Nocturnal Animals

TrailerDVD / Blu-ray

Tom Ford, der vor acht Jahren mit der bestechend schönen, schonungslos klaren Christopher-Isherwood-Verfilmung „A Single Man“ als Regisseur debütierte und angeblich zudem als Modedesigner bekannt ist, hat endlich seinen zweiten Spielfilm gedreht. Auch „Nocturnal Animals“, der auf einem Roman von Austin Wright basiert, ist eine raffiniert verspiegelte Studie über Einsamkeit, doch führt diese weit tiefer ins Verborgene als ihre Vorgängerin, ist erzählerisch zersplittert und voll von latenter und manifester Gewalt. Ein monströser Film über die Frage nach dem richtigen Leben, über Schuld, Rache und Verzweiflung – und über das Amerika der Gegenwart. Anlässlich des DVD/Blu-ray-Starts von „Nocturnal Animals“ wagt sich Sascha Westphal auf Fords dunkles Terrain.

Foto: Universal Pictures

Fear and Fascination

von Sascha Westphal

I   L.A., Gegenwart. Susan Morrow steckt fest. Ihre Arbeit als Galeristin und damit auch ihr Leben haben in ihren Augen keinen Sinn mehr. Was sie einst wollte, erscheint nun noch falsch und hohl: nichts als „junk“, alles Abfall, Auswurf. Wohin sie auch blickt: nur Bedeutungslosigkeit. Und nirgendwo ein Ausweg. Ihre Zweifel und Schuldgefühle lähmen sie und rauben ihr den Schlaf. Auf einer eleganten Dinner-Party schwärmt Carlos, der schwule Gastgeber, von der neuesten Ausstellung in ihrer Galerie. Aber sie lässt sich nicht überzeugen. Noch schaler als dieses narrengoldene Leben in der winzigen, unendlich abgehobenen Welt der Schönen und Reichen ist einzig und alleine eine Kunst, die sich anmaßt, das Falsche zu entlarven. Als gäbe es etwas Anderes. Das Nichts, in das Susan starrt und in dem sie schon bald für immer zu verschwinden droht, spiegelt sich in ihren Augen. Es frisst sie von Innen auf. Vermutlich ist es längst zu spät. Aber Carlos streckt ihr noch einmal eine Hand entgegen, will sie zurück auf halbwegs sicheren Boden holen: „Susan, genieß die Absurdität unserer Welt. Glaub mir, unsere Welt ist weit weniger schmerzhaft als die echte.“

II   Von den unendlichen Qualen, die das Leben in der echten Welt mit sich bringen kann, hat Tom Ford schon in seinem Debütfilm „A Single Man“ (2009) erzählt. Und auch von dem vielleicht absurden, aber wenigstens eine Zeit lang glücklichen Leben in einer anderen, selbst erschaffenen Welt. Für George Falconer, den homosexuellen Literaturprofessor, der im Amerika der Nachkriegsjahre sein Leben und seine Liebe geheim halten muss, ist dieser Gegen-Kosmos sein von riesigen Fensterfronten dominiertes Haus. Von Außen wirkt alles offen, und Innen kann der Blick frei schweifen. Keine Grenzen, keine Lügen. Aber dieser wahr gewordene Traum erweist sich als Selbstbetrug. Nach dem Tod seines langjährigen Lebenspartners darf George nicht zu dessen Begräbnis kommen. Die Wirklichkeit holt ihn in seinem Haus aus Glas ein, das nun eher einem gläsernen Sarg gleicht. Die Schmerzen, die er so lange betäubt und verdrängt hat, überwältigen ihn, werden zum Meer, in dem er untergeht. Neben einer unermesslichen Melancholie erfüllt Fords Verfilmung von Christopher Isherwoods gleichnamigen Roman auch eine erlösende Klarheit: Niemand mag der echten Welt auf ewig entkommen, aber jeder Moment jenseits von ihr ist ein Geschenk.

III   Diese Gewissheit hat sich in „Nocturnal Animals“ aufgelöst, Fords zweitem Film, einer Adaption von Austin Wright erstmals 1993 erschienenem Roman „Tony und Susan“. Die wundervolle Klarheit und Geschlossenheit von „A Single Man“ ist hier schier unvorstellbar. Erinnerungen an sie schwingen zwar noch in einigen Momenten und Bildern mit, aber sie gleichen Gespenstern, die einen nicht loslassen können. Alles ist zersplittert, die Geschichte genauso wie Amerika, wie die ganze Welt. Susan, die nicht schlafen kann, verliert sich schließlich in einer Fiktion. Vor 19 Jahren hat sie Edward Sheffield, ihren ersten Ehemann, verlassen. Nun hat er ihr nach Jahren des Schweigens seinen Roman „Nocturnal Animals“ geschickt, einen düsteren Thriller um einen Mann, Tony Hastings, dessen Frau und Tochter ermordet werden. Tony konnte das nicht verhindern, ihm bleibt nur noch die Option, Rache zu nehmen. Und so liest Susan auch den Roman als einen Akt der Rache. Schließlich hat Edward sie damals nicht aufhalten können.

