Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves

TrailerDVD / Blu-ray

Seit „Engel in Amerika“ (2003), Mike Nichols wegweisender TV-Verfilmung von Tony Kushners gleichnamigen Theaterstück, sind eine ganze Reihe sehenswerter und großformatiger Period-Pieces über die verheerenden Anfangsjahren von HIV/AIDS in die Kinos gekommen. Mitreißend erzählten allein in den letzten beiden Jahren das australische Biopic „Holding the Man“ (2016) und das französische Gruppenportät „120 BPM“ (2017) von Liebe, Tod und Widerstand im Angesicht der Epidemie. Bereits 2012 lief im schwedischen Fernsehen der Dreiteiler „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“, die Verfilmung einer Romantrilogie des Comedians und Autors Jonas Gardell um eine Gruppe von schwulen Freunden im Stockholm der 80er Jahre. Nun ist die Mini-Serie, die in Skandinavien als Standardwerk zum Thema gilt, auch in Deutschland auf DVD und Blu-ray erschienen. Paul Schulz ist von der Energie des Schauspielensembles begeistert. Doch ist der Film wirklich für ein queeres Publikum gemacht oder nicht vielmehr eine Parabel über schwules Leben für Heterosexuelle?

Foto: Edel

Altes AIDS auf weißem Elch

von Paul Schulz

Das sind die Geschichten, die wir schwulen Kerle einander erzählen: Die von der ersten Liebe und der großen Angst und der Scham und dem ganzen ungesagten Scheiß, die viele von uns später, aber noch früh genug, mit auf Couchen und in Betten nehmen. Wo wir sie loswerden, wenn es gut läuft, aus Liebe zu uns selbst und anderen wie uns. Wenn es nicht so gut läuft, erzählen wir Geschichten von feinem Sex mit ziemlich ineinander verschwimmenden Jungs oder Männern und Kylie und guten Drogen und endlosen Partys, die uns nie satt machen, weil unsere Gier eigentlich nichts mit Partys oder Kylie oder Drogen oder Sex zu tun hat, aber eben viel mit Scham und Angst und ungesagtem Scheiß und damit, dass Liebe schwierig ist. Seit den letzten Jahren erzählen sich einige von uns auch noch Geschichten von ihren Kinder oder aus ihrem Ehealltag, aber keine davon ist bislang kanonisiert und eigentlich gehören die auch schon mit zur nächsten Kategorie, den Geschichten die wir schwulen Kerle Anderen über uns erzählen: Eben die von den Kindern und der Ehe und davon, wie wir eigentlich genau wie Heterosexuelle sind. Oder die, die Heteros, die auch verheiratet sind und Kinder haben und schon wissen, wie anstrengend und unschön das auch sein kann, besser finden: Die von den Reisen und den Partys und den Drogen und den Jungs und Männern und den Kleinwagen ohne Kindersitz und den Slimane- oder Paul Smith- Anzügen, in denen wir immer mindestens schlank und immer bereit und flüssig sind und nie Probleme haben, außer den richtigen Weißwein für genau diesen Moment zu finden. Die ist eigentlich nicht wahr, aber verkauft sich super. Und dann sind da die Heldenepen, von den meist toten, aber sehr tapferen Männern und Frauen und Trans*, die dafür gesorgt haben, dass es für viele von uns nicht mehr so schlimm ist. Wenn wir die einander erzählen, kommen darin auch immer Sex und Partys und manchmal Drogen vor. Wenn wir sie anderen erzählen, sind oft alle Figuren weiß und politisch so engagiert, dass sie nicht zum Feiern kommen. Schließlich muss der geneigte Heterosexuelle ja auch nicht alles wissen.

Und dann sind da die Geschichten, die wir selten erzählen, die aber so sehr dafür verantwortlich sind, wie wir heute leben, wie keine der anderen: die vom kleinen Feind mit den drei Buchstaben und vom  großen Sterben einer ganzen Generation und den Helden, die den geliebten, lebenden Leichen die Windeln auf die wundgelegenen Ärsche gepflastert haben und dabei so laut und so politisch und so liebevoll und so unerbittlich waren, dass sie Pharmakonzerne und Regierungen in die Knie gezwungen haben. Das die selten erzählt werden, hat etwas damit zu tun, dass viele von denen die sie erzählen könnten, tot sind, und dass die, die das nicht sind, sich aber sehr wohl erinnern, sich ihr Leben jetzt schön machen wollen nach all dem Tod und Teufel. Und damit, dass heute im Westen so gut wie niemand mehr ‚daran‘ stirbt und eben damit, dass die von uns, die gerne die Geschichte von den Reisen und den Kleinwagen und dem Weißwein erzählen, genau wissen, dass man zwischen lauter 30 Jahre alten Leichen keine wirklich stilvollen Partys feiern kann, wo man inzwischen doch auch mit den drei Buchstaben ein Leben voller feinem, flüchtigem Sex und noch flüchtigeren Substanzen führen kann.

Aber einige von uns erzählen sie dann eben doch, uns selbst und anderen. Und wissen warum. Einer von ihnen ist der 54-Jährige Comedian und Autor Jonas Gardell. Der hat in den Jahren 2012 und 2013 in seinem Heimatland drei Romane veröffentlich, die alle „Wisch Tränen nie ohne Handschuhe ab“ heißen und die Untertitel „Liebe“, „Krankheit“ und „Tod“ tragen. Die wiederum wurden für das schwedische Fernsehen 2012 als großer Dreiteiler verfilmt und sind jetzt in Deutschland auf DVD erschienen, Gardell schrieb auch die Drehbücher.

