Ira Sachs

DVD / VoD

„Wenn Martin Scorsese der wichtigste Autorenfilmer des New Yorks der 70er und 80er war“, schrieb vor kurzem das US-Magazin Vulture, „und Spike Lee jener der späten 80er und 90er, dann wird Ira Sachs nach und nach der maßgebliche Auteur des heutigen New Yorks“. Seit seinem vierten Spielfilm „Keep the Lights On“ agiert Sachs in der Tat wie kein zweiter Regisseur als ein künstlerischer Seismograf seiner im sozialen Wandel befindlichen Wahlheimatstadt. Anlässlich der DVD-Veröffentlichung seines jüngsten Films „Little Men“ erinnert sich sissy an Sachs’ in queeren Kritikerkreisen berüchtigten Debütfilm und an seine Generationen-umspannende New-York-Trilogie, die ihm letztes Jahr sogar eine „mid-career retrospective“ im Museum of Modern Art bescherte.

Wenn man so will, hat Ira Sachs mit seinen letzten drei Filmen alle wichtigen Phasen im Leben des schwulen New Yorkers beschrieben: die Kindheit, die geprägt ist von der innigen Freundschaft zu einem anderen Jungen vor dem sexuellen Erwachen („Little Men“); die Zeit der ersten reifen, von wilden Stürmen gebeutelten Liebesbeziehung („Keep the Lights On“); und die über mehrere Jahrzehnte gewachsene Partnerschaft („Liebe geht seltsame Wege“). In all diesen Filmen blickt der Regisseur nicht nur auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch auf die sozialen Probleme der Stadt: auf Themen wie die Verdichtung von Klassenkonflikten und Gentrifizierung, die viele der einst vielgestaltigen migrantischen Viertel New Yorks zunehmend uniformieren. Bei Sachs‘ enger Verbundenheit mit der Metropole an der Ostküste wird oft vergessen, dass der 1965 geborene Regisseur – typisch amerikanisch! – selbst aus einer ganz anderen, weit weniger progressiven Gegend stammt: aus Memphis, Tennessee, dem Scheitelpunkt des Mississippi-Deltas, jenes riesigen, von unzähligen Flüssen und Flussausläufern durchzogenen Schwemmgebiets im weiten Süden der USA. An diesem geschichts- und landschaftsmythisch resonanten Ort hat Ira Sachs die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend zugebracht. Und zweimal ist er als Filmemacher auch hierher zurückgekehrt: 1996 für sein raues Langfilmdebüt „The Delta“ und 2005 für sein Beziehungsdrama „Forty Shades of Blue“, für das er mit dem Großen Preis der Jury beim Festival von Sundance ausgezeichnet wurde – sein Durchbruch als Regisseur. Tatsächlich findet sich alles, was Sachs‘ späteres Großstadtkino auszeichnet, bereits in diesen frühen Filmen wieder: der präzise Sinn für Stimmungen und Atmosphären, der offene Blick und die tief humanistische Perspektive auf Liebesbeziehungen und Klassenstrukturen, die fließenden Übergänge zwischen Close-ups und Totalen, die Poesie des intimen Moments. Ein Blick auf Sachs‘ Amerika:

The Delta (1996)

Foto: Edition Salzgeber

Wer gesehen hat, wie suggestiv sich der gestohlene Blowjob am fiebrigen Anfang von „The Delta“ in die Landschaften und Atmosphären des titelgebenden Schwemmgebiets insinuiert, der begreift sofort, weshalb Ira Sachs schwule Subjektivität immer von einem präzise bestimmten Herkunftsort aus denkt und in seinen Filmen wirksam werden lässt. Immer wieder hat Sachs in Interviews die Psychoanalyse verteidigt, meist gegen antipsychologische Beißreflexe der Filmkritik. Was den psychoanalytischen Einschlag seiner Filme, der offensichtlich auch auf das Sprechen und Schreiben über sie abfärbt, erträglich macht: dass die Kernfamilie immer über sich hinaus weist, auf andere Formen von Vergemeinschaftung einerseits, aber eben immer auch auf das Entgrenzungspotenzial affektiver Raumerfahrungen – vom Cruising über die Bootsfahrt bis zum Drogentrip. Solche Raumerfahrungen (und nicht primär familiäre Bande) sind es, so könnte man Sachs’ Position autorenpolitisch akzentuieren, die uns zurück an die Orte unserer Jugend und Kindheit führen; zurück an ein früheres, nicht vollständig sedimentiertes Ich, noch vom Wasser formbar.

aus „Am südlichsten Ort der Welt“ von Nikolaus Pernezcky
(sissy-Besprechung zu „The Delta“)

Keep the Lights On (2012)