IV   Es bleibt in „Nocturnal Animals“ aber nicht bei den klaren Sprüngen zwischen Susans absurd-realen Alltag und dem brutalen Zerrbild einer möglicherweise echten Welt, das Edwards Erzählung heraufbeschwört. Die Risse und Brüche der filmischen Erzählung sind um einiges komplexer. Noch eine dritte Ebene schiebt sich dazwischen: Susans Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit mit Edward, an ihre Liebe und deren Scheitern. Die Verbindungen sind vielfältig, die Relationen niemals eindeutig. So wird Tony wie Edward von Jake Gyllenhaal gespielt, während Susan und Tonys Frau Laura von zwei verschiedenen Schauspielerinnen verkörpert werden, Amy Adams und Isla Fisher. Nur setzen Ford und sein Kameramann Seamus McGarvey sie so in Szene, dass sie fast wie Doppelgängerinnen wirken. Die Grenzen zwischen Fiktion und Projektion, zwischen Schuld und Paranoia, verschwimmen. Nichts fügt sich wirklich zusammen, auch Gegenwart und Vergangenheit nicht.

Foto: Universal Pictures

V   New York, 20 Jahre zuvor. Susan und Edward begegnen sich zufällig auf der Straße in Manhattan. In ihrer Kindheit und Jugend waren sie ständig zusammen, und es gab auch noch einen Dritten im Bunde, Susans Bruder. Doch dann, nach dem Ende ihrer Schulzeit, haben sich die Wege von Susan und Edward getrennt. Bis zu diesem Abend. Susan lädt Edward, in den sie damals ebenso verschossen war wie er in sie, zum Essen ein. Damals, in den unschuldigen, aber auch verwirrenden Jahren ihrer Jugend, hat keiner von beiden über diese Gefühle gesprochen. Nun, in dem noblen Restaurant, spricht Susan über alles. Zuerst über ihren Bruder, der damals unsterblich in Edward verliebt war und später aufgrund seiner Homosexualität von seinen erzkonservativen Eltern verstoßen wurde, und zuletzt über ihre eigenen Gefühle. Als Edward erkennt, wie wenig er damals verstanden hat, überwältigen ihn eine Traurigkeit und ein seltsamer Schmerz. In seine Liebe zu Susan, die sofort wieder auflodert, mischt sich ein Gefühl der Schuld, das er beiseite schiebt.

VI   West-Texas, vor etwa einem Jahr, allerdings in einer anderen Realität. Die nächtliche Landschaft, durch die Tony zusammen mit Laura und seiner Tochter India fährt, ist karg und leer. Alles ist genauso, wie er es sich wünscht: keine Menschen und kein Mobilnetz. Die Familie stößt auf zwei Autos, die nebeneinander fahrend die Landstraße blockieren. Es sind Ray Marcus und zwei Freunde in dem einen Wagen, die einen anderen Fahrer drangsalieren. Bei einem Überholmanöver streift Tony leicht Rays Wagen. Daraufhin verfolgt Ray die Hastings und drängt sie von der Straße ab. Die Berührung der beiden Autos setzt etwas in Gang: einen ungleichen Zweikampf zwischen zwei Männern, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Aber da ist noch etwas Anderes, Unausgesprochenes.

Foto: Universal Pictures

VII   Das Offensichtliche ist eine Ablenkung. Die simple Lesart der beiden Filmebenen, die Ford einem nahezulegen scheint, könnte auch eine falsche Fährte sein. Was, wenn Edwards Roman gar nicht das Instrument seiner Rache wäre, sondern ein Geständnis? Natürlich hat Susan vor 19 Jahre ihre Ehe zerstört. Sie, die so gerne eine Künstlerin geworden wäre, hatte nicht genug Kraft, um über ihren Schatten zu springen. Ihre Mutter sollte Recht behalten. Geld und Sicherheit, Erfolg und Ordnung waren ihr dann doch wichtiger als die rauschhafte Liebe, nach der sie sich so gesehnt hatte. Damit muss sie nun leben, in der Kälte ihres Luxus-Bungalows in den Hügeln von Los Angeles.

