Der Moment: The Graffiti Artist

Trailer

Für unsere Textserie „Der Moment“ haben wir Schriftsteller_innen gebeten, über einen berührenden Augenblick ihrer ganz persönlichen queeren Filmgeschichte zu schreiben. Den Auftakt macht der 1965 in Kassel geborene Autor und Regisseur Tim Staffel, der seinen bislang letzten Roman, die schwule Liebesgeschichte „Jesús und Muhammed“ (erschienen 2008 im Transit-Verlag), 2012 unter dem Titel „Westerland“ selbst verfilmt hat. Sein queerer Filmmoment stammt aus James Boltons Low-Budget-Film „The Graffiti Artist“ und führt uns ins Portland des Jahres 2004 – das damals noch das Mekka all jener US-Amerikaner war, die sich nicht anpassen wollten und noch dazu wenig Geld hatten – und zu den beiden jungen Sprayern Nick und Jesse, die Freunde sind und vielleicht auch mehr.

Nur dass der Blick auf einmal traurig ist

von Tim Staffel

Seattle. Nick sitzt im Sessel, hat sein T-Shirt ausgezogen, die Jeans noch an. Sieht in Richtung der Tür, die zum Bad führt, aus dem Jesse kommt, nackt. Hat sich geduscht, hält sich das Handtuch vor. Nicks Augen können nirgendwo hin, nur zu Jesse. Jesse wendet sich ab, das Handtuch fällt auf den Boden. Jesse zieht sich Shorts an, tut so, als gäbe es Nicks Augen, als gäbe es Nick nicht. Dabei ist seine Selbstverständlichkeit nicht selbstverständlich; Jesse ist verschämt, weil Jesse. Nick liegt so gut es geht im Sessel, fragt nach einer Decke, zieht sie über sich. Nicks Blick umarmt Jesse. Der nimmt es nicht wahr. Als wäre da nichts oder nie, doch Nicks Augen sind nicht stumm. Nur still. Jesse liegt auf dem Bett. Nicks Augen legen sich zu ihm. Nichts passiert. Neuer Tag.

