Hochwald

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Ab jetzt im Salzgeber Club: In ihrem Regiedebüt „Hochwald“ erzählt Evi Romen inmitten der trügerischen Idylle der Südtiroler Berge von einem jungen Mann, der an dem Ort, in den er hineingeboren wurde, vollkommen fehl am Platz ist. Er muss raus aus der Enge, in ein anderes, freieres Leben – sonst bleibt er für immer ein Verlorener. Die Geschichte von Mario verknüpft sie mit dem Thema der terroristischen Bedrohung und der damit verbundenen Gefahr der Stigmatisierung von Menschen, die anders glauben. Für ihr vielschichtiges und bildgewaltiges Außenseiterdrama, in dem Newcomer Thomas Prenn und Noah Saavedra glänzen, wurde sie u.a. mit dem Goldenen Auge des Zürich Film Festivals und dem Große Diagonale Preis ausgezeichnet. Beim Österreichischen Filmpreis 2021 war „Hochwald“ in neun Kategorien nominiert (u.a. Bester Film). Thomas Prenn erhielt für sein mitreißendes Porträt den Preis als Bester Hauptdarsteller. Sascha Westphal über einen zugleich harten und zarten Film, der sich nicht fassen, nur annähernd beschreiben lässt.

Foto: Salzgeber

Glaube Liebe Hoffnung

von Sascha Westphal

Ein kleines Dorf oberhalb von Bozen. Der Blick hinab ins Tal ist atemberaubend. Die Stadt, von der die Züge hinaus in die Welt fahren, nach Rom und Bologna, nach Wien und weiter, scheint zum Greifen nah und zugleich unendlich fern. Natürlich fahren die Leute auch mal hinunter, um zu arbeiten oder einzukaufen. Aber am liebsten bleiben sie unter sich und blicken auf die Stadt und alles, wofür sie steht, herab. Dabei kennen auch diese Menschen im Dorf längst alles. Sei es nun aus dem Fernsehen oder von ihren Mobiltelefonen, wie der örtliche Pfarrer einmal sagt. Aber letzten Endes bestärkt sie dieses Wissen um die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts noch in ihrer Erstarrung. Wenigstens bei ihnen im Dorf soll alles bleiben, wie es immer schon (oder auch noch nie) war. Sie leben wie vor hundert und mehr Jahren. Alles ist eng in den Häusern und in den Köpfen, und alle haben ihren Platz, an dem sie ihr ganzes Leben verbringen werden … oder sie gehen, lassen das Dorf und dessen Mentalität ein für alle Mal hinter sich.

Einer, der unbedingt fort will, ist Mario. Ganz am Anfang tanzt er in hochhakigen Schuhen auf und vor der Bühne des Mehrzwecksaals der Dorfschule. Ständig die Kleider wechselnd, spielt er mit seinen Identitäten und seiner Sehnsucht. Mal gibt er sich eher feminin, mal ganz maskulin. In einer Welt, in der alles festgefügt ist, feiert er das Fluide und das Offene. Es gibt keinen Grund, sich von anderen das Leben vorschreiben zu lassen, aber viele Gründe, sich fortwährend neu auszuprobieren. „John-Travolta-Style“ nennt er selbst seine Art zu tanzen und denkt dabei natürlich an John Badhams „Saturday Night Fever“, diese Hymne an ein Leben nach eigenen Vorstellungen und Regeln.

Wie Travoltas Tony Manero sucht Mario nach einem Weg auszubrechen, um den Platz, an den ihn die Willkür der Geburt gestellt hat, zu verlassen. Aber die Verhältnisse sind nicht so. Für jemanden wie ihn gibt es im Dorf und selbst in Bozen, wo er eine Ausbildung zum Konditor gemacht hat, kaum Möglichkeiten. Als Sohn kleiner Angestellter und Arbeiter steht ihm die Welt nicht offen, ganz anders als seinem besten Freund Lenz, der nach Wien gegangen ist, um Schauspieler zu werden. Nun ist er für die Weihnachtstage zurück im Dorf. Eine Zwischenstation auf dem Weg nach Rom, den ihm sein Agent geebnet hat.

Lenz, dessen adelige Eltern ein berühmtes Weingut besitzen, kann sich seine Träume leisten, so wie er sich auch alles andere leisten kann. Einmal spielt Mario auf diese Ungleichheit an, die ihre Freundschaft belastet, vielleicht aber auch noch inniger macht. Irgendwann hatten sie zusammen mit Claudia einen Dreier. Dann ist sie schwanger geworden, und nun hat Mario ein Kind, das er kaum sieht, und eine Frau in seinem Leben, die ihn verachtet. So etwas passiert Lenz nicht. Er kann Grenzen überschreiten, ohne den Preis dafür zu zahlen, während Mario ständig dafür zahlt, dass er ist, wie er ist.

Sein Traum, Tänzer zu werden, scheint für Mario unerreichbar zu sein. Ohne ein Stipendium kann er, der sich mit Gelegenheitsjobs in einer Metzgerei, einem Hotel und in der Kellerei von Lenz’ Eltern durchschlägt, sich niemals der Kunst zuwenden. Und für ein Stipendium braucht man Beziehungen, die er nicht hat. Doch dann bietet Lenz ihm die Gelegenheit, auf die er schon so lange wartet. Sein Freund nimmt Mario mit nach Rom. Dort stellt Lenz ihn in einer Schwulenbar dem Agenten vor, der ihn betreut. Ein Anfang, der sich allerdings in einen Schlusspunkt verwandelt, als drei islamistische Terroristen in die Bar kommen und ein Blutbad anrichten. Lenz wird erschossen, Mario überlebt ohne eine einzige sichtbare Verletzung.

