anja Kümmel
Welch ein Glück, dass der Schöffling Verlag die Werke der großartigen katalanischen Autorin Eva Baltasar auf Deutsch herausbringt! Rätselhaft ist allerdings die Entscheidung, als erstes „Mammut“ herauszubringen, den Abschluss einer Trilogie über lesbische Außenseiterinnen im Clinch mit der Zivilisation. Denn auch wenn die drei Romane keinem durchgehendem Narrativ folgen, sind die beiden vorausgehenden Bände – meiner Meinung nach – essenziell für ein tieferes Verständnis von „Mammut“.
Deshalb zunächst ein kurzes „Was bisher geschah“: Nach insgesamt elf Gedichtbänden – viele davon preisgekrönt – brachte Eva Baltasar, geboren 1978 in Barcelona, 2018 ihren Debütroman „Permafrost“ heraus. Er verhalf ihr zum internationalen Durchbruch. 2020 folgte „Boulder“, der 2023 auf der Shortlist des International Booker Prize stand, und 2022 „Mammut“, der nun als erstes von Baltasars Werken auf Deutsch vorliegt.
„Permaforst“ ist in vieler Hinsicht der wohl zugänglichste der drei Romane, da sich seine Hauptfigur durch eine uns weitgehend vertraute urbane Welt mitsamt ihrer Familienkonflikte und Beziehungswirren bewegt. Lediglich der distanzierte, satirisch-kritische Blick deutet an, wie weit sich die Erzählpositionen in den Folgewerken von dieser Welt entfernen werden. Schwankend zwischen Hedonismus und Depression versucht die namenlose lesbische Ich-Erzählerin sich mit den Erwartungen ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihren Liebhaberinnen und den Anforderungen der Arbeitswelt zu arrangieren – mehr oder weniger (meist weniger) erfolgreich. Ihre wirklichen Interessen gelten eigentlich nur der Literatur, der Kunst, leidenschaftlichem Sex und gutem Camembert. Menschliche Nähe scheint sie eher widerstrebend in Kauf zu nehmen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
„Boulder“ geht einen Schritt weiter: Hier zieht sich eine ebenfalls namenlose lesbische Protagonistin ins dünn besiedelte Patagonien zurück, wo sie als Köchin auf einem alten Handelsschiff arbeitet. Als sie eine Affäre mit einer isländischen Geologin beginnt, findet ihr Einzelgängerinnendasein ein abruptes Ende: Ehe sie sich’s versieht, findet sie sich wieder in einem Reihenhaus in Reykjavik, mitten in der lesbischen Version eines heteronormativen Familienglücks samt Baby – ein Lebensentwurf, den sie mit klinischer Präzision seziert und gegen den sie schon bald aufbegehrt.
Die Hauptfiguren in „Permafrost“ und „Boulder“ ringen also mit einem Rückzug aus der modernen Welt und deren vorgegebenen Mustern von Gemeinschaft. „Mammut“ liest sich derweil wie die Zuspitzung einer Suchbewegung, deren Ziel das Einrichten an den Peripherien des konventionellen Lebens ist. Wieder beginnt die Geschichte in Barcelona, doch diesmal rekapituliert Baltasar die Zivilisationsmüdigkeit ihrer Protagonistin nur mehr im Schnelldurchlauf: Mit einer Mischung aus Faszination und Grauen protokolliert sie den von sinnentleerter Lohnarbeit und ebenso sinnlosen Hobbys durchgetakteten Alltag von Großstädterinnen. Ihr lesbisches Begehren schimmert an mehreren Stellen durch, doch scheint sie der Interaktion mit anderen Menschen derart überdrüssig, dass sie nicht einmal mehr die Energie aufbringt, es aktiv zu verfolgen. Das Einzige, was sie antreibt, ist der Wunsch, schwanger zu werden. Nicht jedoch, um Mutter zu werden oder gar eine Familie zu gründen – sie folgt lediglich einem unbändigen, archaischen Instinkt. Vielleicht, weil einzig der Einbruch der körperlichen Naturgewalt einer Geburt den Ausweg aus diesem „Leben im Eis, undurchdringlich und steril“ zu versprechen scheint? Mit pragmatischer Zielstrebigkeit erklärt sie ihren 24. Geburtstag zur „verkappten Zeugungsfeier“, schnappt sich einen Schwimmlehrer („Als ich das hörte, dachte ich an breitschultrige Spermien, an ausgezeichnete Stromaufwärtsschwimmer“) und erlebt ihr – wenig spektakuläres – erstes Mal mit einem Mann: „Es war langwierig, eklig, ein unglaubliches Gerüttel, wie eine Kutschfahrt oder ein epileptischer Anfall.“ Und – Achtung Spoiler! – zum erhofften Ergebnis führt das Ganze auch nicht.

