Verzaubert

TrailerDVD/VoD

Wie erlebten und überlebten Schwule und Lesben in den 1940er und 50er Jahren Verfolgung und Repressionen? Wie haben sie angesichts der gesellschaftlichen Ächtung und einer oftmals existentiellen Bedrohung geliebt, gefeiert und Beziehungen geführt? In „Verzaubert“ erzählen 13 Hamburger Lesben und Schwule von ihren Überlebensstrategien, heimlichen Rendezvous und großen Lieben, von Tarn-Ehen und mutigen Coming-outs. 30 Jahre nach der Uraufführung erscheint dieses bewegende Zeitdokument nun digital restauriert als DVD und VoD. Axel Schock hat den „Verzauberten“ ganz genau zugehört.

Foto: Salzgeber

Ein Schatz aus Erfahrungen

von Axel Schock

Was Selbstbezeichnungen angeht, haben Edith und Werner ihre ganz eigene, entschiedene Meinung. Schwul, das sei ja ein ganz schreckliches Wort, erklärt Edith mit ihrem unverkennbar hanseatischen Tonfall und unterstreicht mit einer energischen Kopfbewegung, wie schlimm sie diesen Begriff findet. „Homo, das geht schon eher. Ich sag ja immer, die sind verzaubert.“ Nun huscht ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. Werner hingegen stört sich an der Bezeichnung lesbisch, weil sie als Schimpfwort benutzt wurde. Er spricht lieber von Freundschaftsfrauen.

Edith und Werner sind drei der insgesamt 13 lesbischen und schwulen Hamburger:innen, die in „Verzaubert“ vor der Kamera von ihrem Leben erzählen: von heimlichen Liebschaften und lebenslangen Partnerschaften, von der Angst vor der Entdeckung, von Repressionen und Verhaftungen während der Nazizeit wie auch in der jungen Bundesrepublik. Ungewohnte Vokabeln wie Freundschaftsfrauen oder Freundschaftsehen (für Tarn-Ehen zwischen Lesben und Schwulen) sind dabei nur kleine Indikatoren für Lebenswelten und Überlebensstrategien, die für Nachgeborene kaum vorstellbar sind, weil sie sich von den eigenen so sehr unterscheiden. Umso wichtiger, dass sie in den Interviews mit diesen 13 Frauen und Männern festgehalten und bewahrt sind. Denn die Zeitzeug:innen waren zum Zeitpunkt der Aufnahme Anfang der 1990er Jahre bereits im Rentenalter, manche gar um die 80 Jahre alt und sind inzwischen verstorben.

Dass ihre Erinnerungen bewahrt wurden und damit lebensnahe und authentische Geschichten vom Alltag von Lesben und Schwulen im Hamburg der 1940 und 1950er Jahre, ist einer Gruppe Studierender an der Uni Hamburg zu verdanken. Die hatte im Wintersemester 1988/89 im Rahmen von Protestaktionen für eine Studienreform ein autonomes Seminar zum Thema „Homosexualität im Film“ organisiert. Es wurde zu einer im besten Sinne folgenreichen Uni-Veranstaltung: Sie war nicht nur Initialzündung für die Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg, dem ältesten und größten queeren Filmfestival Deutschlands, das heute Hamburg International Queer Film Festival heißt; im Seminar fanden sich auch neun Studierende zusammen, die im Kollektiv mit „Verzaubert“ den ersten Dokumentarfilm über Schwule und Lesben im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik produzierten.

 

Es war schwierig genug, die meist sehr zurückgezogenen älteren Homosexuellen überhaupt ausfindig zu machen und Kontakt zu ihnen zu bekommen. Mit rund 50 Personen wurden seinerzeit erste Gespräche geführt. Es bedurfte allerdings noch viel Einfühlungsvermögen und Geduld, um das notwendige Vertrauen zu jenen aufzubauen, sie sich letztlich bereiterklärten, sich auch vor der Kamera befragen zu lassen. Eine Herausforderung, vor der selbst heute noch Zeitzeug:innen-Projekten wie das von der Bundestiftung Magnus Hirschfeld initiierte „Archiv der anderen Erinnerungen“ gestellt sind. Und wie die dort geführten lebensgeschichtlichen Interviews zeigen auch die in „Verzaubert“ kompilierten Gespräche: Es sind weder aufwendige Reenactments, noch ein erklärender Off-Kommentar oder ergänzendes historisches Filmmaterial notwendig, um Geschichte lebendig werden zu lassen. Es genügt, Menschen den Raum und die Atmosphäre zu bieten, in der sie sich öffnen und ihre Geschichte erzählen zu können.

Wie etwa die charmant-resolute Edith, die den Zuschauer:innen die Umstände ihres ersten Techtelmechtel offenbart. Sie hatte sich mit der Dame ihres Herzens in einem Paddelboot aufgemacht, um Aalreusen zu plündern und sich dann mit der Liebsten auf einer Elbstrandinsel noch anderweitig vergnügt. Die Affäre mit dieser verheirateten Frau währte nur einen Sommer, die Partnerschaft mit ihrer späteren Lebensgefährtin hingegen ein halbes Leben: 38 Jahre lang führten sie in Hamburg gemeinsam ein Kaffee- und Konfitürengeschäft.

