Enrico Ippolito: Modesta

Buch

Was hält unsere Beziehungen zusammen? Wann beginnt sexuelle Freiheit? Und wie entkommen wir unserer Herkunft? Um all diese Fragen kreist „Modesta“, der neue Roman des deutsch-italienischen Schriftstellers Enrico Ippolito. Das Buch schildert zwölf Stunden im Leben eines Verlassenen. Während die beste Freundin eine Party für ihn vorbereitet, um ihn von der plötzlichen Trennung seines Exfreunds abzulenken, schlendert er gedankenverloren durch die Stadt. Dabei holen ihn die Phantome der Vergangenheit ein, allen voran die Moralhüterin Modesta. Aber auch Virginia Woolf, Boris Vian und der queere Zeitgeist spuken durch diesen Roman. Angelo Algieri hat sich von dem Buch irritieren und inspirieren lassen.

Eine Beziehung auf dem Seziertisch

von Angelo Algieri

In seinem Debütroman „Was rot war“ von 2021 behandelte der queere Kulturjournalist und Autor Enrico Ippolito ein sehr konkretes Kapitel der italienischen Geschichte. Das Buch erzählt die Geschichte zweier Frauen, die sich Ende der 1970er Jahre in der Kaderschmiede der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei Rom kennenlernen. Sie werden beste Freundinnen, bis ein Verrat zum Bruch führt und eine der beiden nach Köln emigriert. Als sie Jahrzehnte später erfährt, dass ihre ehemalige Freundin verstorben ist, reist sie mit ihrem erwachsenen, schwulen Sohn Rocco zur Beerdigung nach Rom. Dort wird Rocco erstmals mit der politischen und privaten Vergangenheit seiner Mutter konfrontiert. Zugleich entdeckt er die Stadt auf seine eigene Weise – inklusive Erkundungen des schwulen Nachtlebens. Das Besondere an diesem Text war neben der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit, dass Ippolito keine klassischen Italienklischees bediente. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Ära der 1970er und 1980er Jahre, in der in Italien die stärkste Kommunistische Partei Westeuropas mitregierte – eine Epoche, die zumindest in Deutschland weniger bekannt ist.

In Ippolitos neuem Roman „Modesta“ sind Zeit und Ort der Handlung dagegen bewusst vage gehalten. Der Roman spielt an einem Junitag in einer nicht näher definierten Stadt. Dort wird der namenlose Protagonist, ein Kunstmaler mittleren Alters, von seinem Partner R mit einer knappen digitalen Nachricht verlassen: „ich kann nicht mehr.“ Der Maler fühlt sich vor den Kopf gestoßen, ist aber zugleich zu stolz, auf die Nachricht zu antworten und nach Gründen zu fragen. Stattdessen versucht er selbst Antworten zu finden. Obsessiv kreisen seine Gedanken um die Bedeutung von Rs Worten. Denn: Auf was genau bezieht sich dieses „ich kann nicht mehr“ überhaupt?

Um den Verlassenen von seiner Grübelei abzulenken, organisiert seine beste Freundin C für den Abend eine Party. Widerwillig sichert er seine Teilnahme zu, was ihn allerdings nicht daran hindert, den Rest des Tages zwanghaft die Gründe des Scheiterns der Beziehung zu analysieren. Drehen sich seine Gedanken anfangs noch um die eigene Verletztheit darüber, was R ihm mit der plötzlichen Trennung angetan hat, kommt es nach einer Weile zu einem Perspektivwechsel: „Wenn er ehrlich war, war er es, der R etwas angetan hatte. Er hatte nicht mit ihm gesprochen, seine Dämonen in die Beziehung getragen, nächtelang wachgelegen, um nach Gründen zu suchen, warum R ihn nicht wirklich lieben könne.“ Was es mit diesen „Dämonen“ auf sich hat, erfahren wir in Erinnerungsschlaglichtern. So hat der Protagonist von seinen Eltern weder Liebe noch Anerkennung erfahren, dafür aber ihre Wertvorstellungen verinnerlicht, dass eine Beziehung monogam und endgültig sein habe und man den jeweiligen Gegenpart „besitzen“ müsse – ein Muster, das diverse Eifersuchtsszenen mit R zur Folge hatte. Neben solchen Reflexionen sorgt zusätzlich das Eintreffen eines Blumenstraußes mit einem Brief von R für Verwirrung, der jedoch mit keinem Wort auf die Trennung eingeht. Es ist dem beschwichtigenden Eingreifen von C zu verdanken, dass der Protagonist angesichts dieses neuen Rätsels nicht in die nächste Krise stürzt, sondern sich schnell wieder fängt. Am Abend auf der Party scheint er beinahe ausgelassen. Er begrüßt die Gäste, unterhält sich, tanzt ausgiebig – bis jemand Unerwartetes an der Tür klingelt …

