Call Me by Your Name

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Luca Guadagninos Verfilmung von André Acimans gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2007 erzählt vielschichtig, handwerklich makellos und tief berührend die Geschichte einer ersten Liebe im Italien Anfang der 80er. Seit „Brokeback Mountain“ (2005) war keine schwule Romanze mehr so anschlussfähig für Heteros, wie die vielen Auszeichnungen für den Film, vier Oscar-Nominierungen und die riesige internationale PR-Kampagne von Sony Pictures belegen. „Call Me by Your Name“ ist aber auch ein explizit queeres Erweckungsdrama, das unsere ganz eigenen Erfahrungen von Begehren und Angst, Erinnerung und Verleugnung, Lust und Trauer filmisch durchdekliniert. Heute startet der Film endlich auch in den deutschen Kinos.

Foto: Sony Pictures

Zwischen Immer und Nie

von Christian Weber

1983, im Norden Italiens. Elio ist 17, Sohn eines Akademiker-Paars, sein Vater ist Archäologie-Professor. Er ist introvertiert, breit belesen, musikalisch hochbegabt, kurzum: ein frühreifer Junge, der alles weiß. Bis eines Tages der um einige Jahre ältere Doktorand Oliver im Landhaus seiner Eltern ankommt, um Elios Vater den Sommer über bei dessen Arbeit zu assistieren. Elio beobachtet Olivers Ankunft von seinem Zimmer im ersten Stock aus, das er nun für die nächsten sechs Wochen an den Gast aus den USA abtreten muss. Und weiß plötzlich nichts mehr.

Zunächst findet Elio das Auftreten des Amerikaners noch befremdlich. Groß und sportlich, blondes Haar, gewinnendes Lächeln – Oliver wirkt wie ein Filmstar, nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und er scheint ganz genau zu wissen, was er vom Leben will. Für einen Jungen in der Pubertät ist das rätselhaft: Wie kann man nur so selbstbewusst sein? Aber Oliver ist nicht nur nahbar, sondern auch unverbindlich. „Wir seh’n uns“ ist seine Standardfloskel, mit er sich aus einer Runde verabschiedet, wenn ihm die Gesellschaft zu eng wird.

Elios Misstrauen ist reine Abwehr. In Wahrheit treiben ihn Sehnsucht und körperliches Verlangen vom ersten Moment an in Olivers Bann. Er malt sich aus von dem attraktiven Hausgast gesehen, berührt, gefickt zu werden. Die ersten Wochen des Sommers verschwimmen so zu einem Gefühlschaos zwischen Hoffen und Frustration. Gemeinsame Szenen, die sich wiederholen, geben den Tagen Struktur: Frühstück auf der Terrasse; im Gras liegen und Musik hören; nebeneinander Bücher lesen; schwimmen oder mit dem Fahrrad fahren. Nachts wartet Elio darauf, dass sein Objekt der Begierde von Ausflügen in die nahe gelegene Stadt zurückkommt, wo er vielleicht eine Geliebte hat, vielleicht auch zwei oder drei. Das wäre nicht schlimm, findet Elio, schließlich flirtet er selbst mit seiner Freundin Marzia und probiert sich sexuell mit ihr aus. Eigentlich denkt er aber ständig nur an Oliver. Und wägt ab: Soll er sprechen oder sterben? Es gibt nur diese beiden Optionen. Und was macht Oliver? Der lässt Elio wohl merken, dass er ihn mag. Doch er wahrt die Distanz.

Timothée Chalamet, der bis vor einem Jahr noch weitgehend unbekannt war, für den Film nun völlig zu Recht für den Oscar nominiert ist und plötzlich zu den gefragtesten Darstellern seiner Generation zählt, spielt Elios emotionalen Balanceakt zwischen Neugier und Hilflosigkeit mitreißend, in sich gekehrt und zugleich körperlich höchst agil, mal forsch und dann wieder verschüchtert. Armie Hammer ist als Oliver kaum weniger eindrucksvoll: Hinter dem blendenden Aussehen und der vermeintlichen Souveränität des All American Poster Boy lässt er eine Brüchigkeit durchschimmern, die sich erst am Ende voll manifestieren wird.

