North of Vortex & Caught Looking

TrailerDVD/VoD

Ein schwuler Dichter reist mit seinem Cabrio von New York nach Westen. Auf dem Weg nimmt er einen muskelbepackten Matrosen mit, später steigt eine Kellnerin zu. Der Dichter ist scharf auf den Matrosen, der Matrose auf die Kellnerin, die Kellnerin auf den Dichter. Constantine Giannaris’ „North of Vortex“ (1991) besticht durch traumhafte Schwarz-Weiß-Bilder und Beatnik-Romantik. Jetzt gibt es das Road Movie in digital restaurierter Fassung zusammen mit Giannaris’ Teddy-gekröntem futuristischem Kurzfilm „Caught Looking“ (1992) auf DVD und als VoD. Michael Kienzl schreibt über zwei wiederentdeckte Klassiker des queeren Kinos der 1990er Jahre, die beide mit rauer Poesie von unerfüllter Sehnsucht erzählen.

Foto: Salzgeber

Reinste Projektionen

von Michael Kienzl

Zwei Matrosen auf Landgang pinkeln breitbeinig an eine Hauswand und verschwinden anschließend in einem verwinkelten Männerbordell. Die Kamera taucht in eine sepiafarbene Fantasie voller potenzieller Sexpartner ein, die jedoch nicht dem Geist eines Menschen entsprungen ist, sondern von einer Maschine fabriziert wurde. Wir befinden uns in einer nicht näher bestimmten Zukunft, in der sich ein Mann an einem virtuellen erotischen Spiel namens „Caught Looking“ versucht. Mehrere ikonische Orte queeren Begehrens stehen dabei zur Wahl: neben dem besagten Puff noch eine schäbige Klappe, ein viktorianischer Salon sowie das kitschig antike Studio eines Beefcake-Fotografen. Der Spieler darf sich dabei entscheiden, ob er den sexuellen Begegnungen nur zuschauen oder auch mitmachen möchte. Und obwohl der Mann vor dem Computer sich für „Interaction“ entscheidet, erweist sich das als nicht so einfach.

Der griechische Regisseur Constantine Giannaris drehte diesen satirischen Kurzfilm 1992 für den britischen Fernsehsender Channel 4. Was damals futuristisch gemeint war, ist heute eine offensichtliche Zukunftsträumerei aus dem analogen Zeitalter, mit klobigem Computerbildschirm und pixeligen Grafiken. Das Szenario, das „Caught Looking“ aufwirft, ist jedoch so zeitlos wie verführerisch: Was wäre, wenn man sich in einem Schlaraffenland der Lüste einfach nach Belieben bedienen könnte?

Foto: Salzgeber

Die prickelnde Aufregung im Angesicht eines baldigen Abenteuers drosselt Giannaris jedoch immer wieder mit trockenem Humor. Statt zur reinen Wunscherfüllungsmaschine zu werden, ist das Spiel in „Caught Looking“ zugleich zu automatisiert und realistisch, um wirklichen Genuss zu ermöglichen. Die Situationen sind standardisiert und klischeehaft und die attraktiven Männer nicht beliebig von den Ansprüchen des Nutzers formbar. Mal nerven sie mit schlechten Witzen, mal mit pubertär rebellischem Gehabe. Und wenn eine Situation dann doch endlich mal passt, muss rechtzeitig ein grüner Knopf gedrückt werden, sonst holt einen der Schriftzug „Terminated“ jäh in die Realität zurück.

Die virtuelle Welt in „Caught Looking“ ist alles andere als ein Reich der grenzenlosen Fantasie. Bei den Avataren des Nutzers handelt es sich um Künstler, Geschäftsmänner oder Intellektuelle; Stereotypen, die im starken Kontrast zu den jungen, athletischen Männern stehen, die das Spiel bevölkern. Im Bordell trägt der Mann etwa einen weißen Leinenanzug, der ihn selbst an den unglücklich verliebten Gustav von Aschenbach aus Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ erinnert. Die Hierarchie zwischen ihm und seinen Objekten der Begierde scheint unüberwindbar. Mal beobachtet er sie durch ein Glory Hole, mal fotografiert oder filmt er sie. Immer mit sicherem Abstand, aber schließlich auch frustriert, weil er leer ausgeht.

Foto: Salzgeber

Das Dilemma besteht in „Caught Looking“ darin, keine Balance zwischen Trieb und Intellekt zu finden. Der Mann ist gefangen in seinem Zögern und Zweifeln. Fast jeder Sexpartner erweist sich als unpassend: zu jung, zu billig, zu großspurig oder melancholisch. Und dann will er auch noch Liebe an einem Ort, der im besten Fall simulierten Sex zulässt. Gianarris bleibt pessimistisch angesicht des menschlichen Geists, der zu kompliziert und selbstzerstörerisch ist, um jemals Glück zu finden. Und als der Spieler in einem Baudelaire zitierenden Tunesier scheinbar doch noch die ideale Wahl trifft, versagt die Technik.

