Ich kenn keinen (2003)

DVD & VoD

Wie lebt es sich als schwuler Mann in der süddeutschen Provinz zwischen Albverein, Kirchenchor und Kehrwoche? Der 2003 bei der Berlinale mit dem Teddy ausgezeichnete Dokumentarfilm „Ich kenn keinen – Allein unter Heteros“ ist Jochen Hicks unterhaltsamer, sehr menschlicher Auftaktfilm zu einem einmaligen Projekt: einem dokumentarischen Kaleidoskop queerer Geschichte und Alltag in Deutschland von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Axel Schock hat sich den Film noch einmal angesehen und ordnet ihn in das Schaffen des „wichtigsten Archivars und Chronisten der Community“ ein.

Bild: Galeria Alaska Productions

Jenseits vom Stammtisch

von Axel Schock

Die Landschaft mit ihren saftgrünen Wiesen und märchenhaft dunklen Wäldern sieht tatsächlich genauso aus, wie man sie in den Prospekten der Fremdenverkehrsvereine abgebildet findet. Auch die Dörfer haben das Potential für idyllische Postkartenmotive. Da schauen die Ziegen über den Gartenzaun, der lebensgroße Gekreuzigte an der Hauswand spendet wohl schon seit Jahrhunderten Trost und Segen, die rankenden Blumen auf den Balkonen machen die heile Welt komplett.

Dass Jochen Hick seine Kamerafahrten über Landstraßen und durch Dörfer im Schwabenland zwischen Bodensee, Schwäbischer Alb und Schwarzwald in beschleunigtem Tempo abspielt und mit lustiger Hammondorgel-Musik unterlegt, verstärkt diesen ironischen, die Klischees zuspitzenden Blick. Und schon rückt eine Regenbogenfahne ins Bild, auf einem holzverkleideten Balkon eines Mehrfamilienhauses, und durchbricht diese Postkartenbilder aus diesem dünn besiedelten Teil des Schwabenlands. Jochen Hick, der selbst in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart aufgewachsen ist, will sich dabei nicht über die Provinz und deren Weltsicht lustig machen – er versucht nur, diese Welt zu verstehen, so wie er das immer tut in seinen Filmen.

Seine beiden zuvor entstandenen Spielfilme „Via Appia“ (1990) und „No One Sleeps“ (2000), spielten in Brasilien und San Francisco. Seine Langdokumentationen – „Menmaniacs: The Legacy of Leather“ (1998), „Sex/Life in L.A.“ (1998) und „Cycles of Porn – Sex/Life in L.A. Part 2 (2005)“ – erkunden die Lederszene und die schwule Pornobranche in den USA. „Ich kenn keinen – Allein unter Heteros“ wirkt wie der größtmögliche Kontrast zu diesen Innenansichten einer durchkommerzialisierten Szene, in der Sex und Fetisch gefeiert und nicht selten zum zentralen Lebensinhalt erhoben werden. Und in der schwule Männer ihre eigene Community bilden. Ursprünglich hatte der Film, dessen Protagonisten weit verstreut, oft ganz allein, im ländlichen Raum leben, denn auch „Sex/Life auf der Alb“ heißen sollen. Die Lebenskonzepte, die Hick darin aufblättert, mögen für manche Zuschauer:innen damals – und vielleicht auch heute – befremdlicher wirken als die schwule Sexszene in den USA.

Denn auch zwischen diesen süddeutschen Orten wie Michelwinnaden und Onstmettingen, mit mal wenigen Hundert, mal einigen Tausend Einwohnern, und den Großstädten und Metropolen des Landes liegen Welten. Die zentralen Orientierungspunkte im Alltag sind hier der Kirchenchor, der Albverein und das Dorffest. Wo jeder jeden kennt, fällt das Versteckspielen so schwer wie ein offen schwules Leben.

