The Times of Harvey Milk (1984)

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Harvey Milks politische Karriere als Stadtrat von San Francisco dauerte nur elf Monate, doch sein Einfluss ist kaum messbar. Der Dokumentarfilm von Robert Epstein und Richard Schmiechen zeigt, wie der konventionelle Wall-Street-Angestellte zum queeren Aktivisten und Politiker wurde – und die Ungerechtigkeit nach seinem gewaltsamen Tod weiterging. „The Times of Harvey Milk“ gewann 1985 als erster Film mit schwuler Thematik einen Oscar – und schrieb noch aus einem anderen Grund Geschichte. Jetzt ist der Film in digital restaurierter Fassung erhältlich. Fabian Schäfer über ein beeindruckendes Zeitdokument, das bis heute mitreißt.

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Wie Harvey Milk zum wichtigsten schwulen Politiker wurde

von Fabian Schäfer

Regenbogenfarben, soweit das Auge reicht, als Flaggen an Laternenmasten oder als Zebrastreifen an der wichtigsten Kreuzung. Das namensgebende Kino mit seiner Fassade im spanischen Kolonialstil, dessen Neonbeleuchtung die breite Straße erhellt: The Castro in San Francisco ist seit Jahrzehnten der Inbegriff eines queeren Stadtteils.

Wenn San Francisco die schwule Hauptstadt der USA ist – wie das Times Magazine schon 1964 feststellte –, dann ist The Castro ihr schlagendes Herz. Ein Viertel, von dem aus queere Kultur und der Kampf gegen Diskriminierung das ganze Land veränderten. Und ein Viertel, das untrennbar mit Harvey Milk verbunden ist.

Dabei verbrachte der schwule Politiker den Großteil seines Lebens gar nicht an der West-, sondern an der Ostküste. 1969 zog er zum ersten Mal nach San Francisco, da war er 39 Jahre alt. Keine zehn Jahre später wurde er umgebracht. Und doch prägte er das Viertel (und umgekehrt) wie niemand sonst. Wie hat er das geschafft?

„The Times of Harvey Milk“ versucht nicht, dieser Frage in Thesen nachzugehen. Der Dokumentarfilm interpretiert das Leben des Bürgerrechtlers und Politikers nicht, fragt nicht nach den Gründen für seinen großen Wandel. Vielmehr stellt der Film sein aktivistisches Leben dar, ist an Fakten und Erinnerungen mehr interessiert als an psychologischen Deutungen. Dafür kommen Weggefährt:innen und Unterstützende in klassischen, gesetzten Interviews zu Wort, ergänzt durch eine Fülle an Archivmaterial und einen Off-Kommentar, den der queere Aktivist und Schauspieler Harvey Fierstein eingesprochen hat.

Dabei ist Milks Leben durchaus von einer großen Entwicklung geprägt, man könnte auch sagen: von einem deutlichen Bruch. Er wuchs als Sohn litauisch-jüdischer Mittelschichts-Eltern in einem Vorort von New York City auf, studierte Lehramt, diente in der Navy, arbeitete für eine Versicherung und an der Wall Street. Er war damals eher konservativ, erlebte Antisemitismus und unterstützte die Kampagne des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater, der 1964 deutlich gegen Lyndon B. Johnson verlor.

Randy Shilts beschreibt ihn in seiner Biografie als „durch und durch konventionellen“ Mann. Und doch wurde er zu einer der wichtigsten queeren Stimmen seiner Zeit und zum ersten offen schwulen Politiker in den Vereinigten Staaten.

Der Vietnamkrieg und geheime US-Luftangriffe auf Kambodscha politisierten Harvey Milk. Er verbrannte seine Kreditkarte aus Wut über die Bank of America. Er nahm die Ideen der Gegenkultur auf, die ihn mit seinem bürgerlichen Leben brechen ließen.

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Wobei „bürgerlich“ für ihn als schwulen Mann hieß, ein Doppelleben zu führen. Seine Beziehungen mit Männern hielt er geheim. Dass er schon mit 17 im Central Park cruisen ging und von der Polizei aufgegriffen wurde, ebenso. Harvey Milks Zeit vor seinem Leben in San Francisco nimmt in dem Film – sicher auch mangels Archivmaterial – nur wenig Zeit ein. Kinderfotos zeigen einen fröhlichen Jungen mit abstehenden Ohren, für die er geärgert wurde.