VIII   Noch einmal West-Texas in dieser verhängnisvollen Nacht. Für einen Mann wie Tony ist der von Aaron Taylor-Johnson gespielte Ray Marcus ein Albtraum: viril und vulgär, aggressiv und unberechenbar. Immer wieder kommt er Tony zu nah, bedroht und spielt mit ihm. Den intellektuellen Familienvater erfüllt eine instinktive Furcht. Er ist starr und kann kaum mehr handeln. Immer wenn er versucht, sich zur Wehr zu setzen, ist es zu spät. Dabei lässt Ray ihm durchaus Raum. Er kommt Tony nahe und weicht zurück, kommt ihm nahe und weicht zurück. Es ist fast ein Tanz. Aber sie finden keinen gemeinsamen Rhythmus. So bleibt nur das Verbrechen, dem Laura und India zum Opfer fallen.

Foto: Universal Pictures

IX   West-Texas, gut ein Jahr später. Die Verhältnisse haben sich verändert. Nun sucht Tony nach Ray. Er macht zusammen mit dem todkranken Polizisten Bobby Andes, gespielt von Michael Shannon, Jagd auf ihn. Als sie ihn finden, bietet sich ihnen ein bizarres Bild. Ray sitzt auf der Veranda eines heruntergekommenen Haus auf der Toilette, schutzlos, halb entblößt. Ein irritierender Anblick, der sofort Unsicherheit schafft. Ray spielt seine Situation aus und genießt das Unbehagen, das er auslöst. Vordergründig ist die Situation klar, Ray ist Tony und Bobby ausgeliefert. Aber hintergründig gerät alles ins Wanken. Der Gedanke an Rache rechtfertigt Tonys Handeln. So muss er sich keine weiteren Fragen stellen und sich nichts eingestehen. Noch ein Tanz, der eine Andeutung bleibt. Das Ende wenige Tage später ist unausweichlich.

X   Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das ist die eine Wahrheit. Aber es gibt auch kein falsches. Das ist es, woran Carlos die stürzende Susan erinnern will. Es gibt nur Entscheidungen, die im Moment getroffen werden. Reue danach ist sinnlos. Die ändert doch nichts. Aber nicht nur Reue ist vergeblich, auch Rache, ihr dunkler Zwilling, hat nichts Befreiendes oder gar Erlösendes. Und doch kommen Fords Protagonisten von beidem nicht los. Sie vergehen vor Reue und werden blind vor Rache – und zerreißen sich dabei selbst. Darin gleichen sie einem Amerika, das mehr und mehr zerfällt: in eine echte, von Männern wie Ray Marcus geprägte Welt, und in die absurden Enklaven des Geldes und der nichtigen Ablenkungen. Vielleicht ist schon zu viel zerstört worden, vielleicht fügen sich die Teile nie mehr zusammen. Aber etwas verbindet sie noch: dieses ewige Wechselspiel von Furcht vor und Faszination angesichts des jeweils Anderem.

Foto: Universal Pictures

XI   Die Lücken und die Fragen bleiben. Es gibt keinen Halt in Fords zweitem Film, keine Zuflucht. Für Momente ist da zwar diese betörende, schmerzlich-schöne Traurigkeit, die „A Single Man“ so unvergesslich machte. Nur verfliegt dieses Gefühl sofort wieder und weicht einer Verzweiflung, die nichts Berauschendes mehr hat. Dafür eröffnen sich verborgene, unterdrückte Bezüge. Die Puzzleteile, die nicht wirklich passen, lenken den Blick auf die Leerstellen, auf die blinden Flecken und Abgründe, in denen sich manifestiert, was sich nicht so recht greifen lässt. Mal scheint etwas für einen flüchtigen Moment unter der Oberfläche der perfekt kadrierten Einstellungen auf – vielleicht ist es eine andere Wahrheit. Oder aber etwas glimmt schwach aus der Tiefe empor – vielleicht eine Ahnung von Begierden, die sich einfach nicht gänzlich versenken lassen. Wie schon in seinem ersten Film erschafft Ford Bilder, denen etwas Gläsernes zu Eigen ist. Es hängt ganz vom Betrachter ab, ob er nur eine Oberfläche erblickt, in der er sich zwangsläufig selbst spiegelt, oder ob er durch sie hindurch sieht und Verdrängtes entdeckt.




Nocturnal Animals
von Tom Ford
US 2016, 117 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,
Universal Pictures

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