Erzählt wird die Geschichte von Rasmus, der 1983 mit 19 Jahren aus der schwedischen Provinz nach Stockholm kommt, Benjamin, dem jungen Zeugen Jehovas, in den er sich verliebt, und ihren Freunden. Und die  Geschichte von AIDS und dem Umgang mit Homosexualität in Schweden in den 80er Jahren. Von Anfang an ist klar: Rasmus wird sterben. Die Eröffnungssequenz der Serie ist ein Gespräch zwischen zwei Krankenschwestern, von denen eine die andere rügt, weil sie es gewagt hat, einem dahinsiechenden Aids-Patienten, Rasmus, die Tränen abzuwischen, ohne dabei Handschuhe zu tragen.

Foto: Edel

Aber erstmal darf sich unser Held auf einer Weihnachtsfeier seiner vielleicht jüdischen, aber definitiv schwulen Ziehtunte Paul in Benjamin verlieben. Das passiert in der zweiten Hälfte des ersten Teils, nachdem Rasmus die Partys und den Sex, den Stockholm schon damals zu bieten hatte, ausgiebig genossen hat. Unter anderem mit einem Mann, der ‚komische Flecken‘ auf dem Rücken hat. Rasmus und Benjamin ziehen zusammen, Rasmus hat ein telefonisches Coming-out gegenüber seinen Eltern und Benjamin bricht mit seiner tief religiösen Familie, die ihn liebt und doch findet: „Du bist kein schlechter Mensch, aber wir können dich nicht mehr sehen.“

Die Geschichte der beiden Familien und davon wird in wiederkehrenden Rückblenden erzählt und arbeitet mit überdeutlicher Natursymbolik. Ein weißer Elch, der besonders selten ist und Glück bringen soll, muss für das homosexuelle Kind Rasmus einstehen und ruckelt dabei etwas ungelenk animiert durchs Bild und die Handlung. Spätestens hier wird klar: „Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves“ ist weniger fürs schwule Publikum gedacht, obwohl es viele schwule Fans in Skandinavien hat und auch in Großbritannien ein Erfolg war, denn als große Parabel über schwules Leben für Heterosexuelle. Deren gesammelte Verbrechen an einer ganzen Generation schwuler Männer werden durchexerziert: vom Familienausschluss des eigenen Sohnes bis zu jenem Moment in dem Rasmus‘ eigentlich liberale Eltern Benjamin von der Beerdigung der Liebe seines Lebens fernhalten. Denn: „Was sollen die Leute denken?“

Zwar versucht Gardell mit Paul eine Figur zu schaffen, die zeigt, wie selbstbestimmtes schwules Leben schon in den Achtzigern gelingen konnte, doch die taucht zu selten auf, um gegen das folgerichtig erscheinende Elend von Rasmus anzukommen. „Don’t Ever Wipe Your Tears Without Gloves“ ist genau das, was Aktivisten heute „altes AIDS“ nennen, weil es mit dem Leben, das viele HIV-Positive seit Einführung der Kombinationstherapien vor gut 25 Jahren führen, nichts zu tun hat und weil die Bilder von den Totgeweihten, von denen es auch in Gardells Dreiteiler wimmelt, ihnen und vielen Negativen bei einem lebensnahen Umgang mit der Infektion 2017 im Weg stehen.

Foto: Edel Germany

Das man sich „Don’t Ever Wipe Your Tears Without Gloves“ trotzdem gern ansieht, ist vor allem ein Verdienst der Schauspieler. Adam Pålsson, der einigen aus der dritten Staffel des dänisch-schwedischen Krimihits „Die Brücke“ (seit 2011) bekannt sein dürfte, ist als Rasmus zu gleichen Teilen hinreißend und ergreifend, Adam Lundgren ist als Benjamin die Seele des dreistündigen Lehrstücks und Simon J. Berger liefert mit Paul eine Figur ab, die man sofort wiedererkennt, ohne sie je getroffen zu haben. Sie und das gesamte Ensemble füllen die Holzschnitte, die ihnen das Drehbuch und Simon Kaijsers Regie zur Verfügung stellen mit Energie und Leben, auch wenn am Ende fast alle tot sind.

„Don’t Ever Wipe Your Tears Without Gloves“ ist eine dieser Geschichten, die wir schwulen Kerle Anderen über uns erzählen. Nichts davon ist, im Gegensatz zu dem was unter der Titelsequenz behauptet wird, „genau so passiert“, aber wahr ist das trotzdem alles. Wer Eleganz will, kann sich „Engel in Amerika“ (2003) ansehen, und wer auf der Suche nach einer schwulen Hauptfigur ist, die 2017 ein positives Leben zwischen PrEP und großer Liebe führt, in dem der Immunstatus eine neben vielen Alltäglichkeiten ist, wird heute in Shonda Rhimes‘ Krimiserie „How to Get Away with Murder“ (seit 2014) fündig. Dazwischen hat auch noch ein hübsch altmodisches Historien-Rührstück voller guter Schauspielleistungen Platz, das man all denen zeigen kann, die gar nichts über die Geschichte von HIV und AIDS oder das Leben und Sterben ihrer schwulen Vorväter wissen.




Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves
von Simon Kaijser,
SW 2012,
3 x 58 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,
Edel Germany

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