Concerned Citizen

TrailerQueerfilmnacht/Kino

Ben hält sich für einen liberalen schwulen Mann. Er hat einen gut bezahlten Job und wohnt mit seinem Partner Raz in einem schicken Apartment in einem migrantisch geprägten Stadtteil Tel Avivs. Zum Glück fehlt dem Paar nur noch ein Kind. Doch dann löst eine eigentlich gut gemeinte Tat eine Kette von Ereignissen aus, die Bens Bild von sich selbst aus den Fugen treibt. Mit bitterbösem Humor entwirft Idan Haguel in „Concerned Citizen“ eine Parabel über das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, über unhinterfragte Privilegien und tief sitzende Vorurteile. Andreas Wilink entschlüsselt die abgründige Gesellschaftssatire, die im Januar in der Queerfilmnacht zu sehen ist und am 2. Februar regulär im Kino startet.

Foto: Idan Haguel / Guy Sahaf / Salzgeber

Chaos und Ordnung

von Andreas Wilink

In einem Zeitungsbeitrag schrieb der Schriftsteller David Grossman nach der neuerlichen Wahl von Benjamin Netanjahu zum Ministerpräsidenten Israels und der von ihm berufenen rechtsgerichteten Regierung über ein Land am Ende des Traums: „Das Chaos ist da, mit all seiner Sogkraft. Der innere Hass ist da. Die gegenseitige Abscheu ist da, ebenso wie die grausame Gewalt auf unseren Straßen, in unseren Schulen und Krankenhäusern. Auch die Menschen, die Gutes böse und Böses gut nennen, sind schon da.“

Gleichnishaft – und scheinbar privat – erzählt davon Idan Haguel in seinem Film „Concerned Citizen“. Das „Chaos“ ist darin ganz in das Innere eines toleranten jungen schwulen Mannes gelegt. Ein Bäumchen zu pflanzen, das bedeutet: Fortpflanzung, Hoffnung, Optimismus, eine Haltung zum Leben, die über sich selbst hinaus in die Zukunft weist. Man muss – in Israel – nicht unbedingt an Martin Luther und sein festes Gottvertrauen erinnern, zumal dem Reformator der folgende Satz wohl nur in den Mund gelegt worden ist: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Ben hat am Anfang der Geschichte ein solches Urvertrauen zu sich, zu seinem Lebensgefährten Raz und zu der Umgebung, in der er mit ihm in einer modern renovierten Eigentumswohnung in einem der nicht so hippen Stadtviertel von Tel Aviv lebt. Dafür steht ihr gemeinsamer Kinderwunsch. Und auch das von Ben gepflanzte Bäumchen gegenüber ihres Hauses am Rand des  Bürgersteigs, mit dem er signalisiert: Hier will ich bleiben, hier gehöre ich hin, hier fühle ich mich verantwortlich.

Zwei junge Männer liegen aneinander gekuschelt im Bett, anstatt des Wecker-Klingelns wird Bellinis Arie „Casta Diva“ vom fahrbaren DVD-Player angestimmt. Ben begießt die Pflanzen auf der Fensterbank, grün gesunde Smoothie-Drinks kommen aus dem Mixer und werden ebenso genossen wie der Morgenkuss. Schwules Idyll – perfekt und chic, dass es kaum zum Aushalten ist und die Brechung nahezu herbeigesehnt wird. Ben und Raz – sanft und freundlich – haben es sich schön eingerichtet. Aber sie wollen das Glück nicht nur für sich allein, sondern bald Eltern sein und sich über eine von einer Agentur beauftragte Leihmutter für ein Kind entscheiden, wie sie einem heterosexuellen Freundespaar erzählen, das etwas skeptisch nachfragt. Ob sie denn glaubten, dass ihr vermutlich erst in ein paar Jahren gentrifiziertes Wohnviertel mit seinen Obdachlosen, Junkies und nichtjüdischen Immigranten dafür die richtige Adresse sei? Ja, meinen die Zwei, es sei „multikulturell, divers und pluralistisch“ und somit ideal.

Es ist ihre privilegierte Sicht, die sie so argumentieren lässt und die sich bei der euphorischen Pride Parade an der Strandpromenade auch in dem von Ben und Raz selbstverständlich mitgeführten Plakat äußert, das die proklamierte „Gleichheit“ hochhält. Als Ben – er ist Architekt – des nachts beobachtet, wie zwei Halbwüchsige an seinem Bäumchen lehnen und rütteln, fürchtet er, der zierliche Stamm könne knicken, und so bittet er sie höflich, das zu unterlassen; zudem informiert er am Bürgertelefon über das befürchtete Eigentumsdelikt, wie der Fachterminus dafür lautet. Die Polizei rückt an und nimmt einen der flüchtenden „Täter“ fest, einen Afrikaner. Sie legen ihm Handfesseln an und prügeln auf den wehrlos am Boden Liegenden ein. Sie treten ihn so heftig zusammen, dass er an den Folgen stirbt. Auch das beobachtet Ben, ohne einzuschreiten. Der Fall scheint damit abgewickelt.

