Deutschland im Herbst

TrailerDVD / Blu-ray

Vor genau 40 Jahren, am Morgen des 18. Oktober 1977, fanden die Beamten im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim die Leichen der drei inhaftierten Linksterroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Die Suizide der drei Führungsfiguren der Roten Armee Fraktion (RAF) bildeten das Ende eines Herbsts des Schreckens, der mit der Verschleppung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September begann und mit der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch vier palästinensiche Terroristen am 13. Oktober seinen Höhepunkt erreichte. Bereits wenige Wochen nach dem „Deutschen Herbst“ vereinten die Spitzen des deutschen Autorenkinos ihre kreativen Kräfte, um in einer beispiellosen Gemeinschaftsaktion und gegen die eigene radikale Verunsicherung den collagenhaften Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ zu drehen. Kluge, Schlöndorff, Reitz, Böll und Biermann – alle waren mit dabei. Die provokanteste, weil persönlichste Episode stammt aber von Rainer Werner Fassbinder. Zur längst überfälligen Erstveröffentlichung des Films auf Blu-ray hat sich Fritz Göttler „Deutschland im Herbst“ noch einmal angesehen – und vorbei an Fassbinders verzweifelter Ratlosigkeit einen revolutionären Kern entdeckt, der das System ganz gewaltfrei destabilisiert.

Foto: Screenshot / Studio Canal

In Stücke gerissen

von Fritz Göttler

O-Ton Deutschland im Herbst, 1977, im RAF- und Stammheim-verunsicherten Land. Demokratie geht nicht mehr in Terrorzeiten. Erklärt Liselotte Eder am Abendbrottisch, auf dem die Teekanne steht. Demokratie ist das kleinste Übel, sagt sie, ihr Sohn Rainer Werner Fassbinder hat es ihr herausgelockt mit seinen bohrenden, quälenden Fragen, postsokratisch gewissermaßen. Deutschland träumt in diesem Herbst: „Das beste wäre so’n Autoritärer, der ganz gut ist und  ganz ordentlich“, sagt Eder. Fassbinders Freund Armin Meier setzt noch einen drauf: Er hätte gern, dass die Polizei für jede ermordete Geisel in der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ einen Terroristen tötet. Auge für Auge.

Ist das die Sehnsucht zurück nach der Hitlerordnung? Die Naivität eines verunsicherten, erschrockenen Bürgertums hat damals für Furore gesorgt.  Die Bestürzung  war heftig, bei den Linken, den Intellektuellen. O-Ton Deutschland!? Fassbinders kleiner Film im großen Projekt „Deutschland im Herbst“ wurde als Provokation empfunden. Er passte nicht zum aufklärerischen Ton der restlichen Stücke, den unter anderen Alexander Kluge und Volker Schlöndorff anstimmen.

„Die verschiedensten Filmformen kommen vor“, schrieb Frieda Grafe im November 1983 über den Gesamtfilm, „wie im Fernsehprogramm. Der Versuch, Information über den Herbst 1977, nach der Schleyer-Entführung und mit den Stammheim-Toten um inoffizielle Versionen zu erweitern.“

Frieda Grafe hat recht, es geht um die Formen in diesem Film und um das Kino. Fassbinders Provokation, das sieht man heute, 40 Jahre danach, ziemlich deutlich, wurde exakt kalkuliert, getimt und gebaut. Selbst Liselotte Eder war sich dessen wohl bewusst, so klingt es jedenfalls in einem Gespräch mit Juliane Lorenz an.

Der Rest von „Deutschland im Herbst“, der nach Fassbinders Episode folgt, ist reines Lehrstück, eindimensional, mehr Nachhilfe als richtiger Brecht. Von Alexander Kluges Mehrzweckheldin Gabi Teichert bis Schlöndorffs Antigone-Programm, ein Katharina-Blum-Nachklapp über die TV-Sender-Abnahme einer Sophokles-Verfilmung zum Thema Widerstand gegen den Unrechtsstaat. Kluge, der Verfremder, der moderne Märchenerzähler, der Meister der doppelten Gesprächsführung,  dominiert; Schlöndorff flüchtet sich ins Dokumentarische der Beerdigung Schleyers und der Terroristen.

