I, Tonya

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Im Jahr 1994 kannte den Namen Tonya Harding ganz Amerika. Nicht unbedingt, weil sie als erste US-Einskunstläuferin den verflixt schweren dreifachen Axel in einem Wettbewerb gesprungen hatte. Sondern weil sie in den Medien als Mitverantwortliche an einem Anschlag auf ihre damals schärfste Konkurrentin Nancy Kerrigan galt, bei dem diese von einem Handlanger von Tonyas damaligen Ehemann mit einer Eisenstange attakiert und verletzt wurde. Über die lange Zeit als „Eis-Hexe“ verrufene Harding hat Craig Gillespie nun ein Biopic gedreht und mit Margot Robbie als Tonya und TV-Star Allison Janney („Mom“, seit 2103) als deren Mutter LaVona raffiniert besetzt. Unser Autor Paul Schulz findet: „I, Tonya“ ist nicht das Camp-Meisterwerk, auf das einige vielleicht gehofft haben, sondern etwas viel Besseres – eine feministische Selbstbehauptung mit dem Baseballschläger.

Das Leben ist ein Eiskampflauf

von Paul Schulz

Die Tonya-Harding-Story ist schnell erzählt: Das Mädchen aus armen Verhältnissen war Anfang der 90er international eine der technisch besten Eiskunstläuferinnen, nahm mehrfach an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teil, kam aber bei den wichtigsten Wettbewerben nie ganz oben aufs Treppchen, weil ihr die Grazie und die hübschen Kostüme ihren schärfsten Konkurrentinnen Katharina Witt und Nancy Kerrigan fehlten. Weltberühmt wurde Tonya erst, als ein von ihrem damaligen Ehemann Jeff beauftragter Ganove am 6. Januar 1994 ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan während des Trainings zur US-amerikanischen Meisterschaft mit einer Eisenstange schwer am Knie verletzte. Die Bilder auf denen die hochgewachsene, dunkelhaarige Kerrigan, der seinerzeit eine Beziehung zu einem Kennedy nachgesagt wurde, am Boden liegend „Why? Why? Why?“ in eine Kamera weint, gingen um die Welt. Ob Harding von den Attentatsplänen gewusst hatte, wurde nie abschließend geklärt, verurteilt und lebenslang gesperrt wurde sie wegen Behinderungen der Ermittlungen in dem Fall dennoch.

Während des „Vorfalls“ und noch viele Jahre danach wurde Harding von den Boulevardmedien als „blonde Hexe“ des Eiskunstlaufens bezeichnet. Nachdem sie sich von ihrem ersten Ehemann Jeff, der für das Attentat auf Kerrigan ins Gefängnis ging, hatte scheiden lassen, arbeitete Harding unter anderem als professionelle Ringerin und Boxerin. Heute ist sie wieder verheiratet, hat ein Kind und lebt eher zurückgezogen.

Das änderte sich im letzten Jahr allerdings schlagartig. Der australische Hollywoodstar Margot Robbie drehte mit Regisseur Craig Gillespie („Lars und die Frauen“, 2007; „Fright Night“, 2011) nach einem Drehbuch von Steven Rogers „I, Tonya“, ein Biopic über Harding, das zwangsläufig auch die Ex-Eiskunstläuferin wieder im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit setzte.

Foto: DCM

Das Drehbuch zu „I, Tonya“ basiert auf langen Interviews, die Rogers mit fast allen Personen, die für die Geschichte von Bedeutung sind, geführt hat: unter anderem mit Harding selbst, ihrem Ex-Ehemann Jeff und Hardings Mutter LaVona. Diese Interviews bilden das Rückgrat des Films. Sebastien Stan als Jeff, Robbie als Tonya und Allison Janney als ihre Mutter schildern ihre Sicht der Dinge als völlig unzuverlässige Erzähler direkt in die Kamera und durchbrechen in Szenen auch schon mal die filmische Illusion der vierten Wand, um darauf hinzuweisen, dass das, was hier gezeigt wird nicht, vor allem ihrer Wahrheit entspricht. Der Film bekam in den USA fantastische Kritiken, drei Oscar-Nominierungen und schließlich einen Oscar für Allison Janney. Auch Harding selbst war vom Film begeistert und sagte in vielen Interviews, wie sehr sie sich darüber freuen würde, dass endlich jemand mit großer Empathie ihre wahre Geschichte erzählt hätte.

