Ersi Sotiropoulos: Was bleibt von der Nacht

Buch

Der schwule Dichter Konstantinos Kavafis (1863 – 1933) gilt als einer der bedeutendsten griechischen Lyriker der Neuzeit. Über neunzig Jahre nach seinem Tod zeichnet Schriftstellerin Ersi Sotiropoulos in dem Roman „Was bleibt von der Nacht“ ein sprachgewaltiges Porträt des bedeutenden Kollegen. Die 1953 geborene Sotiropoulos ist in Griechenland selbst eine gestandene und vielfach ausgezeichnete Literaturgröße. Sie nähert sich Kavafis an, indem sie ihn drei folgenreiche Tage lang durch das pulsierende Paris der Belle Époque im Jahr 1897 wandeln lässt. Marko Martin ist ihm durch den Roman gefolgt. Dabei hat er Treibhausluft und etwas Plüsch gewittert, vor allem aber einen großen Wurf entdeckt.

Ein Außenseiter am turning point

 von Marko Martin

Halbgeöffnet die Kleider – viele waren es nicht

denn es brannte der göttliche Monat Juli.

Rausch des Fleisches

die Vorstellung davon,

 sechsundzwanzig Jahre hat sie durchschritten; jetzt kam sie,

um zu bleiben in diesem Gedicht.

Es sind solch alltagspoetisch schnörkellose  Erinnerungsbilder, die Konstantinos Kavafis (1863-1933) zum unbestrittenen Erneuerer der griechischen Literatur gemacht haben. Ohne seinen stilprägenden Einfluss sind weder die Poesie Jannis Ritsos‘ noch die des Literaturnobelpreisträger Odysseas Elytis denkbar. Und das, obwohl Kavafis zeitlebens ein Außenseiter war, in dessen Schreiben die seinerzeit offiziell verpönte gleichgeschlechtliche Erotik pulsiert – ihre Intensität und Vergänglichkeit, das Offensichtliche und das Verborgene.

Das Außenseitertum begann schon bei Kavavis‘ Bezug zu Griechenland. Der in Alexandria geborene und dortselbst auch gestorbene Solitär kannte das Land lediglich von drei Kurzaufenthalten in Athen. Einige Zeitgenossen mokierten sich sogar über sein gesprochenes Griechisch – es klänge bemüht und habe überdies einen englischen Akzent. Tatsächlich war Kavafis´ früh verwitwete Mutter im Jahr 1872 mit ihren Kindern nach England übergesiedelt. Doch geschah dies nicht aus einer mondänen Oberschicht-Caprice heraus, sondern aufgrund handfester finanzieller Zwänge: Der älteste Sohn Geórgios sollte in Liverpool versuchen, in einer Filiale des strauchelnden Familienunternehmens zumindest einen Teil des verbliebenen Wohlstands zu retten, der auf dem Handel mit ägyptischer Baumwolle gründete. Die Rettung scheiterte, und so kehrte die Familie ins ägyptische Alexandria zurück, wo schließlich auch der jüngere Konstantinos einen ungeliebten Brotberuf ergreifen musste: im städtischen Amt für Wasserwirtschaft arbeitete er 33 Jahre als Sekretär im Büro –  eine verblüffende Parallele zum Lebenslauf seines portugiesischen Generationsgenossen Fernando Pessoa, der nach Kindheits- und Jugendjahren im südafrikanischen Durban in Lissabon eine unauffällige Existenz als Handelskorrespondent führte und gleichzeitig die lusitanische Literatur auf eine Weise revolutionierte, die mit den Impulsen, die Kavavis für die griechische Literatur setzte, vergleichbar ist. Auch optisch glichen sich die beiden mit ihrem gesetzten Hornbrillen- und Anzug-Habitus.

Noch als erwachsener Mann bei der dominanten, geliebt-ungeliebten Mutter lebend, bemitleidet von der wohlhabenden griechischen Minorität in der medioker gewordenen Stadt mit der großen hellenischen Vergangenheit, fremd auch gegenüber der arabischen Bevölkerungsmehrheit, jedoch in Matrosen-Kaschemmen und Absteigen Momente eines fragilen Glücks findend – just an den Schnittlinien solcher Erfahrungen entstanden Kavafis‘ Gedichte. Nicht alle waren von Beginn an gelungen, von weltliterarischer Relevanz ganz zu schweigen. Noch mit 34 Jahren suchte er nach einer eigenen Stimme, einem eigenen Ton.

Und genau an diesem Punkt beginnt Ersi Sotiropoulos´ Roman „Was bleibt von der Nacht“. Hier dient eine Paris-Reise, die Kavafis im Sommer 1897 unternahm, als Ausgangspunkt für eine Erzählung, die quasi ab der ersten Seite ein mehrdimensionales Porträt eines Mannes  im Zwiespalt entwirft. Da liegt der Protagonist noch am Vormittag auf dem Hotelbett, während unten an der Rezeption bereits sein stets frohgemut-pragmatischer Bruder John wartet, doch seine Gedanken schlängeln sich im Zickzack zurück in dieses vermaledeite und längst zum provinziellen Außenposten abgesunkene Alexandria, wo das einzig Vitale die dauerjammernde, doch anscheinend unsterbliche Mutter zu sein scheint – despektierlich „die Dicke“ genannt. Und auch der eigene Status des körperlich wie psychisch nicht mehr ganz so jungen Mannes ist denkbar unbefriedigend: „Vierunddreißig Jahre lang waren seine Schritte treu dem Auf und Ab der Familie gefolgt. Vor allem dem Ab. Das Schoßhündchen der Familie. Willensschwach. Im Entwicklungsstand einer Kaulquappe… Alexandria hielt ihn am Boden, es schränkte seinen Horizont ein.“