Foto: Sony Pictures

Der schwule italienische Regisseur Luca Guadagnino, der mit „I Am Love“ (2009) und „A Bigger Splash“ (2015) schon zwei sommerliche Filme über das Begehren gedreht hat, findet für Elios ausufernde Sehnsucht, die die erste Hälfte von „Call Me by Your Name“ bestimmt, eine betörend sinnliche Formsprache. Die Kamera taucht die italienischen Landschaften in verträumte Farben und warmes Licht, schwelgt in paradiesischen Gärten und Pools, fährt über saftige Wiesen und staubige Landstraßen. Und nimmt immer wieder Elios begehrenden Blick ein: auf Olivers breite Schultern, seine nackten Füße, das im Wind flackernde Hemd. Der Geruch des Meeres liegt in der Luft, von Schweiß, Sand, Sonnenöl und von frisch gepresstem Aprikosensaft. Eine Soundtrack-Collage aus schnulzigen Tanz-Hits der 80er, entrückter Score-Musik, romantischen Indie-Songs und Johann Sebastian Bach flankiert die schwärmerischen Bilder.

In dieser süßlich-melancholischen Grundstimmung treibt immer gewaltiger das verborgene Begehren an die filmische Oberfläche. Ausgerechnet Elios Vater, ein Altphilologe, weist darauf hin, wie weit diese Kraft kulturgeschichtlich zurückgeht: „Diese Statuen sind durch ihre zeitliche Ambiguität so ungehemmt, als würden sie uns herausfordern, sie zu begehren“, erklärt er Oliver, während sie gemeinsam Dias von skulpturalen Männerfiguren betrachten. Überhaupt atmet das ganze Haus von Elios Eltern, das mit alten Büchern, Bildern und Plastiken vollgestellt ist, den Geist der antiken Welt. In einer höchst metaphorischen Szene kommt sogar ganz wörtlich ein sinnliches Objekt zum Vorschein: Ein Kollege von Elios Vater hat eine männliche Skulptur aus dem Meer geborgen. Oliver greift am Ufer zu dem abgebrochenen Arm und reicht ihn Elio, der ihn seinerseits berührt. Was die beiden verbindet, ist uralt und zugleich ganz gegenwärtig.

Foto: Sony Pictures

Um unterdrückte Gefühle und deren Aufblühen zu dramatisieren, kann man sich kaum einen besseren Drehbuchautor als James Ivory wünschen, den schwulen Altmeister der stilvollen Romanverfilmungen und Period Pieces. Zusammen mit seinem langjährigen, mittlerweile verstorbenen Partner Ismail Merchant hat Ivory Liebesfilm-Klassiker wie „Zimmer mit Aussicht“ (1985), „Maurice“ (1987) und „Was vom Tage übrig blieb“ (1993) gedreht, die auch vielen queeren Zuschauer_innen einiges bedeuten. In enger Anlehnung an Acimans Roman entwickelt er mit Guadagnino aus den Standardszenen einer jeden Liebesgeschichte Stück für Stück Elios queere Erweckung.

Nach knapp der Hälfte des Films gesteht Elio seinem Geliebten auf dem Marktplatz der nahe gelegenen Stadt endlich seine Gefühle. Und zwar auf eine Art, die nur derjenige versteht, der die entsprechenden Codes kennt. Vor einem Brunnen stehend, der zugleich ein Gefallenendenkmal ist, wundert sich Oliver, ob hier in der Nähe wirklich eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg stattgefunden habe. Nein, korrigiert ihn Elio, dies sei doch ein Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Männer der Stadt. Man müsse heute fast 80 Jahre alt sein, um einen der Toten  persönlich gekannt zu haben. „Gibt es noch etwas, das Du nicht weißt?“, sagt Oliver beeindruckt. „Wenn Du wüsstest, wie wenig ich über die Dinge weiß, auf die es ankommt“, antwortet Elio. „Von welchen Dingen sprichst Du?“ – „Du weißt genau welche Dinge.“ – „Heißt das, was ich denke, dass es heißt?“ Auf das gegenseitige Schweigen folgt das abstrakte Reden über Gefühle. Dass Elio ein Denkmal als Ort für sein indirektes Liebesgeständnis wählt, passt zu dem Motiv der Vergänglichkeit, das dem Film von Beginn an eingeschrieben ist: Elio fantasiert nicht nur die Vereinigung mit dem Geliebten, sondern zugleich auch schon die Trennung von ihm. In wenigen Wochen muss Oliver schließlich zurück in die USA. Ein antizipierter Liebeskummer, eine Sehnsucht nach der wehmütigen Erinnerung, nach dem nostalgischen Exzess.