Nick sprayt. Lebt in Portland, manchmal in einer Wohnung, vielleicht seiner. Nick ist der Graffiti Artist, sonst zählt nichts. Sprayen. Schreiben. Rapture sein Zeichen, seine Schrift. Und später dann, da hat er Jesse schon getroffen, Elusive. Jesse ist Flip, und Jesse hat Geld, eine Mutter, bei der er lebt, auch noch eine Wohnung in Seattle von der Mutter für ihn und eine Vorstellung davon, wie das abzulaufen hat, mit dem Durch-die-Nacht-laufen. Die Nacht sprayen, den Tag mit seinen Tags beschriften. Innerhalb der Ordnung. Gefahr berechenbar. Ziel ist Kunst. Kunst hat einen Rahmen, ist käuflich. Kunst macht keinen Ärger. Jesse will keinen, ist beschützt durch seine Vorsicht, durch sein Einverständnis. Jesse ist mit Nick in einem Skateboard-Laden, da sind sie schon in Seattle. Nick soll sich ein Skateboard aussuchen. Jesse schenkt es ihm. Nick klaut Lebensmittel, da ist er noch in Portland, hat Jesse noch nicht getroffen. Wenn er Hunger hat, besorgt er sich das, was er braucht. Wenn er Farben braucht, besorgt er sich Farben. Wenn er die Nacht gesprayt hat, schläft er oft auf dem Boden, draußen, dort, wo er müde wird. Nick ist allein, vielleicht weiß er es nicht, kennt das Gefühl überhaupt nicht, aber dann sieht er Jesse. Reist wie Jesse nach Seattle. Entdeckt Jesse in Seattle, ruft ihm hinterher. Jesse wartet auf Nick, dann ziehen sie zusammen los, und Nick besorgt ihnen das, was sie brauchen, wenn sie hungrig sind, wenn sie sprayen wollen. Jesse staunt, findet es aufregend und fürchtet die Gefahr, respektiert die Ordnung, die Nick durchbricht. Weil er nur so leben kann, denkt Jesse nicht. Keine Ahnung, ob Jesse Nick liebt, als er ihn berührt, aber Nick liebt Jesse, auch als der ihn nicht mehr berühren will. Liebt ihn mit seinen Augen, nur dass der Blick auf einmal traurig ist. Vielleicht, weil Nick auf einmal weiß, was traurig ist. Und einsam. Jesse soll es erklären, längst ist jeder für sich zurück in Portland. Warum er ihn wie Scheiße behandelt, warum Nick nicht mehr für ihn existiert, selbst wenn er vor ihm steht. Weil du lebst wie du lebst, sagt Jesse. Weil Nick nicht zahlt für Nicks Leben. Wenn Jesse sprayt und skatet, hat ihn das nicht gewählt. Er atmet noch, auch ohne Farben, ohne Board. Was bleibt. Nicks Augen. Jesse, der in der Menge untergeht. Nick, der sich umdreht, vor einer Wand steht, mit den Farben in der Hand, FREE ART, sein Leben zeichnet. Verzückung, Freudentaumel, nenn mich RAPTURE. Ich bin ELUSIVE, flüchtig, schwer zu fassen. Ich hinterlasse mich, siehst in meine Augen – nichts. Hast keine Ahnung, Antrag schreiben, du darfst, darfst nicht, wirst sanktioniert, weil du dich sanktionierst. Ich träum nicht von Verträgen, bin öffentlich, wo, wann immer ich will. Meine Hand auf jeder Wand, freie Fläche, hab dich mal gekannt, dachte ich, warst einer von mir, bin immer noch hier. Du surfst durchs Wohnzimmer deiner Eltern, zeichnest den Gehaltscheck gegen, auch wenn du keine Arbeit hast. Myspace, facebook, zähl deine Freunde, kennen sich alle, keiner erkennt dich, Stromausfall. Bist dabei, solange keiner sich beschwert. Freies Netz, spray mal das Netz, Idiot. Stellst deine digitalen Bilder rein, bist digital, ich leg die Decke über dich, auch wenn du mich nicht willst, das ist real. Stromausfall. FREE ART. Bist immer schön korrekt. Und gut bezahlt, was denn, deine Arbeit? Kunst ist elitär, machen sie dir weis, bist borniert und intellektuell, weil sie dich nicht verstehen. Will nicht für mich bezahlen, bin also kriminell. FREE ART. Kunst hat mit verstehen nichts zu tun. Warum kapierst du’s nicht? Weil du nichts kapierst. Ist deine Ordnung, schon kapiert. Schön. Affirmativ. Irgendwo muss das Fressen ja herkommen. Schon okay, FLIP. Verhunger nicht, mein Herz. Fragst dich, was ist in fünf Jahren, oder zehn. Frag mich danach. Kannst nicht lesen, bin nicht im Netz, hab keine Freunde, die Programme für mich zählen. Hab keine Jahre. Gibt Sprachen, die benutzen dasselbe Wort für gestern und morgen. Meine Augen. Was ist mit deinen? Hängen als Ausdruck an der Tapete deiner Mutter. Dreh dich nicht um. Bin schon weg. Hast mich nie gesehen. Bin flüchtig wegen dir. An meinem Fenster klebt ein Zettel, von außen. Kam angeflogen, ist hängengeblieben‚ ein roter Stempel drauf – „Mach’s online! Einfach schnell und sicher“. Stromausfall. Irgendwann werden sie uns beide kriegen. Sind nicht schnell genug, haben sie zu spät gesehen. Werden übermalt, weggewischt, gesäubert. Als hätt’s uns nie gegeben. War trotzdem hier. Bin immer noch da. Keine Ahnung, wo du bist.

 



The Graffiti Artist
von James Bolton
US 2004,
80 Minuten, FSK 16

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