Eva Baltasar – Foto: David Ruano
In Passagen wie diesen funkeln Baltasars Sätze wie Rohdiamanten: transparent, präzise und knallhart, fast unerbittlich. Vielleicht ist diese schwarzhumorige Poesie – von Petra Zickmann bravourös ins Deutsche übertragen – aber auch einfach die einzig angemessene Sprache für die Unerschrockenheit und grimmige Entschlossenheit der widerspenstigen Frauenfiguren. „Es gibt nichts Schlimmeres, als das Gefühl zu haben, ganz und gar jemand anderem zu gehören“, sagt die Protagonistin in „Permafrost“: „sich anhören zu müssen, man sei der Schlüssel zum eigenen Glück oder Unglück, reduziert auf einen Legostein.“ Kaum mehr als ein Mittel zum Zweck – Legosteine – sind allerdings, ironischerweise, auch die Frauen, die sie erobert. In dieser Abgeklärtheit ähnelt ihr die Ich-Erzählerin in „Mammut“, die in dem zum Zeugungsakt auserkorenen Schwimmlehrer nichts anderes als ein „paarungsfähiges Männchen“ sieht. Es scheint kein Entkommen zu geben aus der Kommodifizierung der Körper.
Außer eben, man entzieht sich gänzlich der menschlichen Gesellschaft – wie es die Ich-Erzählerin in „Mammut“ alsbald beschließt. Bereits auf Seite 30 des schmalen Romans lässt sie Barcelona hinter sich und findet Zuflucht in der Einsamkeit der katalonischen Berge. Sie mietet einen heruntergekommenen Bauernhof ohne jegliche Annehmlichkeiten am Ende eines kaum befahrbaren Feldwegs und stürzt sich voll und ganz in ein autonomes, spartanisches, aufs Wesentliche reduziertes Dasein. Ihre einzige sporadische menschliche Gesellschaft ist ein älterer Schäfer, bei dem sie ab und an Putzen geht, im Austausch für Lammfleisch und Maisschrot.
„,Verzichten‘ könnte das Wort sein, das mich befreit“, stellt die Protagonistin befriedigt fest. Nun sind Minimalismus und Detoxing natürlich längst Modebegriffe, die sich wunderbar in die Revitalisierungslogik des Kapitalismus einfügen lassen. Bei Baltasar jedoch fehlt jegliche Zurück-Zur-Natur-Romantik, von Wellness ganz zu schweigen: Ihre Erzählerin friert, schrubbt Bottiche, hackt Holz, kann vor Muskelschmerzen nicht schlafen, backt zum ersten Mal Brot, das ungenießbar ist. Nur selten durchbrechen poetische Bilder die beschwerliche Monotonie ihres Alltags: „Hier oben anzukommen ist wie die Handfläche eines Riesen zu betreten, die Ankunft in der Grenzenlosigkeit.“ Mit Erhabenheitsgefühlen oder spiritueller Transzendenz haben solche Sentenzen allerdings weniger zu tun, eher mit einer inneren Entgrenzung, die auch vor Brutalität und Grausamkeit nicht zurückschreckt. Mit Entsetzen und Stolz zugleich beobachtet die junge Frau, wie sie sich verändert, „weil ein wiedererwachtes uraltes Ich, ein fossiles Ich, jetzt Anspruch auf mich erhebt“. Ist es das titelgebende Mammut, das hier hervorbricht? Im Dorf wird die Erzählerin „Llanut“ genannt, nach Cal Llanut, dem Hof und dessen Vergangenheit, die sie bewohnt. Auf Katalanisch bedeutet „llanut“ u.a. „wollig“ – eine mögliche Referenz auf den wollhaarigen Urzeitriesen.