Anfang der 2000er Jahre hatte sich das schwule Leben noch nicht ins Internet verlagert. Wer daran teilhaben will, muss den Weg in die nächste Szenebar auf sich nehmen. Entfernungen sind da relativ. „Ich wohn zentral“, sagt der 26-jährige Forstwirt Stefan aus Oberschwaben, schließlich seien es nur 150 Kilometer bis zur nächsten Schwulenkneipe in Stuttgart oder wahlweise München. Kirchenchor-Mitglied Hartmut nimmt für seine Fluchten noch weitere Strecken auf sich. Für ihn ist Thailand zum Sehnsuchtsort geworden, weil er sich dort traut, seine Sexualität auszuleben. „Thailand isch ned das Paradies für Schwule, es isch nur paradiesischer als Albstadt“, sagt der Mittfünfziger und preist die „weiche Haut der schmusigen Thai-Jungs“ an, die sogar küssen: „Das gibt’s hier doch gar nicht bei bezahltem Sex.“

Bild: Galeria Alaska Productions

Jochen Hick begleitet ihn nicht nur auf einer seiner Reisen nach Pattaya, sondern auch zur Probe des Kirchenchors und an den Stammtisch in seinem Heimatort. Mit der HIV-Diagnose hatte Hartmut den Entschluss gefasst, sein Versteckspiel zu beenden und das doppelte Coming-out zu wagen. Erzählte er früher nach seinen Urlaubsreisen noch von Abenteuern mit Thai-Mädchen, wissen nun alle in seinem näheren Umfeld, dass es vielmehr um junge Männer ging. Hick interessieren dabei nicht nur diese ganz persönlichen Lebenskonzepte, sondern fast noch mehr, wie das heteronormative Umfeld auf die schwulen Nachbarn, Kollegen oder Vereinsmitglieder reagiert. Wenn Jochen Hick die Menschen in diesen ländlichen Regionen nach ihren Erfahrungen mit Schwulen fragt, erhält er oft die gleiche Antwort: „Ich kenn keinen“. Hick aber bohrt nach, verwickelt die Menschen in Gespräche und schafft es, etwa an Hartmuts Stammtisch, dass sie bald ziemlich frei und unverblümt bei Schnitzel und Bier ihren Vorurteilen und Ressentiments Ausdruck verleihen.

Dass Hartmut, über dessen Sexualität und Lebensweise sie da sprechen, ihnen gegenübersitzt, scheinen sie völlig auszublenden. Beim Treffen von Eltern homosexueller Kinder gibt eine Mutter freimütig zu, was ihr nach dem Coming-out des Sohnes als Erstes durch den Kopf ging: „Ich dachte, ich muss ihn erschlagen und zerhacken“. Und während man an Hartmuts Stammtisch aus Unsicherheit und mit sichtlichem Unbehagen vom „finalen Schuss“ spricht, wenn man den Analverkehr meint, ist die resolut-bodenständige Mutter des Forstwirts Stefan deutlich aufgeschlossener: „Sie können ja im Grunde nicht anders, wenn sie den Geschlechtsverkehr vollziehen wollen – weil von vorne geht‘s ja nicht.“

„Ich kenn keinen – Allein unter Heteros“ steckt voller solch unverstellter, auch bitterkomischer Momente. Wenn der Schwarzwälder Uwe bei einem Wochenendtrip nach Berlin sich in einem schwulen Military-Laden neu ausstaffieren lässt, weiß man nicht, wen man mehr ins Herz schließen möchte: Uwe für seine naive und zugleich selbstbewusste Art, sich in diesem fremden Terrain zu bewegen oder den toughen Klamottenverkäufer, der auf eine sympathisch-direkte Art Uwe in ein Gespräch über sexuelle Vorlieben verwickelt und sich als einfühlsamer Typberater entpuppt.