Kann Paris, quecksilbriges Zentrum der Belle Époque und damalige künstlerische „Hauptstadt der Welt“, diesen hadernden Konstantinos Kavafis vom Grübeln ablenken und seiner bis dahin eher konventionellen Gedichtemacherei neuen Elan geben? Oder gar eine ganz andere Richtung? Ja, wenn er sich doch erst einmal aus dem Hotelbett erheben würde. Stattdessen masturbiert er hastig und schon im Vornherein reuevoll, an einen schweißglänzenden Schmied-Lehrling in Alexandria und verhuschte Visionen von Pariser Jungmännern denkend … Szenen wie diese beschreibt Ersi Sotiropoulos ohne Voyeurismus oder falsche Dezenz. Auch Kavafis´ Bewusstseinsströme, die ihn selbst beim Flanieren auf den Grands Boulevards, in Cafés und Kutschen durchfluten, werden nicht zu ermüdendem Wortgeklingel. Vielmehr deutet die griechische Gegenwartsautorin die letzten drei Tage vor der Rückkehr nach Alexandria als eine Art turning point im Leben (und das heißt zuvorderst: im Schreiben) von Konstantinos Kavafis. Und das obwohl – oder gerade weil – es von jener Paris-Reise kaum Aufzeichnungen gibt.

Ersi Sotiropoulos – Foto: Sissy Morfi

In einem Roman von überschaubarer Qualität würde der Held aufgrund seiner Pariser Abenteuer vielleicht entscheiden, an die eigene Kunst zu glauben oder seine Homosexualität nicht mehr zu kaschieren. Doch in diesem Buch buchstabieren sich die Antworten auf die Titelfrage „Was bleibt von der Nacht“ ungleich komplexer. An Plastizität und Sinnlichkeit mangelt es trotzdem nicht. Denn ausgerechnet in dieser riesigen illuminierten Stadt, wo sich der Symbolismus und andere literarische Ismen spreizen und bekriegen, wo tout Paris auf Ausstellungen, Dîners und bei skurrilen Séancen posiert, wird Kavafis klar, dass er hier nie dazu gehören wird – und dass er das auch gar nicht will. Eine der damaligen Literatursalon-Größen, deren Namen heute niemand mehr kennt, war ein Dichter namens Jean Moréas. Ihm hatte Kavafis vor der Reise einige seiner Gedichte geschickt. Nun muss er erfahren, dass diese mit dem Verdikt „schwach im Ausdruck – stümpferhaft“ versehen wurden – und das noch nicht einmal von Moréas selbst, sondern von dessen wichtigtuerischem Sekretär, dem es oblag, alle Briefsendungen vorzusortieren. Was für eine Demütigung. Das Versprechen erotischer Erfüllung beschränkt sich derweil auf eine ungeschickte Schwärmerei für einen unnahbaren russischen Tänzer im Hotel, von dem Kavafis des Nachts im Flur – das Ohr an die fremde Zimmertür gedrückt – undeutliche Beischlafgeräusche erlauscht, die seine Phantasie zwar erhitzen, aber nicht befreien.

In manchen allzu plüschig ausgewalzten Passagen erfasst die Treibhausluft der Handlung dann doch den Roman selbst. Das gilt besonders für die Beschreibung einer jenseits der Stadtmauern gelegenen mysteriösen „Arche“, von der Konstantinos und sein Bruder immer wieder munkeln hören, die sich am Ende des Buchs jedoch weniger als verruchter Orgienschauplatz denn als Pappmaché-Version von Schnitzlers geheimnisvoller Villa in der „Traumnovelle“ entpuppt. Dennoch ist dieses Buch ein ziemlich großer Wurf. Wer es gelesen hat, wird vom hadernden Herrn Kavafis wohl auf immer auch das Bild im Gedächtnis behalten, wie er aus der allzu pompösen Metropole schließlich abreist und vor allem einen Plan im Gepäck hat: der drohenden Alltagsroutine zu entkommen und in Zukunft anders, ganz anders zu schreiben  – ohne das Korsett konventioneller Reime und schwülstiger Metaphern, stattdessen lakonisch und präzis, um der Lust und dem Schmerz, dem Begehren und der Erinnerung auf ganz neue Weise gerecht zu werden, Zeile für Zeile. Sein in den Jahren darauf entstehendes Werk beweist, dass er genau das vermocht hat. Jenseits von Paris. In einem Alexandria, das seither weltweit undenkbar geworden ist ohne die Gedichte jenes Konstantinos Kavafis, Angestellter des städtischen Amtes für Wasserwirtschaft.



Was bleibt von der Nacht
von Ersi Sotiropoulos
Aus dem Griechischen von Doris Wille
288 Seiten, € 25
Kanon Verlag

↑ nach oben