Rudolf hatte sich bereits mit zwölf Jahren zum ersten Mal verliebt – in einen Klassenkameraden. Als er im Krieg in britische Gefangenschaft geriet, wurde er für eine Amateurtheatertruppe engagiert, um die Frauenrollen zu übernehmen. „Es war die glücklichste Zeit meines Lebens“, gesteht Rudolf doch etwas überraschend. „Endlich konnte ich sein, wie ich wirklich war.“ Den Mut zum Coming-out aber hatte er erst im fortgeschrittenen Alter: mit 60 Jahren.

Warum es den Männern wie den Frauen oft so schwerfiel, offen bzw. öffentlich zu ihrer Homosexualität zu stehen, ist wenig verwunderlich angesichts der fast lebenslangen Erfahrung mit gesellschaftlichen und staatlichen Repressionen. Karl war im Nationalsozialismus wegen „homosexueller Handlungen“ nach Paragraf 175 verurteilt und in „Schutzhaft“ genommen worden. Er wurde zunächst im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg inhaftiert und dann nach Auschwitz deportiert. Dass er dort drei Jahre bis zur Befreiung 1945 überlebte, war lediglich dem Umstand zu verdanken, dass er keinen Rosa Winkel tragen musste, sondern es ihm gelungen war, dort als politischer Häftling registriert zu werden. Wally, die sich nach dem Krieg ihren Lebensunterhalt als Sexarbeiterin auf der Reeperbahn verdiente, hatte eine Zwangssterilisation über sich ergehen lassen müssen. Und Käthe wurde von ihren Eltern zu einem Hypnotiseur geschickt, um sie von ihrer „widernatürlichen Neigungen“ zu heilen.

Foto: Salzgeber

Doch die Verfolgungen und Drangsalierungen endeten nicht mit dem Nationalsozialismus. Der sogenannte „Homosexellen-Paragraf“ blieb auch nach 1945 in Kraft und erneut wurden schwule Männer wegen ihrer Sexualität zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nicht selten wählten sie den Freitod, um der Haft zu entgehen.

Fast alle Protagonist:innen in „Verzaubert“ haben direkt oder indirekt (mit)erlebt, wie ihre Form des Liebens belächelt, verachtet oder sogar kriminalisiert wurde. Dies sind die bedrückendsten Passagen in diesen Interviews. Arno ist gleich zweimal die Ehe mit einer Frau eingegangen um „vor der Welt ein Schutzschild zu haben“, wie er sagt. „Wir mussten uns verstecken, niemand durfte von uns wissen.“

Doch diese Männer und Frauen fanden in allen Zeiten – selbst in der Hitlerjugend oder im Konzentrationslager – Wege und Möglichkeiten, um andere Homosexuelle kennenzulernen, sexuelle Erfahrungen zu machen oder sogar die Liebe finden. In ihren lebendigen, oft sehr unterhaltsamen und pointierten Erzählungen berichten die Protagonist:innen nicht nur von ihren Überlebensstrategien. In ihren Schilderungen ersteht auch noch einmal das vielfältige Szeneleben der Hamburger Nachkriegsjahre mit schummrigen Lokalen wie den Ilka-Stuben und der Roxy Bar, in denen sich die Community so familiär und geschützt fühlen konnte wie im heimischen Wohnzimmer. Werbeanzeigen aus Homosexuellen-Magazinen, Fotos und sogar eine kurze historische Filmimpression lassen erahnen, welche Welt mit diesen Treffpunkten verschwunden ist.

Das Filmemacher:innen-Team hat die Erinnerungen der Interviewpartner:innen thematisch sortiert und mit Feingefühl montiert, sodass sich die individuellen Erfahrungen zu einem großen, breitgefächerten Ganzen bündeln: seien es die ersten Liebeserlebnisse, die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich vorgegebenen Sexualnormen und Geschlechterrollen oder die Bedeutung von freundschaftlichen Netzwerken und der Subkultur.

Die Hamburger Studierenden waren seinerzeit Pionier:innen und haben mit „Verzaubert“ einen bis dahin weitgehend unbeachteten und fast vergessenen Teil deutscher Geschichte auf die Leinwand geholt. Nach ihnen hatten sich Rob Epstein und Jeffrey Friedman in „Paragraph 175“ (2000) mit der Verfolgung im Nationalsozialismus auseinandergesetzt, Jochen Hick in „Mein wunderbares West-Berlin“ (2017) mit der Schwulengeschichte der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung und Van-Tien Hoang in „Das Ende des Schweigens“ (2020) mit den Frankfurter Homosexuellenprozesse von 1950/51. Es blieb allerdings bei diesen Solitären und bei großen Lücken in der filmischen Geschichtsschreibung. Auch deshalb sind die von den Hamburger Studierenden mit großem Einfühlungsvermögen und Respekt geführten Gespräche ein Schatz, der seit der Uraufführung vor mittlerweile 30 Jahren noch wichtiger und wertvoller wurde. Und umso erfreulicher, dass „Verzaubert“ nun digital restauriert wieder zugänglich ist.




Verzaubert
Lesben und Schwule schreiben Geschichte

ein Film von Dorothée von Diepenbroick,
Jörg Fockele, Jens Golombek, Dirk Hauska,
Sylke Jehna, Claudia Kaltenbach, Ulrich Prehn,
Johanna Reutter, Katrin Schmersahl
DE 1992, 89 Minuten, FSK 12,
deutsche OF

Zur DVD im Salzgeber.Shop

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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