Bild: Galeria Alaska Productions

Der Film lässt sich diese kleinen Clashs der Kulturen natürlich nicht entgehen, die pointierte Montage macht „Ich kenn keinen“ trotz manch bedrückender Momente zu einem überaus unterhaltsamen, vor allem aber sehr menschlichen Film. Gerne mal zeigt die Kamera hübschen Nippes im kleinbürgerlichen Idyll. Aber er führt die heterosexuellen Bewohner:innen gediegener Wohnzimmerensembles niemals vor, und schon gar nicht die schwulen Protagonisten (in zum Teil nicht weniger solidem, gutbürgerlichen Wohnumfeld). Denn deren Leben, das davon geprägt ist, die schwule Identität zu leugnen oder sich auf einen immerwährenden Spießrutenlauf einzulassen, ist eine kräftezehrende Herausforderung. Auf der CSD-Demo in Ravensburg recken stramme Christen den Demonstrierenden Schilder mit Parolen wie „Jesus liebt dich! – Kehr um“ entgegen. Dort an einer Pride-Demo teilzunehmen erfordert – anders als bei den Megaevents in Berlin, Köln oder Hamburg – tatsächlich Mut. Angesichts der jüngsten Ereignisse bei CSDs in vielen ostdeutschen Städten wirken diese Bilder keineswegs aus der Zeit gefallen, sondern erschreckend heutig.

Mit einer bewundernswerten Konsequenz hat sich Jochen Hick auch in seinen nachfolgenden Dokumentarfilmen dem Alltag und der Geschichte queerer Menschen in Deutschland gewidmet. In „Out in Ost-Berlin“ (2013) etwa seziert er die Widersprüche und Brüche, die auch die meisten der Lebensläufe und -entwürfe der darin porträtierten Schwulen und Lesben kennzeichnen. Deren Erzählungen werden mit Bildmaterial aus Dokumentar- und Spielfilmen sowie DDR-Wochenschauen in einen zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt. Weitaus bedeutender sind private Fotos und Super-8-Aufnahmen, die Hick und sein Ko-Autor Andreas Strohfeld dabei aufgetan haben und die einen authentischen Eindruck vom queeren Leben in der DDR geben.

Eine echte Sensation ist dabei ein ganz besonderer Archivfund: versteckt aufgenommene Fotos der Stasi von der wohl einzigen Gay-Pride-Demonstration in der DDR. Peter Tatchell, heute der wohl bekannteste Homosexuellenaktivist Großbritanniens, war 1973 als einzig offen schwuler Delegationsteilnehmer zu den „Weltfestspielen der Jugend“ nach Ost-Berlin gereist. Schwuler Stolz und realer Sozialismus waren für ihn kein Widerspruch. Die Stasi sah das wohl anders – und entriss ihm sein selbstgemaltes Plakat, noch bevor er die S-Bahn auf dem Weg zur großen Parade verlassen hatte.

Bild: Galeria Alaska Productions

Wie sich das Leben für die Schwulen nach Kriegsende in der nunmehr geteilten Stadt entwickelte, zeigt Jochen Hick später in „Mein wunderbares West-Berlin“ (2017). Anders als in „Out in Ostberlin, in dem er noch die lesbisch-schwule Szene Ost-Berlins im Ganzen in den Blick nahm, konzentriert sich Hick hier ganz aufs schwule Leben. Man mag diese Entscheidung bedauern, aber nach diesen detailreich recherchierten und vor Geschichten und Geschichte schier berstenden eineinhalb Kinostunden ist sie auch verständlich.

Von den Repressionen, die Homosexuelle in den 1950er Jahren zu einem weitgehend versteckten Leben zwangen, führt diese klug und dynamisch komponierte Zeitreise über die Aufbruchsstimmung Anfang der Siebziger mit ihrer studentisch geprägten Emanzipationsbewegung schließlich in die 1980er Jahre, in denen nicht nur viele der bis heute bedeutsamen queeren Institutionen gegründet wurden, sondern zugleich auch die Aidskrise die Community in ihren Grundfesten erschütterte und veränderte. „Mein wunderbares West-Berlin“ steckt voll von sehr persönlichen Erinnerungen und berührenden, komischen wie überraschenden Szenen, die sich zu einem unterhaltsamen und lehrreichen Geschichtspanorama zusammenfügen. Dank der klugen Montage verdichten sich so die gesellschaftlichen Entwicklungen und exemplarischen Lebensgeschichten, ohne sie zu verklären oder sie um des dramatischen Effektes willen zuzuspitzen.