Es war nicht nur eine besondere Zeit, in der Milk an die Westküste kam, es war womöglich genau die Zeit, die es ihm überhaupt ermöglichte, der zu werden, für den wir ihn heute kennen. Parallel zu seinem Widerstand gegen den Vietnamkrieg zog Harvey Milk mit seinem deutlich jüngeren Partner Jack Galen McKinley nach San Francisco, ging zurück nach New York und kam mit seinem neuen Partner Scott Smith schließlich wieder zurück an die Westküste. 1973 eröffneten sie das Kamera- und Filmgeschäft Castro Camera.

Das Viertel boomte. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg blieben viele schwule Männer in der Marinestadt San Francisco, wenn sie vom Militär wegen ihrer Homosexualität entlassen worden waren. So ersparten sie sich die Demütigungen in ihrer Heimat.

Die McCarthy-Ära zu Beginn des Kalten Krieges brachte noch mehr Schwule ins Castro: Homosexuelle in Behörden galten als Sicherheitsrisiko und wurden entlassen, viele kamen nach San Francisco.

Dort begann Harvey Milk, sich politisch zu engagieren. „Ich wäre für mein Leben gern Bürgermeister von San Francisco“, sagte er – und meinte es ernst. 1973 wollte er zum ersten Mal in den Stadtrat einziehen, schon bald nannte er sich selbst den Bürgermeister der Castro Street. Dabei sahen ihn die Leute anfangs eher als Witzfigur, stellt der Film fest. Längere Haare, Bart, ein typischer Hippie.

Doch Harvey Milk versuchte es weiter. Er änderte sein Erscheinen, sein Auftreten, kandidierte noch zwei weitere Male. Bei der vierten Wahl 1977 gelang es ihm schließlich, in den Stadtrat gewählt zu werden, weil das Wahlrecht geändert wurde. Statt stadtweiten Kandidat:innen wurden Repräsentant:innen der einzelnen Bezirke gewählt.

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Damit wurde Harvey Milk der erste offen schwule Mann, der in den USA in ein öffentliches Amt gewählt wurde. Und er war nicht der einzige Erste: Carol Ruth Silver war die erste Alleinerziehende, Gordon Lau der erste Chinesischstämmige und Ella Hill Hutch die erste Schwarze, die in den Stadtrat eingezogen sind. Und auch der ehemalige Polizist und Feuerwehrmann Dan White, der Harvey Milk und Bürgermeister George Moscone später erschoss, wurde erstmals gewählt.

Doch es ging nicht allein um die Person Harvey Milk. Alle Lesben und Schwulen, die sich zuvor nie von der Politik gesehen fühlten, hatten nun eine Vertretung, sagt im Film Anne Kronenberg, die seine Kampagne leitete. Harvey habe nie Alkohol getrunken, doch in der Wahlnacht sei der Champagner in Strömen geflossen.

Diese Euphorie überträgt sich bis heute, wenn man das Fernsehinterview auf der Wahlparty sieht. Eine ausgelassene Stimmung, gewaltige Freude – und ein von Unterstützer:innen umringter Harvey Milk, der auf die Frage des Reporters, ob die Schwulen jetzt die Stadt übernehmen, breit lachend, aber total selbstverständlich sagt: Er vertrete alle.

„The Times of Harvey Milk“ von 1984 schafft es bis heute, diesen einmaligen Moment in seiner historischen Dimension erlebbar zu machen. Aber noch mehr: Der Dokumentarfilm verdeutlicht, dass es nicht schlicht um eine Identitätskategorie geht, die Harvey Milk erfüllte, und die ihn zum ersten seiner Art in diesem Amt machte. Harvey Milk als Stadtrat bedeutete einen Kulturwandel für die queere Szene genauso wie für die Mehrheitsgesellschaft. „Every gay person must come out”, fand Harvey Milk. Nur so können die anderen verstehen, dass wir überall sind, dass wir dazugehören, dass von uns keine Gefahr ausgeht. Es ging ihm um Sichtbarkeit, auch außerhalb des Castros.

Andererseits kämpfte der Politiker Milk gegen konkrete Bedrohungen und für Gesetze zum Schutz queerer Menschen. Eine Schlüsselfigur zur damaligen Zeit war Anita Bryant, Sängerin, Orangensaftwerbeikone und Queerfeindin. Sie hatte sich erfolgreich gegen einen Diskriminierungsschutz Homosexueller in einem County in Florida eingesetzt. Davon beflügelt, wollte der Republikaner John Briggs mit der Proposition 6 erreichen, dass in Kalifornien schwule und lesbische Lehrkräfte sowie alle Angestellten, die queere Rechte unterstützen, entlassen werden müssen.