Foto: Idan Haguel / Guy Sahaf / Salzgeber

Doch danach sehen wir, wie es in Ben arbeitet, aber noch ist ihm – und uns – nicht klar, wohin sich seine Gedanken oder, moralisch gesprochen, sein Gewissen entwickeln werden. Es ist, als wirke in Ben der Hamlet-Komplex mit der von dem Dänenprinzen selbst ausgefertigten Diagnose, dass „Bewusstsein Feige aus uns allen macht“. Bei seinem Psychotherapeuten schönt Ben die eigene Rolle in der Situation und behauptet, er habe zwar eingegriffen, aber die Brutalität der beiden Polizisten habe es ihm unmöglich gemacht, Hilfe zu leisten. Ob nun der offizielle Sprachgebrauch hier für das Opfer, das als Täter eingestuft wurde, das Wort „Gastarbeiter“ oder „Flüchtling“ nennt – jedenfalls stammte der bei dem polizeilichen Übergriff zu Tode Gekommene aus Eritrea, seine trauernde Familie wohnt in der Etage über Ben und Raz.

Bei Ben löst der Vorfall eine Krise aus, die auch seine Beziehung zu Raz betrifft, von dem wir weit weniger erfahren, außer dass er sich zugleich hedonistisch und fürsorglich verhält. Als Ben von seinem Nachbarn Rotem erfährt, dass der seine Wohnung im Haus verkauft habe, um nach Berlin zu ziehen, plant er, das Gleiche zu tun, und bietet sie einem Makler an. Die Gegend sei wohl „ein echter Turm zu Babel“, bemerkt spitz eine kaufinteressierte Dame aus Paris, wo es, wie sie sagt, nicht mehr sei wie früher und ein Jude sich nicht mit Kippa auf der Straße sehen lassen könne. Schuld, Wut, Hass und Scham können viele Gesichter zeigen. Für Ben tragen sie den Ausdruck des Rückzugs und Schweigens: „Kein Sex, keine Kommunikation“, wie Raz ihm vorhält, der konsterniert auf den beabsichtigten Wohnungsverkauf reagiert.

Foto: Idan Haguel / Guy Sahaf / Salzgeber

„Concerned Citizen“ – auch die Übersetzung „betroffener Bürger“ klingt doppeldeutig –  lässt eine leise Kollision von Lebensverhältnissen, Möglichkeiten, Gewohnheiten und Erfahrungen geschehen und fragt ohne Polemik, Lärm und besserwissende Vereinfachung hartnäckig bohrend und in aller Verknappung nach der Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit von „Werten“, die auch einen Moment lang Ben von Raz sowie ihn von sich selbst separieren. Der Preis für das eigene Glück ist im Mindesten das Aushalten anderen Unglücks, wenn nicht dessen Ausblenden.

Man könnte den Einwand vorbringen, diese spezielle Perspektive – schwules  Paar mit Kinderwunsch, gehobene Mittelklasse – sei zu schmal, um das Klima einer Gesellschaft zu erfassen und ein Panorama zu entwerfen, aber in der Besonderheit erfährt sich das Allgemeine. Aus dem Einzelnen erst setzt das Ganze sich zusammen und ergibt das Muster. Gerade die eigene Sensibilität gegenüber existenzieller Stigmatisierung – nicht im freizügigen Tel Aviv, aber doch im zunehmend sich radikal religiös ausrichtenden Israel – kann Ben den Zwiespalt und Widerspruch in seinem Fühlen und Handeln gegenüber anderen Außenseitern registrieren lassen und die Selbstüberprüfung in Gang setzen. Das Selbstverständnis, progressiv, weltoffen, universal und gewaltfrei zu denken, steht auf einmal in Frage, der moralische Standpunkt muss neu ausgerichtet werden. Was der israelische Staatsbürger Ben durchlebt, kennt der Deutsche des Jahres 2022 mit Beginn des europäischen Krieges in der Ukraine und mit der Debatte um die documenta 15 in Kassel.

Foto: Idan Haguel / Guy Sahaf / Salzgeber

Regisseur Idan Haguel gelingt mit seinem zweiten Langfilm nach „Inertia“ von 2015 eine Versuchsanordnung unter verschärften Bedingungen: denen des Gewissens, der Schuld, der Aus- und Abgrenzung. Es ist ein Praxistest sowie dessen therapeutisch inszenierte Wiederholung unter anderen Vorzeichen: anstelle des Wegschauens nun Zivilcourage zur Selbstheilung, Beziehungsrettung statt Chaos und danach quasi zur Belohnung die von Ben und Raz gemeinsam „erzeugte“ Spermaprobe für ihr künftiges Baby.

Auf der Computeranimation eines urbanen Modells mit weitläufiger Piazza gruppiert Ben mehrfach die gesichtslosen Menschenfiguren um, holt jemanden aus der Menge, platziert ihn anderswo und organisiert ein soziales Biotop: das künstlich generiete Abbild einer idealen Gesellschaft. Als Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts seine Utopie vom „Judenstaat“ entwarf, schrieb er: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Das war einmal.




Concerned Citizen
von Idan Haguel
IL 2022, 82 Minuten, FSK 12,
hebräische OF mit deutschen UT

Im Januar in der Queerfilmnacht und ab 2. Februar im Kino.