Andrew McMillan: Herzgrube

Buch

Ein Grubenunglück, das über Generationen hinweg Spuren hinterlässt. Ein Vater, der sein Schwulsein nur versteckt auslebt, anders als sein Sohn. Eine Drag Queen, die als Eiserne Lady queeren Stolz mit Polit-Aktivismus verbindet. Und ein Soziologie-Team, das den sozialen Abstieg einer nordenglischen Stadt aufarbeitet. In seinem autobiografisch unterfütterten Debütroman „Herzgrubeführt Andrew McMillan alle Erzählfäden als vielstimmigen Chor zu einem großen Panorama zusammen. Axel Schock hat das Buch gelesen und darin ein Meisterstück der Komposition entdeckt.

Panorama der Männlichkeiten

von Axel Schock

Ob Didier Eribon ahnte, was er mit seinen autobiografisch-soziologischen Erkundungen in „Rückkehr nach Reims“ (2009) auslösen würde? Der große Erfolg des Buches – gerade auch in Deutschland – hat nicht nur viele junge Autor:innen inspiriert und ermutigt, eigene Erfahrungen mit Klassismus literarisch aufzuarbeiten, sondern auch Verlage veranlasst, vergleichbare Bücher ins Programm zu nehmen. Ohne Eribon ist die autobiografische Selbsterkundung eines Éduard Louis („Das Ende von Eddy“, 2014) kaum denkbar, und auch anderen queeren Autor:innen gelang in dessen Windschatten der Sprung in die literarische Öffentlichkeit: Der schottische Modemacher Douglas Stuart etwa verarbeitete in seinen Romanen „Shuggie Bain“ (2020) und „Young Mungo“ (2022) seine Kindheit und Jugend in den prekären Verhältnissen Glasgows; der Lyriker Ocean Vuong in seinen Romanen „Auf Erden sind wir kurz grandios“ (2019) und „Der Kaiser der Freuden“ (2025) in luzid-poetischer Sprache die Schwierigkeiten der Identitätsfindung als Nachkomme vietnamesischer Migrant:innen in den USA. In diese Reihe fügt sich auch das Romandebüt von Andrew McMillan ein.

Wie Ocean Vuong machte auch der 1988 geborene Brite McMillan zunächst als Lyriker auf sich aufmerksam. So setzte er sich in den Texten seines Gedichtbandes „Physical“ (2023) aus dezidiert schwuler Perspektive mit Männlichkeit, dem männlichen Körper und homosexuellem Begehren auseinander. Die lyrische Prägung ist seinem ersten Roman „Herzgrube“ in einigen impressionistisch-poetischen Passagen sowie manch subtiler Symbolik und treffenden Metaphern deutlich anzumerken. Übersetzer Robin Detje hat diese Passagen mit großem sprachlichem Feingefühl ins Deutsche übertragen.

Andrew McMillan setzt in „Herzgrube“ seinem Geburtsort ein Denkmal: der tristen, zwischen Leeds und Sheffield gelegenen Bergarbeiterstadt Barnsley in South Yorkshire. Der Roman erzählt von den Schneisen der Verwüstung, die der Neoliberalismus der 1980er Jahre in der Stadt hinterlassen hat, was zu ihrem Niedergang führte. Andrew McMillan findet dabei trotz der Wahlverwandtschaften zu den genannten queeren Autorenkollegen eine ganz eigene Form und einen ungewöhnlichen Zugriff für sein Thema: Er nähert sich dem Schauplatz über einige von dessen Bewohnern an – Simon beispielsweise, der in einem Callcenter jobbt, an den Wochenenden aber in einem schwulen Pub in Sheffield als Dragqueen auf der Bühne steht. Und dessen Lover Ryan, der für eine Sicherheitsfirma in einem Shopping-Center arbeitet. Ryan hat Simon zum ersten Mal auf dem Bildschirm einer Überwachungskamera erblickt und anschließend über eine Dating-Plattform mit ihm Kontakt aufgenommen. Mit einem klaren Bekenntnis zu der Beziehung tut er sich schwer, denn er will zur Polizei. Ein Coming-out kommt für ihn deshalb nicht in Frage. Dass Simon nebenbei Geld mit privaten Sextapes auf OnlyFans verdient, nimmt er in Kauf, solange sein eigenes Gesicht in den veröffentlichten Videos nicht zu sehen ist. Dass der Freund sich im Fummel auf eine öffentliche Bühne stellt, ist für Ryan dagegen wesentlich schwerer zu verkraften.