Harvey Milk ging in die Konfrontation mit John Briggs. Und dabei verdeutlicht der Film Milks rhetorisches Talent. Auf dem Podium ist er seriös, locker und authentisch. Die abstrusen Argumente entkräftet er und nimmt sich selbst als Beispiel: Als Kind heterosexueller Eltern in einer heterosexuellen Welt aufgewachsen, sei er trotzdem schwul geworden.

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Der Dokumentarfilm beeinflusste auch den Spielfilm „Milk“ von Regisseur Gus Van Sant aus dem Jahr 2008. Man könnte fast sagen, „Milk“ sei die fiktionale Adaption des Dokumentarfilms. Hauptdarsteller Sean Penn gewann dafür genau wie Drehbuchautor Dustin Lance Black einen Oscar. „Milk“ orientiert sich in seiner Dramaturgie stark an dem Vorgängerfilm, manche Archivbilder finden sich in beiden Filmen: das Statement der damaligen Stadtrats-Präsidentin Dianne Feinstein über den gewaltsamen Tod von Harvey Milk und George Moscone etwa, das in beiden Filmen ganz am Anfang gezeigt wird.

Auch Gus Van Sants Film ist fast 20 Jahre nach Erscheinen noch sehenswert und berührend. Harvey Milks Liebesleben nimmt darin sehr viel mehr Raum ein, ist aber auch eine willkommene Quelle für etwas Drama. Auch Milks Persönlichkeit versucht das Biopic etwas mehr auszuleuchten: Seine Liebe für die Oper wird deutlich, auch wenn sie am Ende für ein gehöriges Maß Pathos sorgt: Während Milk erschossen wird, blickt er auf die dem Rathaus gegenüberliegende Oper, in der er nur kurz zuvor begeistert Puccinis „Tosca“ sah und den tragischen Tod der Heldin erlebte.

Deutlich weniger ausführlich ist „Milk“ jedoch mit allem, was nach der Tat passiert ist. Das beleuchtet der Dokumentarfilm dagegen sehr ausführlich. Denn die Ungerechtigkeit und die Ungleichbehandlung, gegen die Harvey Milk sich als Bürgerrechtler und Politiker engagierte, ging nach seiner Tötung weiter: Der Täter Dan White, ebenfalls Stadtrat, wurde nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags zu nur sieben Jahren Haft verurteilt. Homosexuelle oder ethnische Minderheiten waren als Geschworene nicht zugelassen. Die Verteidigung versuchte, die Tat mit Whites ungesunder Ernährung zu entschuldigen, was bis heute abschätzig als „Twinkie Defense“ bezeichnet wird. Dieses milde Urteil löste am 21. Mai 1979 die White Night Riots aus, teilweise gewalttätige Unruhen.

„The Times of Harvey Milk“ schrieb aus mehreren Gründen Geschichte: Es ist der erste Film mit schwuler Thematik, der mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Und Regisseur Robert Epstein war der erste, der in seiner Dankesrede seinem homosexuellen „partner in life“, John Wright, dankte. Es blieb auch nicht sein einziger Academy Award: 1990 gewann er ihn für seinen Dokumentarfilm „Common Threads: Stories from the Quilt“ über den Aids Memorial Quilt, ein Gedenk-Quilt für alle an Aids Verstorbenen.

„The Times of Harvey Milk“ ist nicht nur ein bedeutendes Zeitdokument über den Aufstieg einer der wichtigsten Figuren der queeren Geschichte. Unterstützt durch Mark Ishams Score und eine sonst zurückhaltende Inszenierung vermittelt der Film zudem eine Zeit, in der Sichtbarkeit politisch wurde – und schließt damit unmittelbar an die Gegenwart an.

Denn das nach dem Korea-Kriegsveteran Milk benannte Marine-Kriegsschiff, „USNS Harvey Milk“, ließ der neue US-Verteidigungsminister Pete Hegseth umbenennen – ausgerechnet im Pride Month. Doch wenn die Geschichte von Harvey Milk eins zeigte, dann dass die Stimme seiner Bewegung nur lauter wurde, als seine eigene verstummen musste.



The Times of Harvey Milk
von Robert Epstein und Richard Schmiechen
US 1984, 90 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

Auf VoD, demnächst auch auf DVD