Enrico Ippolito – Foto: Tobias Brust

Alle, die sich bei der Struktur dieser Handlung an Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ erinnert fühlen, liegen richtig. „Modesta“ ist eine Hommage an den Romanklassiker, dessen Veröffentlichung sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährte. Ähnlich wie US-Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Michael Cunningham 1999 in „The Hours“ die Struktur von „Mrs. Dalloway“ übernahm, geht Ippolito die Sache an. So spielt auch „Modesta“ an einem Junitag, an dem Blumen gekauft werden, eine Turmuhr schlägt zur (Viertel)Stunde und eine Party wird vorbereitet. Weiterhin spielt ein traumatisierter Kriegsveteran eine Rolle, dessen späterer Suizid die Hauptfiguren erschüttert. Anders als Woolf, die ihren Roman aus den Perspektiven wechselnder Figuren erzählt, fokussiert Ippolito allerdings ganz auf die Sichtweisen seines Protagonisten. Wenn auch stets mit einer gewissen Distanz. Er beleuchtet das Geschehen aus der sogenannten Kamera-Perspektive, also in der dritten Person. Dadurch legt er einen Abstand zwischen Erzähler und Figur, der eine nüchterne, wertungsfreie Schilderung des Geschehens ermöglicht – eine kluge Entscheidung.

Wie schon in „Was rot war“ meidet Ippolito auch diesmal Klischees. Wo in anderen schwulen Trennungsromanen oftmals exzessiver Sex, Enthemmung und Drogen als Kompensation dienen, ergeht sich der Protagonist in „Modesta“ vor allem in intensiven Analysen, im Rahmen derer er die verflossene Beziehung seziert. Ein Ansatz, der derzeit einen Nerv queerer Literat*innen zu treffen scheint. So wirkt zum Beispiel Maddalena Fingerles neuer Roman „Mit deinen Augen“ wie eine lesbische Entsprechung zu „Modesta“. Geht es doch auch dort um eine Protagonistin, die ihre Beziehung nach einer plötzlichen Trennung einer obsessiven Analyse unterzieht. Dieser erzählerische Ansatz ist freilich kein Selbstzweck. Bei Ippolito dient er dem Ergründen von Auswirkungen familiärer und gesellschaftlicher Prägungen auf Liebesbeziehungen. An diesem Punkt kommen die zuvor zitierten „Dämonen“ zum Tragen.

Weiterhin nimmt der Autor die Prägungen durch die eigene Altersgruppe in den Fokus. Wie Ippolito gehört auch der namenlose Maler jener Generation an, die durch die 1980er und 1990er Jahre gezeichnet ist, in denen schwule Liebe untrennbar mit HIV und Krankheit assoziiert war. In diesem Kontext zeigt „Modesta“ präzise auf, wie unbewusste Prägungen der Kindheit und bewusste schwule Emanzipation zum inneren Widerstreit führen können. Die Unfähigkeit des Protagonisten derartige Diskrepanzen aufzulösen, ruft die imaginierte, beziehungsweise halluzinierte Figur Modesta auf den Plan: eine wandelbare Gestalt, die mal als Greisin, mal als Mädchen erscheint, und das personifizierte Gefühl der Scham und Schuld repräsentiert.

Für den namenlosen Maler ist Modesta ein ständiges Hemmnis, das ihn an einem befreiten Sex- und Liebesleben hindert. Dies wird besonders in Erinnerungen an seine „hypersexualisierte Phase“ deutlich, wo das Hochladen und Verschicken privater Sextapes und -Fotos nie ohne Scham- und Schuldgefühle möglich ist. Erst als diese Phase abklingt und einem maßvolleren Lebensstil Platz macht, lassen die Erscheinungen nach. Aus der Halluzination Modesta wird eine Grundhaltung, die „modesta“ ist – im Lateinischen: „maßvoll, bescheiden, anständig“. Das dramaturgische Mittel der Projektionsfigur erinnert wiederum an Boris Vians „Die Reichsgründer oder das Schmürz“, wo ein menschenähnliches Wesen namens Schmürz zur Verkörperung von Schuldgefühlen, Verrat und Mord wird.

Dass „Modesta“ andere derzeit relevante Themen wie zum Beispiel das Kriegstrauma oder den Niedergang der schwulen Subkultur durch Dating-Apps vergleichsweise oberflächlich behandelt, ließe sich bemängeln, aber es scheint zum Konzept des Romans zu gehören. In dieser Hinsicht richtet sich Ippolito frei nach Hugo von Hofmannsthals Motto: „Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.“ Dieser Kritikpunkt ändert aber nichts daran, dass „Modesta“ alles andere als oberflächlich ist. Es ist es ein kluges, vielschichtiges und nachdenkliches Buch, das den Vergleich mit dem Debüt nicht zu scheuen braucht.



Modesta
Von Enrico Ippolito
160 Seiten, 22 Euro
Korbinian Verlag

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