Baltasars Wurzeln in der Lyrik sind nach wie vor spürbar, doch liest sich „Mammut“ weit weniger poetisch und metaphernreich als ihre beiden ersten Romane. Je mehr ihre Protagonistin der (verbalen) Interaktion mit anderen Menschen entsagt, desto verknappter, aufs Essenzielle zurückgestutzt liest sich ihre Sprache. Zwar knistert nach wie vor ihr trockener Humor durch die Zeilen, doch sind die bissigen Gesellschaftsbeobachtungen des Anfangs fast gänzlich den klaren, schlanken Sätzen eines inneren Selbstfindungs-Monologs gewichen.
„Ich bin ein großer flüssig gefüllter, äußerlich praller Muskel“, heißt es an einer Stelle – ein so lakonischer wie kraftvoller Wunsch, ganz Natur, ganz Instinkt zu sein, jegliche Spuren von Sozialisation oder Geschlechtsidentität abzustreifen. Als im Frühling zusammen mit der Flora und Fauna auch die Libido der Protagonistin neu erwacht, fühlt sie dies nicht als Frau, und schon gar nicht als Mutter in spe, ja vielleicht nicht einmal mehr als Mensch, sondern als Teil einer Naturgewalt, die sie mitreißt. Ihr lesbisches Begehren wird in der ländlichen Abgeschiedenheit einmal mit einem knappen „Ich bin nicht lesbisch“, ein andermal gar mit einer Ohrfeige abgewiesen. Sie nimmt beides, scheinbar emotionslos, hin. Stattdessen willigt sie, mit unerschütterlichem Sinn für Pragmatik, in den Vorschlag des Schäfers ein, „seine Hure zu werden“. Und wieder kommen die Beschreibungen völlig ohne moralischen Überbau oder romantische Verklärungen aus: „Es war eine Arbeit, die sich schneller und leichter erledigen ließ als putzen, eher wie mit einem Behinderten spazieren gehen oder einem alten Mann die Windeln wechseln.“
Wer auf lesbischen Sex hofft, wird also leider enttäuscht. Dennoch ist „Mammut“, in vielerlei Hinsicht, ein queerer Text. Er ist es lediglich weitaus weniger offensichtlich als „Boulder“ und „Permafrost“. Oder vielmehr: Seine Queerness offenbart sich am deutlichsten im Kontext der auf drei unterschiedliche Plots aufgeteilten Gesamt-Trilogie.
Wie es Eva Baltasar mit minimalistischen Mitteln gelingt, all die hübsch aufeinander gestapelten Legoblöcke unseres modernen Zusammenlebens – romantische Zweierbeziehungen, Kleinfamilie, Mutterschaft, Lohnarbeit – so zu sezieren, dass sie anmuten wie Horror-Literatur oder Studien einer außerirdischen Lebensform, ist brillant, komisch, entlarvend, zuweilen auch ziemlich verstörend. Wollte man Vergleiche aus einem ganz anderen Kulturkreis heranziehen, sieht man von Ferne vielleicht Sayaka Muratas „Die Ladenhüterin“ winken. Hier wie dort könnte man den widerspenstigen Frauenfiguren Emotionslosigkeit, ja sogar gewisse psychopathische Züge unterstellen. Man könnte aber auch ihre Radikalität feiern, ihre zielgerichtete, beinahe vampirische Gier, mit der sie sich aus der Passivität ihrer anerzogenen Opferrolle befreien. Oder – noch eine andere Lesart – darüber nachdenken, was es bedeutet, in einer amatonormativen Welt aromantisch zu sein (auch wenn weder Baltasar noch Murata diese Label bemühen).
In ihrer schillernden Widersprüchlichkeit entziehen sich Baltasars Erzählerinnen eindeutigen Lesarten und brennen sich vielleicht gerade darum umso tiefer ins Gedächtnis ein, wie Reste eines intensiven Traums, den man nie ganz zu fassen bekommt. Bleibt nur zu hoffen, dass auch die beiden ersten Bände dieser herausragenden Trilogie alsbald ins Deutsche übertragen werden, um deren volle Kraft zu entfalten.

Mammut
Von Eva Baltasar
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
112 Seiten, 20 Euro
Schöffling Verlag