In der „Der Ost-Komplex“ (2016) konzentriert sich Jochen Hick auf ein individuelles Schicksal. 1987 scheiterte der junge DDR-Bürger Mario Röllig bei seinem Versuch, zu seinem Geliebten nach West-Berlin zu fliehen und landete im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. 25 Jahre nach dem Mauerfall führt der Ex-Häftling dort Besuchergruppen durch die Gedenkstätte. „Der Ost-Komplex“ ist nicht nur ein vielschichtiges Porträt dieses Zeitzeugen, sondern hinterfragt zugleich die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und die deutsch-deutsche Erinnerungskultur. Jochen Hick zeichnet seinen Protagonisten Röllig als grundsätzlich sympathischen Menschen, aber er bleibt dennoch auf kritischer Distanz; er stilisiert ihn weder zum Helden noch zum Vorzeige-Opfer. Seinem Dauereinsatz als inzwischen routinierten Zeitzeugen gewinnt Hick so manch befremdliche ironische Momentaufnahme ab. Etwa, wenn er ein Interview eines Reporters mitfilmt, der Röllig durch den Zellentrakt im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gehen lässt und fernsehtaugliche Bilder der Betroffenheit zu inszenieren versucht.

Bild: Galeria Alaska Productions

Mit „Queer Exile Berlin“ schließt Jochen Hick 2023 seine Berlin-Trilogie ab. Mit wenigen Blitzlichtern beleuchtet er bereits in den ersten Filmminuten das weite Feld, zu dem sich die queere Community seit den Nachwendejahren entwickelt hat. In Berlin treten die Debatten und Veränderungen besonders konzentriert auf: sei es der Hedonismus der Partyszene und dem damit eng verbundenen Drogenkonsum; die zunehmende Selbstverständlichkeit, mit der sich Menschen aus der binären Geschlechterordnung lösen; oder aber die heftig ausgetragenen, unversöhnlich erscheinenden politischen Debatten. Beim alternativen „Internationalist Queer Pride“ wird einem Lederkerle-Paar von anderen Demonstrant:innen die Israelfahne entrissen. Auf dem Dyke March brüllen lesbische Gegendemonstrant:innen wutentbrannt „Transfrauen sind Männer!“. Und „Berlins dienstälteste Drag Queen“, wie sich Gloria Viagra selbst nennt, Wahl-Berlinerin seit ihrem sechsten Lebensjahr, wird bei einem Livestream in Kreuzberg von jungen Männern als „Hurensohn“ beschimpft und tätlich angegriffen.

Jochen Hick enthält sich einer Bewertung dieser Diskurse, Haltungen und Rivalitäten zwischen verschiedenen Kämpfer:innen-Generationen; er versucht auch nicht, sie in vereinfachende Narrative zu ordnen. Auch wenn er seinen Protagonist:innen, die er über viele Jahre begleiten konnte, sehr nahekommt und diese ihm sichtlich viel Vertrauen schenken: Wie in all seinen vorangegangenen Dokumentarfilmen begegnet er ihnen mit Sympathie und Empathie, als Filmemacher aber bleibt er immer auf professionaler Distanz – und überlässt es den Zuschauer:innen politische Widersprüche oder auch kleine Lebenslügen zu erkennen und einzuschätzen.

In der Gesamtschau fügt sich Jochen Hicks dokumentarisches Werk so zu einem einzigartigen Projekt und macht ihn zum sicherlich wichtigsten Archivar und Chronisten der Community. Seine Filme werden mit der Zeit nur noch weiter an Wert und Bedeutung gewinnen.


Ich kenn keinen – Allein unter Heteros
von Jochen Hick
D 2003, 99 Minuten, FSK 12,
deutsche OF

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