Foto: Edition Salzgeber

Ira Sachs hat bei der Entgegennahme des Teddy-Awards auf der Berlinale recht deutlich darauf hingewiesen, wie autobiografisch der Film für ihn ist und dass er den Titel ganz im Sinne dieses autobiografischen Realismus verstanden wissen will. „Keep the Lights On“ soll demnach heißen, dass wir queere Menschen unsere Geschichten nicht verstecken dürfen, sondern sie uns gegenseitig erzählen sollten. Die großartige Kraft des Filmes kommt für mich aus dem klugen Verfahren, mit dem der Film diesen einigermaßen pathetischen Anspruch ganz unpathetisch funktionieren lässt. Er begnügt sich nämlich nicht mit einem ästhetisch behaupteten Realismus, an den ich glauben kann oder nicht, sondern er lädt mich zur Teilnahme an einer fiktiven Dokumentation ein, ganz ähnlich der Suche nach Avery Willard, die ganz und gar gemacht aber auch ganz und gar real ist. Man kann an fast jeder Ecke des Filmes einsteigen und wird überall diese besondere Form gemachter Realität vorfinden: Erik wird nicht nur vom dänischen Schauspieler Thure Lindhardt mit deutlich dänischem Akzent gespielt, sondern Erik ist ebenfalls ein in New York lebender Däne, der sich ab und an mit seiner Schwester trifft und dann mit ihr untertiteltes Dänisch spricht. Immer wieder bezieht sich der Film auf die Topografie New Yorks, zeigt, wie Erik von Chelsea nach Greenwich Village fährt, wie er sich von Paul am Schluss an der Kreuzung Broadway und West 27th Street verabschiedet, wie die beiden irgendwo im Battery Park mit Blick auf die Freiheitsstatue liegen. All das sind Orte, die sich leicht lokalisieren lassen. Es ist ein New York, in dem Erik, Thure Lindhardt und ich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit über die gleiche Straße gehen können, in dem wir uns alle möglicherweise in der gleichen Telefonsexhotline treffen oder in dem wir alle den Spuren Avery Willards folgen. In jeder Einstellung zeigt der Film eine Welt, zu der ich gehöre oder wenigstens gehören kann.

aus „Butterbrot im Kinolicht“ von André Wendler
(sissy-Besprechung zu „Keep the Lights On“)

Liebe geht seltsame Wege (2014)

Foto: Sony Pictures Home Entertainment

Bemerkenswert, wie herkömmlich und gleichzeitig schon wieder ausgefallen eine Filmerzählung wirkt, die nichts groß hochzwirbelt, sondern den Figuren Zeit und Raum lässt. Und immer dann, wenn der Film in Gefahr ist, in einen Trab zu fallen, wechselt er in den Galopp. Ganz unvermutet macht er dann einen gewaltigen zeitlichen Satz nach vorn. Ira Sachs ist ein Meister der Ellipse und setzt sie äußerst wirkungsvoll ein. Der Zuschauer sitzt plötzlich sehr gerade und reißt die Augen auf. Musiklehrer George erklärt in einer Szene einer Klavierschülerin: „Improvisation ist gut, aber man muss immer auch das tickende Metronom hören.“ Wohl nicht zufällig beschreibt dieser Satz auch das Credo des Regisseurs. Er besteht darauf, dass alle Beteiligten sich strikt an sein Buch halten. Improvisiert wird nicht, aber die Schauspieler sollen ihre Figuren schon beim ersten Take parat haben. Sachs will überrascht werden. Keine Wiederholungen. Und immer wieder heißt es: „Don’t act!“ Das ist für Schauspieler nun wirklich eine Herausforderung, fast eine Beleidigung, aber ihrem Spiel tut es paradoxerweise ungeheuer gut.

aus „Das Metronom tickt“ von Matthias Frings
(sissy-Besprechung zu „Liebe geht seltsame Wege“)

Little Men (2016)

Es war ein besonderer Moment, als sich Regisseur Ira Sachs im letzten Jahr nach einer Aufführung von „Little Men“ vor dem vorwiegend jugendlichen Berlinale-Publikum auf der Bühne outete. Zum einen outete er sich als schwuler Mann, er outete sich aber vor allem, und in diesem Moment fast wichtiger, als Vater. Für einen Moment war es still im Publikum, und man konnte förmlich spüren, wie dieses von Sachs selbstverständlich und beiläufig erwähnte Konzept der Regenbogenfamilie bei manchen im Publikum erst einmal sacken musste. Er ist natürlich nicht wichtig zu wissen, dass der Regisseur, der diesen umwerfend einfühlsamen Film über die neue Freundschaft zweier New Yorker Jungs gemacht hat, selbst Vater ist, oder seit langem in New York wohnt, aber es sind kleine Schlüssel des Privaten, mit denen man die Türen zum Werk von Ira Sachs nach dem Dahinschmelzen während des Films noch einmal neu öffnen kann.

aus „Schwebende Freundschaft“ von Toby Ashraf
(sissy-Besprechung zu „Little Men“)




The Delta
von Ira Sachs
US 1996, 85 Minuten,
englische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Keep the Lights On
von Ira Sachs
USA 2012, 102 Minuten, FSK ??
englische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)



Liebe geht seltsame Wege
von Ira Sachs
US 2014, 91 Minuten, deutsche SF & englische OmU
Sony Pictures Home Entertainment



Little Men
von Ira Sachs
US
2016, 85 Minuten, FSK 0,
engl. OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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