Nur Fassbinder reißt alles auseinander: seine eigene Situation, sein Dilemma, sein Leben mit Armin, sich selbst. Man hat damals, als der Film in die Kinos kam, das Krude, Rohe, Unmittelbare seines Stücks gerühmt, die Gerissenheit, mit der er den anderen ihre faschistoiden Sentenzen entlockte. Aber dass  ausgerechnet Fassbinder, der anarchische Revolutionär, sich plötzlich am Begriff der Demokratie festklammert…

Foto: Screenshot / Studio Canal

An einer Stelle diktiert er eine Szene aus dem Drehbuch für „Berlin Alexanderplatz“, an dem er damals gearbeitet hat, in ein schönes altes Tonbandgerät: „843 … Ich glaube, das stimmt: Franz, jetzt halbnah, durch die Tür gesehen, er sieht sehr einsam aus, er wendet …“ Polizeisirenen draußen auf der Straße, die Kamera geht groß auf Fassbinders Gesicht. Dann eine Totale, der Flur, Fassbinder geht zum großen Fenster hinten. Er wird sein Kokain ins Klo schütten, aus Angst vor einer Durchsuchung der Wohnung.

In dieser Biberkopf-Szene 843 ist natürlich der ganze RWF reflektiert. Der ratlose, genervte, betroffene, verwirrte, paralysierte Künstler. Die Wohnung, ganz dunkel zwischen ihren Wänden und Gängen, mit weiten Schattenräumen, ist Höhle und Gefängnis zugleich. Der Einfluss von Douglas Sirks Hollywood-Melodramen, die Fassbinders Formsprache ab Mitte der 70er Jahre so stark beeinflusst haben wie wenig andere Filme, ist omnipräsent. Auf Farbmaterial gedreht wirkt das Schwarz besonders bedrohlich und intensiv. Fassbinders kurzer Film erinnert an die drei Übungsfilme, die Sirk zwischen 1976 und 1979 mit Studenten der Münchner HFF inszenierte, wo er als Gastdozent lehrte. Darunter „Bourbon Street Blues“ (1979) mit Fassbinder, in dem Sirk die Anregungen seines Schülers aufnimmt.

Foto: Screenshot / Studio Canal

„Es muss einen Platz geben (wenn wir uns nur genügend Mühe geben), an dem die Kinos nicht die Orte für den Konsum, sondern eine Art von Produktionsstätte sind“, schreibt Alexander Kluge über die Erneuerung des Kinos und der Vorstellung vom Kino von den Sechzigern bis in die Achtziger – in einem Text  von 2011. „Insofern hat Filmemachen mit LEBENDIGSEIN zu tun und ist nicht nur GESCHÄFT. Gewiss ist Film eine Ware, die Unterhaltung eines Kinobetriebs eine Dienstleistung – das ist aber immer nur ein (noch dazu isolierter) Aspekt. In Wirklichkeit sind wir für die Zuschauer unseres Landes, vor allem auch die Zuschauer im Ausland, durch unsere ARBEIT verständlich. Nicht die Bedeutung der Filme, nicht die Resultate, nicht das Thema, nicht einmal die eigene Person sind so wichtig wie das Stück Leben oder Produktivität, das uns und die Zuschauer in diesen Jahren miteinander verbindet.“

Am Schluss fängt Fassbinder an zu schluchzen, hemmungslos, verzweifelt. Armin umarmt ihn, versucht zu trösten. Eine Pietà. Womöglich ist dies das wirkliche Thema dieses kleinen Films, sein revolutionärer, sein destabilisierender Kern, der nun, nach der Neugestaltung der Ehegesetze, bestürzend deutlich wird. Die Ehe ist etwas Künstliches, hatte der Filmemacher Fassbinder zu Beginn einem Journalisten erzählt. Meine Filme mache ich, damit Leute ihre Ehe problematisieren. Ich finde es besser, dass eine solche Ehe in die Brüche geht und dass meine Filme dabei helfen, als dass die Ehe als Institution unbefragt und ungeprüft erhalten bleibt.

Nach dem Gespräch, das ist die erste Einstellung, hatte Fassbinder telefoniert und gebeten, ob man diesen Satz nicht aus dem Interview wieder streichen könne. Es geht nicht.

 


Am Schneidetisch: Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge bei den Endkorrekturen für „Deutschland im Herbst“



Deutschland im Herbst
von Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und anderen
DE 1978,
123 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,
Studio Canal

 

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