Foto: Salzgeber

Auf den ersten Blick erzählt „Hochwald“ die simple Geschichte eines Außenseiters, der in einen immer größer werdenden Konflikt mit der Gemeinschaft um ihn herum gerät. Aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Das Regiedebüt der Filmeditorin Evi Romen lässt sich nicht auf derart einfache Dramaturgien herunterbrechen. Es lässt sich nicht fassen, nur annähernd beschreiben. Szene für Szene entzieht sich Romens Porträt eines Dorfes und eines Mannes, der in ihm nicht heimisch werden kann, einer klaren, die Verhältnisse festlegenden Deutung. Unter der Oberfläche der oft beiläufig wirkenden, aber immer perfekt komponierten Bilder schwelen Ambivalenzen und warten Abgründe.

So sind die Momente vor dem Attentat zweifellos eine kleine Feier eines Lebens jenseits aller (klein)bürgerlichen Konventionen. In dieser Bar, in der alle sein können, wie sie sind, in der Verstellung und Inszenierung immer eine tiefere Wahrheit spiegeln, scheint sich der Traum von einer Gemeinschaft all derer zu realisieren, die ansonsten kaum einen Platz für sich finden. Aber eben diese Gemeinschaft ist eine Illusion. Denn Marios Eifersucht und seine Ohnmacht – er ist einfach nicht in der Lage, seinem Freund zu sagen, was er wirklich für ihn empfindet – kulminieren gerade hier. Während er zusieht, wie Lenz und dessen Agent sich küssen, zerbricht etwas.

Foto: Salzgeber

Diesen Bruch kann Mario nur in einen großen, selbstzerstörerischen Auftritt verwandeln. Er steigt auf den Tresen der Bar, macht ein paar Tanzschritte und geht dann nach draußen, um schließlich doch zurückzukehren. Es sind die immer gleichen Muster, geprägt durch das Leben im Dorf. Jeder Versuch auszubrechen scheitert, und dann geht alles wieder von vorne los. Nur ist das diesmal nicht möglich. Die Schüsse der Terroristen sind endgültig, und so muss alles, was Mario und Lenz nicht aussprechen konnten, für immer unausgesprochen bleiben.

Evi Romens schonungsloser Heimatfilm, der weder den Ausweg ins Süßlich-Kitschige noch den ins Melodramatische sucht, steht in der Tradition der Dramen Ödön von Horváths. Wie der Schriftsteller beschreibt auch sie den dumpfen Stillstand einer in Ressentiments gefangenen Gesellschaft ohne jegliche Sentimentalität. Natürlich sind es die Verhältnisse, die den von Thomas Prenn gespielten Mario zerstören. Aber sein Widerstand gegen diese Verhältnisse ist kaum weniger zerstörerisch.

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Nach der Rückkehr aus Rom flüchtet Mario zunächst in das Vergessen, das Heroin ihm schenken kann, um schließlich Zuflucht im Islam zu suchen. Durch Nadim, einen Freund, den er während seiner Konditorlehre kennengelernt hat, kommt er zu einem Imam, der in einer kleinen Moschee direkt am Bozener Bahnhof predigt. Etwas Homoerotisches schwingt in dieser Gemeinschaft junger Männer mit. Aber wie im Dorf verliert auch hier niemand ein Wort darüber. Es bleibt bei einem Bild, einer Spiegelung eines nackten Mannes unter der Dusche, die Mario lange betrachtet, als er nach seiner ersten Nacht in der Wohnung des Imams aufwacht.

Der Glaube ist ebenso trügerisch wie die Liebe, die keine Erfüllung findet, und die Hoffnung, die doch nur enttäuscht wird. Romen und Prenn, der sich vorbehaltlos in Marios Exaltationen fallen lässt und einen so unwiderstehlich mitreißt, lassen es offen, ob Mario nach all seinen Irrungen einen Weg aus dem Dorf findet, das ihn derart im Griff hat. Am Ende läuft er in den Wald. Alleine. Den Ziegenbock, den er beim Dorffest in der Tombola gewonnen hat, lässt er laufen und schenkt ihm so die Freiheit, die ihm selbst verwehrt wird. Im Wald kann auch Mario frei sein, aber anders als das Tier muss er zurückkehren.

Bei aller Härte, die „Hochwald“ ausstrahlt, erfüllt ihn zugleich eine große Zartheit. Eine Zartheit, die sich vor allem über die Musik transportiert: Rickey Shaynes „Uno die mods“, zu dem Mario tanzt, und Adamos „Inch’Allah“, das erklingt, als Mario die Gemeinschaft kennenlernt, die der Imam geschaffen hat. Diese auf den Schwingen des Gesangs getragenen Szenen deuten wie die Impressionen aus der Schwulenbar in Rom einen Ausweg an. Der kann im Glauben liegen, wenn man sich wie Nadim ganz in ihn fallen lässt, wenn es nichts mehr gibt, was zwischen Gott und einem selbst liegt. Aber letztlich ist es ein anderer Weg, der Romen vorschwebt und den Mario von Anfang an erahnt: die Kunst. In ihr liegt eine Erlösung, die keine Illusion ist, die nicht aus Schweigen und Lügen erwächst.




Hochwald
von Evi Romen
AT/BE 2020, 107 Minuten, FSK 16,
deutsch-italienische OF, teilweise mit deutschen UT,

Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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