Foto: Sony Pictures

Die Rollen zwischen Elio und Oliver bleiben zunächst noch vertauscht: Der Teenager bekennt sich zu seinem schwulen Begehren und gibt den Takt vor. Der Mitzwanziger, der bisher so selbstsicher gewirkt hat, lässt sich nur zögerlich auf die Romanze ein. Doch er folgt Elio zu dessen geheimen Rückzugsorten am Waldrand und Flussufer, der Idylle dessen bisherigen Alleinseins. Den ersten Kuss dirigiert noch Elio. Dann wendet sich das Blatt und Oliver bittet zum Rendez-vous um Mitternacht.

Das erste Mal ist in „Call My by Your Name“ mehr als eine Sexszene, es ist ein Ritual des Übergangs. Weil Elio nicht nur Lust empfindet wie noch nie zuvor, sondern auch das Gefühl hat, endlich jemanden gefunden zu haben, der so ist wie er. „Nenn mich bei Deinem Namen, dann nenn ich Dich bei meinem“, flüstert Oliver ihm zu. Der Geliebte macht ihn in diesem Moment ein Stück weit mehr zu dem, der er ist. Doch für ihre entfesselte Liebe bleiben den beiden nun nur noch zwei Wochen.

Bemerkenswert ist der Ort von Elios emotionaler und sexueller Erweckung: Fast alles geschieht im Haus der Familie und dessen unmittelbarer Umgebung, in Elios Jugendzimmer, quasi unter dem Blick seiner Eltern. Die gewähren ihrem Sohn alle Freiheiten, ja sie ermutigen ihn sogar, sich auf das Leben einzulassen, und das Leben heißt für Elio in diesem Sommer Oliver. Dass selbst so liberale Eltern und eine im hohen Maße privilegierte humanistische Erziehung den Jungen letztlich nicht vor Scham, Schuldgefühlen und Selbsthass schützen können, sagt einiges über die Zeit aus, in der der Film spielt.

Foto: Sony Pictures

Die ungemeine Sensibilität, mit der die Eltern ihren Sohn aus dem Paradies seiner Kindheit zu führen scheinen, bereitet uns auf die bewegendste Szene des Films vor, die sich klar wie keine andere aus dem heterosexuellen Repertoire herauslöst. Oliver ist soeben in die USA abgereist, Elio trotz seiner emotionalen Vorarbeit am Boden zerstört. Sein Vater spürt die Traurigkeit und tastet sich zu einem Gespräch hin, das alles davor Geschehene in ein neues Licht setzt – und viele, die eine Variation dieser Situation selbst erlebt haben, zu Tränen rühren wird. Elio wird danach mehr über sich wissen, über seinen Vater und über alles, was nun folgen wird.

Ein anderes Moment der Vergänglichkeit haben Ivory und Guadagnino gegenüber dem Roman leicht entschärft. Während Aciman seine Geschichte „Mitte der 80er Jahre“ angesiedelt hat, spielt der Film im Sommer 1983. Diese paar Jahre machen vor dem Hintergrund des zeitgleichen Einbruchs von HIV/Aids in die westliche Welt einen entscheidenden Unterschied. Der Sommer, den Elio und Oliver gemeinsam erleben, ist im Film zeitlich klarer von der Aids-Epidemie abgegrenzt – und wirkt damit noch deutlicher wie eine letzte unbedarfte, ja paradisische Zeit vor dem Beginn einer langen Nacht. Es ist zu lesen, dass Guadagnino bereits eine Fortsetzung von „Call Me by Your Name“ plant, in der er die bisher unverfilmten letzten 20 Seiten des Romans adaptieren will und in der auch die Aids-Epidemie eine wichtige Rolle spielen soll. Anders lässt sich die Geschichte eines sexuell erwachten schwulen Mannes im Europa der 80er und 90er wohl auch nicht weiterzählen. Trotz der Vordatierung stehen das Gefühl der Vergänglichkeit und die Trauer, die den Film kühl durchwehen, nicht nur für Elios Angst vor dem Verlust von Oliver; sie wirken auch bereits wie ein Schatten der schwulen Lebenswirklichkeit jener Jahre, die kommen werden.




Call Me by Your Name
von Luca Guadagnino
IT/FR/US/BR 2017, 133 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & OF mit deutschen UT,

Sony Pictures

Ab 1. März hier im Kino.

 

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