Andrew McMillan – Foto: Sophie Davidson

Und noch ein anderer Bewohner von Barnsley lebt seine Homosexualität nur im Geheimen aus: Simons Vater Alex. Über diese Figur erzählt McMillan von der Scham einer älteren Generation heimlich schwuler Männer, die ihre sexuellen Bedürfnisse nur auf Klappen auszuleben wagten. Gleichzeitig ist Alex‘ Biografie ein Ausgangspunkt, um die Stadtgeschichte zu vertiefen. Denn er hat einst seinen Vater bei einem tragischen Grubenunglück verloren. Die Katastrophe brachte Barnsley für wenige Tage in die landesweiten Schlagzeilen, bevor sowohl die Stadt als auch die Schicksale der Verschütteten und ihrer Angehörigen wieder in Vergessenheit gerieten. Für Alex und dessen Bruder Brian ist das Unglück auch Jahrzehnte später noch eine offene Wunde.

McMillan hat „Herzgrube“ als polyfones Panorama angelegt. In kurzen, episodenhaften Kapiteln erzählt er nicht nur von den Biografien seiner Figuren, sondern auch von der Stadtsoziologie Barnsleys. Er macht nachvollziehbar, wie sowohl das Grubenunglück als auch die spätere Schließung der Zeche die Menschen geprägt haben. Durch zweitere hat ein Großteil der Menschen nicht nur die Arbeit, sondern auch deren identitätsstiftende Basis verloren. Dieser Aspekt wird in einer schlicht mit „Feldforschung“ betitelten Erzählebene aufgegriffen, die in nüchtern-sachlich formulierten Protokollen einer soziologischen Studie die sich verändernde Stadtlandschaft Barnsleys kartografiert – in Form einer „diskursiven Intervention“ mit den Einwohner:innen, darunter auch Brian. Und dazwischen: Impressionen aus der Hochphase des Bergwerks, die den Staub, die Hitze und die Erschöpfung der archaischen Arbeit spürbar machen, durchdrungen vom Geruch von Motoröl, Schweiß und Ruß.

Es ist also gleich ein ganzes Bündel an Erzählsträngen, das Andrew McMillan in „Herzgrube“ auf nur 220 Seiten ausbreitet. Er wechselt dabei kapitelweise – auch typographisch voneinander abgesetzt – die Perspektiven und Themen, und damit einhergehend auch die Sprache. Anfangs erfordert es beim Lesen etwas Aufmerksamkeit und Geduld, um die verschiedenen Ebenen zu erkennen und zuzuordnen, doch die Konzentration wird belohnt. Wie sich der Niedergang der Stadt, die durch das Grubenunglück geschlagenen Wunden, die unterschiedlichen Wege des (Nicht-)Auslebens schwulen Begehrens und die verschiedenen, alles andere als einfachen Paarbeziehungen und Familienbande auf den letzten Seiten zu einem engmaschig miteinander verwobenen Gesamtbild fügen, ist ein Meisterstück der Komposition.

Zudem gelingt es Andrew McMillan, seinen Roman trotz eines eindeutigen zentralen Plots in einem mitreißenden Finale gipfeln zu lassen: ein Drag-Auftritt von Simon alias Puttina Short Dress als Wiedergängerin der Eisernen Lady. In dieser komplexen Shownummer stellen queere Identität, Selbstvergewisserung, Geschichtsbewusstsein und Herkunft keinen Widerspruch mehr dar, sondern formieren sich zur Einheit. Kunstvoll, also ohne es künstlich zu erzwingen, dekliniert Andrew McMillan in diesem Vexier- und Stimmungsbild einer durch den Strukturwandel an den sozialen Rand gekippten Stadt leitmotivisch all seine zentralen Themen durch: Es geht um Männlichkeit und (sexuelle) Identität, um das Gesehen- und Entdecktwerden, um das Sich-Zeigen und das Sich-Verstecken. Die einen stellen sich bei Onlyfans und auf Drag-Bühnen zur Schau oder werden auf Überwachungsbildschirmen ungewollt zum Observierungsobjekt. Andere verbergen sich und ihr Begehren im Halbdunkel der Cruising-Orte oder hinter Pseudonymen auf Grindr. Durch seine geschickte Anordnung spiegelt „Herzgrube“ diese privaten Verborgenheiten an den verdrängten und versteckten Teilen der Geschichte von Barnsley. „Das Verborgene, Verdrängte unter der Erde ist quicklebendig und gegenwärtig“, heißt es im Roman. „Es atmet noch, es hustet noch, es ist noch rutschig, es sackt weg.“ So zeigt Andrew McMillan in diesem Debüt auf eindrückliche Weise: Die Geschichte mit all ihren Wunden, Erfahrungen und Verlusten ist nie ganz vergangen, sondern lebt fort in der Gegenwart und in den Biografien der Menschen.



Herzgrube
Von Andrew McMillan
Aus dem Englischen von Robin Detje.
220 Seiten, 24 Euro
Claasen Verlag

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