Als „Caught Looking“ entstand, hat Constantine Giannaris in England bereits zahlreiche Kurzfilme sowie einige Musikvideos für die Jimmy-Sommerville-Acts Bronski Beat und The Communards gedreht. Ab den späten 1990er Jahren arbeitete er dann wieder in seiner griechischen Heimat, wo er mehrere Spiefilme realisierte, von denen das Drama „Am Rande der Stadt“ (1998) über eine Gruppe junger Outcasts an der Peripherie Athens wohl der bekannteste ist. Giannaris‘ spätere Filme sind sozialkritischer und politischer, erzählen oft von Ausgetoßenen wie Strichern, Junkies und Flüchtlingen. Bevor der Regisseur den Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse richtete, beschäftigte er sich nicht minder ungeschminkt mit (queerem) Verlangen.

Seinen ersten längeren Film drehte Giannaris 1991. Der etwa einstündige „North of Vortex“ könnte sich auf den ersten Blick kaum stärker von „Caught Looking“ unterscheiden: ein wortkarges, in den USA angesiedeltes Road Movie mit impressionistischen Landschaftsaufnahmen und elegischem Jazz-Soundtrack. Inhaltlich sind sich die beiden Filme aber durchaus ähnlich. Beide versuchen sich an einer Psychologie des Begehrens, müssen aber letztlich vor der Verkorkstheit ihrer Figuren kapitulieren.

„North of Vortex“ beginnt mit urbanen Straßenaufnahmen, bevor die Umgebung immer wüstenähnlicher, karger und abstrakter wird. Die Aufmerksamkeit rückt dabei stärker auf die Figuren, während die Weite der Landschaft ihren Annäherungen etwas Existenzielles verleiht. Drei Fremde sind es, die im Film gemeinsam reisen: ein schwuler Dichter, ein Matrose und die Kellnerin Jackie. Ihr Zusammentreffen ist zufällig und ihre Reise folgt keinem höheren Zweck. Mehrmals sehen wir, wie in Großaufnahmen mit einem kleinen Plastik-Hubschrauber hantiert wird. Das Spielzeug wirkt dabei wie ein Symbol für die Sehnsucht, wegzukommen. Wohin die Drei wollen, wissen sie aber selbst nicht.

Die Kamera umschmeichelt die Darsteller:innen, auch wenn sie gerade nichts Interessantes tun. Wie der Voyeur aus „Caught Looking“ trägt auch der schwule Poet einen Anzug und kommentiert das Geschehen vereinzelt aus dem Off. Müdigkeit und Todessehnsucht lasten auf ihm, aber er wirkt dabei auch elegant und sexy. Der Matrose verkörpert dagegen eine kernige Männlichkeit, der Schwule oft verfallen. Wenn er den Dichter ansieht, dann herausfordernd und leicht verächtlich, im Wissen um seine erotische Wirkung. Jackie wirkt entrückter als die beiden Männer. Mit ihrem gepunkteten Kopftuch und der großen Sonnenbrille sieht sie aus wie ein Filmstar aus den 50ern.

Foto: Salzgeber

Zusammen bilden die Weggefährten ein Dreieck des unerfüllten Begehrens. Der Dichter liebt den Matrosen, der die Kellnerin liebt, die wiederum den Dichter liebt. Die Unmöglichkeit der jeweiligen Sehnsucht ist kein unglücklicher Zufall, sondern ihr Fundament. Der Reiz liegt gerade in der Unerreichbarkeit, die Erotik in der Zurückweisung. Wie selbstzerstörerisch diese Zuneigung ist, betont Giannaris etwa, wenn er den Dichter und Jackie als Ersatzhandlung für Sex gemeinsam Heroin spritzen lässt. Der Matrose vögelt zwar mit dem Dichter, benutzt ihn aber wie ein Stück Fleisch. Jeden Anflug von Nähe und Zärtlichkeit sieht er als Schwäche, die durch Gewalt wieder korrigiert werden muss.

Ähnlich wie in „Caught Looking“ erweisen sich in „North of Vortex“ Sex und Liebe als reine Projektion. Nicht das Gegenüber selbst zählt, sondern das, was wir in ihm sehen wollen. Mehrmals schummeln sich Fantasien in die Bildwelt: einladende Gesten, die jedoch der Einbildung der Figuren entspringen. Bei ihrer ersten Begegnung schneidet Giannaris von Jackies abschätzigem Blick auf den Matrosen, der auf ihre Missbilligung mit flirtendem Eifer reagiert. Ihre Kommunikation beruht auf einem Missverständnis, wirkliche Interaktion scheint ausgeschlossen zu sein. Wenn die drei nackt und miteinander verschlungen mit Bett liegen, könnte man das kurz für eine romantische Utopie halten. Die körperliche Nähe kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder in seiner eigenen Welt gefangen bleibt. Dass die Happy Ends, die uns „North of Vortex“ präsentiert, trügerisch sind, enthält uns der Voice Over nicht vor. Sicher ist nur die Einsamkeit, in die wir uns manövrieren, weil wir nicht aufhören können, uns selbst zu belügen.




North of Vortex & Caught Looking
zwei Filme von Constantine Giannaris

UK 1991/92, 58/36 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

Zur DVD im Salzgeber.Shop

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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