Foto: DCM

Die queere US-Filmkritik war allerdings nicht geschlossen angetan: Dem Film fehle jedwede schwule Sensibilität, das sei alles nicht camp genug und überhaupt sei Tonya Harding zu sehr als Opfer dargestellt –  von ihrer Mutter gequält, von ihrem Ehemann verprügelt. Einige, hauptsächlich männliche Filmkritiker konnten gar nicht schnell genug sagen, dass Produzentin und Hauptdarstellerin Robbie aus Hardings furchtbarem White Trash-Schicksal eine Lachnummer gemacht hätte und sich dabei über die Armut, Ungebildetheit und das kriminelle Potential ihrer Protagonistin erhoben hätte.

Dem ist nicht so. Es stimmt, „I, Tonya“ hätte nur ein Film darüber sein können, wie furchtbar deprimierend es ist, in den USA, oder anderswo, arm zu sein und die bürgerliche Mittel- und Oberschicht ständig von unten darum bitten zu müssen, an ihren kulturellen Diskursen teilnehmen zu dürfen. „I, Tonya“ hätte nur ein Film darüber sein können, wie jemand der mit solcher Regelmäßigkeit und Brutalität von Mutter und Ehemann körperlich attackiert wird, wie Harding das wurde, irgendwie doch lebenslang beschädigt bleibt. „I, Tonya“ hätte nur ein Film darüber werden können, wie jemand Gewalt als letzten Ausweg benutzt um aus seiner Sicht soziale Chancengleichheit auf dem Eis herzustellen. „I, Tonya“ ist auch ein Film über all diese Dinge.

Foto: DCM

Aber in erster Linie ist er ein großes „Suck my dick!“ an all diejenigen, die Harding seit nunmehr 40 Jahren beurteilen und ihr sagen wollen, wo sie wie zu stehen oder zu laufen hat. Wenn Tonya dabei gezeigt wird, wie sie sich ein Messer, das ihre Mutter in einem Streit gerade auf sie geworfen hat, einfach aus dem Arm zieht und kopfschüttelnd weggeht, oder wie sie sich nach langen Jahren des Missbrauchs einen Baseballschläger schnappt, um damit endlich ihren Ehemann aufzumischen, kann man dem aus sicherer Entfernung zuschauen, es absurd finden und darüber lachen. Oder sich darüber aufregen, dass jemand lacht. Muss man aber nicht. Man kann sich auch über die brutal feministische Selbstbehauptung, die hier gezeigt wird, freuen, selbst wenn man anerkennt, wie weit entfernt das Gezeigte von dem ist, was uns der Spätkapitalismus im Allgemeinen als Glücksversprechen anbietet.

Man fühlt mit Tonya im Film, weil man nicht glaubt, dass ein Leben auf dem Eis – oder sonst wo – nur dann ein Erfolg ist, wenn Karrieren dabei so laufen wie die von Katharina Witt oder eben Nancy Karrigan. Und dass man einen Kampf um seinen Platz in der Welt nur dann gewonnen hat, wenn man am Schluss reich und mächtig ist. Vielleicht geht es im Leben und in diesem Film auch einfach nur darum, dass man am Ende mit sich selbst im Reinen ist, egal wie andere das finden. Wenn man „I, Tonya“ so sieht, ist er einer der bisher queersten Film des Jahres.




I, Tonya
von Craig Gillespie
US 2017, 119 Minuten, FSK: 12
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,

DCM

Ab 22. März hier im Kino.

 

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